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# taz.de -- Neues Buch von Leonhard Horowski: Fragen eines denkenden Lesers
> „Das Europa der Könige“ ist heißer Anwärter auf den Preis der Leipziger
> Buchmesse. Es zeigt die Rolle von Mätressen an europäischen Höfen.
Bild: Einflussreich am französischen Hofe: Madame de Pompadour, Mätresse Kön…
In einer Zeit, in der in den Demokratien wieder einmal, skeptisch
betrachtet, Autokraten die Macht übernehmen sowie Protz und Glanz zu
politischen Insignien werden, darf ein Buch über eine nur noch für die
Klatschpresse interessante Situation, die Monarchie, mit gesteigertem
Interesse rechnen.
Am Freitag erscheint ein Buch des Historikers Leonhard Horowski, das in
jeder Hinsicht das Etikett eines „Prachtbandes“ verdient. Und das nicht nur
deshalb, weil sein Werk, „Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den
Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts“, 1.200 Seiten unterhaltsamster Historie
umfasst, sondern auch, weil der Band insgesamt 32 in bester Farbtreue
gehaltene Bildtafeln enthält.
Diese können das, worum es geht, nämlich Pracht, aber auch Schönheit und
Ernst einer Epoche besser verständlich machen als mancher Text. Nicht
zuletzt unterhält dieser Band auch durch die in ihm reichhaltig verwerteten
„Ego-Dokumente“: Memoiren oder Autobiografien.
Gemeinhin wird das Verfassen von Autobiografien als eine vor allem
bürgerliche Verhaltensweise, als Ausdruck einer gesteigerten Empfindsamkeit
von Männern und Frauen – beginnend mit Rousseau – angesehen. Horowski kann
darauf verweisen, dass diese literarische Gattung eine Ausdrucksform
adliger Kreise in sämtlichen europäischen Ländern gewesen ist. Die
verwendeten Quellen selbst stellen dabei keineswegs nur als solche gewollte
Selbstzeugnisse dar, sondern liegen auch in Form von Briefen,
Tagebucheintragungen sowie kritischen Glossen vor.
## Den Mätressen konnte die Schuld zugewiesen werden
Bekannt sind etwa die Briefe der Liselotte von der Pfalz. Weniger prominent
die Briefe der Elisabeth Charlotte von Orleans, oder auch die Schriften und
Berichte von John Quincy Adams, dem sechsten Präsidenten der USA, der im
frühen 19. Jahrhundert Botschafter an verschiedensten damals noch
monarchisch regierten Staaten von Portugal bis Preußen war.
Vor allem aber: Diese Quellen stammen zu einem großen Teil aus der Feder
gebildeter Frauen! Damit hat Horowski ein neues Kapitel der
Geschlechtergeschichte eröffnet. Mehr noch: Zudem liefert er in seinem Buch
eine Untersuchung zu Rolle und Funktion königlicher Mätressen, die
tatsächlich weit mehr waren als erotische Gespielinnen der jeweiligen
Herrscher. Als Frauen von erheblichem Einfluss und großer politischer Macht
nahmen sie zugleich eine wichtige soziale Funktion wahr: Im Falle von
Legitimationskrisen der Höfe konnte ihnen die Schuld zugewiesen werden.
Horowskis bunt gewebter, kunstvoll verknüpfter Erzählteppich gehört zu
jenen Büchern, die der Rezensent als Jugendlicher verschlungen hätte; erst
bei dieser Lektüre kamen mir wieder die von Serge und Anne Golon verfassten
Romane über „Angelique“ in den Sinn, die ich, nachdem beinahe alle Romane
von Karl May ausgelesen waren, eines nach dem anderen mit heißer Stirn bis
spät in die Nacht las. Indes: Horowskis Erzählung über „Macht und Spiel an
den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts“ ist weit mehr als nur allerbeste
populärwissenschaftlich glänzend erzählte Geschichte.
## Ludwig XVI. unterstützte die US-amerikanische Revolution
Nein, dieses Buch stellt nicht zuletzt mit Blick auf die Disziplin der
Geschichtswissenschaft eine wissenschaftspolitische, methodologische, sehr
ernst zu nehmende Kampfansage dar. Gleichsam eine volle Artilleriesalve auf
den Gegner, nämlich die neuere Sozialgeschichte – ähnlich jenen ersten
Salven, die die Kabinettskriege des Ancien Régime eröffneten. Im neunten
Kapitel seines Buches setzt sich Horowski ausführlich mit jenen
Kabinettskriegen und ihrer vermeintlichen größeren Menschenfreundlichkeit
auseinander; die von ihm entfaltete Militärgeschichte verweist auf Details,
die heute unglaublich wirken.
So soll ein spanischer Festungskommandant im Jahre 1667 seinem Belagerer,
Frankreichs König Ludwig XIV., täglich frische Eiswürfel für dessen
Limonade geschickt haben. Gleichwohl war die Gewalt nicht unbedingt
gemildert, war doch das Todesrisiko der adligen und Offiziere keineswegs
geringer als das der gemeinen Soldaten. Die Fallhöhe zwischen jenen Kämpfen
und den Massenvernichtungsschlachten des Zweiten Weltkrieges oder den
heutigen Drohnenkriegen ist unübersehbar. Die letzten Kapitel münden
schlüssig in die Geschichte und Vorgeschichte der Französischen Revolution,
die Horowski anders deutet als die herkömmliche Auffassung.
Seine dichte, detaillierte Beschreibung der letzten Jahre Ludwigs des XVI.
weist etwa darauf hin, dass dieser König keine Mätresse mehr hatte, aber
genau deswegen zum Sündenbock seiner selbst für Finanzkrise und Hungersnöte
wurde. Eine eigentümliche Ironie der Geschichte wird durch den Nachweis
kenntlich, dass die finanzielle und politische Unterstützung der
US-amerikanischen Revolution wesentlich zu jener Finanzkrise beigetragen
hat, die der Monarchie schließlich ein Ende setzte.
## Horowski will sich absetzen
Das alles ist freilich noch kein Beweis für den oben vermerkten Angriff,
die Salve auf die gegenwärtige Geschichtswissenschaft. Tatsächlich stellt
Horowskis historiografische Materialschlacht nicht mehr und nicht weniger
als eine bewusste und gewollte Abkehr einer erst in den letzten Jahrzehnten
weithin akzeptierten sozialgeschichtlichen Vorgehensweise dar – eine
Perspektive, die Horowski spöttisch den Historikern der bürgerlichen
Epoche zurechnet.
Hätten doch sie ein Bild des Ancien Régime geprägt, gemäß dessen sich die
Höfe in Ablenkung und Blindheit ergangen hätten, „während“, so Horowski
spöttisch, „draußen in der Realität die unausweichliche Modernisierung
passierte, jenes pfeilgerade Wundertier also, dessen einziger Zweck es
immer ist, unsere tagesaktuell perfekte Gegenwart herbeizuführen“. Dieser
Historiograf der alteuropäischen Monarchien weiß genau, wovon er schreibt
und wovon er sich absetzen will.
Zwar wird der Soziologe Norbert Elias, der ein seinerzeit – 1933 – zunächst
nicht publiziertes, dann 1963 emphatisch wiederentdecktes Werk über die
höfische Gesellschaft verfasst hat, kurz erwähnt. Doch tut Horowski Elias’
soziologische Lektüre unter Hinweis auf dessen mangelnde Quellenkenntnisse
schnell ab.
## So viele Berichte. So viele Fragen.
Mit diesem „Europa der Könige“ liegt nicht mehr und nicht weniger als eine
fulminant vollzogene Abkehr von vielen bisherigen Formen der Sozial- und
Gesellschaftsgeschichte vor. Mit seiner konsequenten Konzentration darauf,
wie es an den Höfen gewesen ist, legt der Autor ein materialgestütztes
Plädoyer für einen neuen Historismus, eine positivistische
Geschichtsbetrachtung vor, die erzählen will, wie es (angeblich) war.
Es wird der Fachwelt obliegen, zu entscheiden, wie sie auf diese
Herausforderung reagiert. Freilich, es war kein Geringerer als Walter
Benjamin, der in seinen geschichtsphilosophischen Thesen aus dem Jahr 1940
postulierte, dass die Einfühlung in den Sieger allemal den jeweils
Herrschenden zugute kommt. Und dass niemals ein Dokument der Kultur ist,
ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.
Bertolt Brecht, ein Freund Walter Benjamins, verfasste 1935 im dänischen
Exil ein Gedicht unter dem Titel „Fragen eines lesenden Arbeiters“. In dem
ist zu lesen: „Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer /
Siegte außer ihm? / Jede Seite ein Sieg. / Wer kochte den Siegesschmaus? /
Alle zehn Jahre ein großer Mann. / Wer bezahlte die Spesen? / So viele
Berichte. / So viele Fragen.“
6 Mar 2017
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Geschichte
Geschichtswissenschaft
Deutsche Identität
Digital
Simone de Beauvoir
Aufklärung
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