# taz.de -- Produktdesignerin über Obst und Gemüse: „Geschmack spielt kaum … | |
> Äpfel für den Handel müssen gut aussehen, transportfähig und nicht zu | |
> klein sein. Sie sind gestaltet wie Produkte, sagt Designwissenschaftlerin | |
> Johanna Kleinert. | |
Bild: Farbe, Form, Größe, Lagerfähigkeit – damit eine Erdbeere sich verkau… | |
taz am wochenende: Frau Kleinert, für viele Menschen sind ein Apfel oder | |
eine Karotte noch ganz natürliche, ursprüngliche gewachsene Lebensmittel. | |
In Ihrem Buch behaupten Sie das Gegenteil. | |
Johanna Kleinert: Der Apfel oder die Karotte soll vor allem bestimmten | |
Vorstellungen von Natürlichkeit entsprechen. Darauf nimmt der Mensch | |
fortwährend Einfluss. Selbst was im Bioregal liegt, ist nicht zufällig | |
zustande gekommen. Deshalb betrachte ich Obst und Gemüse als gestaltete | |
Dinge. | |
Es gibt also keinen Unterschied zwischen einem Glas Apfelmus und einem | |
Apfel? | |
Aus meiner Perspektive als Industriedesignerin ist der Unterschied gering. | |
An beide Produkte wird mit gleich großem gestalterischen Willen und | |
Zielsetzung herangegangen. Beide sind Ergebnisse eines Designprozesses. | |
Beim Apfelmus ist das vielen völlig einsichtig. Oder auch bei Obst, das in | |
Asien beim Wachsen in Plastikformen gezwängt wird. Wenn es reif ist, ergibt | |
das quaderförmige Wassermelonen oder Birnen, die wie eine Buddhastatue | |
aussehen. | |
Interessant ist ja gerade, dass so eine Gestaltung bei vielen Kunden auf | |
Ablehnung trifft. Mir ging es in meinem Buch eher darum aufzuzeigen, welche | |
Gestaltung im Produktionsprozess unsichtbar bleibt. Weil Obst und Gemüse | |
einem Bild von Natürlichkeit entsprechen sollen. | |
Sie verwenden in Ihrem Buch einen interessanten Begriff: das Biofakt, im | |
Unterschied zum Artefakt. Ein Apfel ist also ein Biofakt. | |
Das ist ein Begriff aus der Technikphilosophie, er stammt von Nicole | |
Karafyllis. Biofakte führen ein Eigenleben, aber sind dennoch vom Menschen | |
gemacht. Ich finde den Begriff ein gutes Werkzeug, um zu zeigen, dass die | |
Unterscheidung zwischen Natur und Technik nicht mehr aufrechtzuerhalten | |
ist. Weil beides in der Praxis viel zu verwoben ist, um es überhaupt noch | |
trennen zu können. Eigentlich sind alle Lebensmittel, auch die | |
„natürlichsten“, Biofakte. | |
Was bedeutet das für das designerische Denken? | |
Diese Überlegung eröffnet Raum, sich die Gemachtheit der Dinge anzusehen | |
und zu hinterfragen. Und auch zu problematisieren, wenn Früchte oder Gemüse | |
nicht als Biofakte behandelt werden. | |
Werden sie das nicht? | |
Es ist das nichtlebendige Produkt, das Vorbild für jede Art industrieller | |
Herstellung ist. Bei Lebensmitteln wird erwartet, dass sie auf die gleiche | |
Weise funktionieren. Was sie aber nicht tun, sie führen ein Eigenleben. Das | |
ist das Unangenehme. Man versucht dann durch Regulierung und andere | |
Maßnahmen, die Lebendigkeit unter Kontrolle zu bringen. | |
Wo konkret sind dabei Designer am Werk? | |
Sie werden so nicht genannt, aber es gibt in allen Bereichen der | |
Herstellung von Obst und Gemüse Analogien zum herkömmlichen Designprozess, | |
beim Anbau, [1][bei der Ernte, bei der Sortierung für den Verkauf] – am | |
meisten aber sicher bei der Züchtung. Es geht um die Materialität und | |
Visualität der Produkte. Ein guter Apfel soll eine bestimmte Größe und Form | |
haben, eine attraktive Schale, die richtige Farbe. Transport- und | |
Lagerfähigkeit sind ebenfalls wichtige Zielsetzungen. | |
Das sind alles äußerliche Merkmale. | |
Die Vermarktungsnormen haben verschiedene Kriterien, aber die allermeisten | |
davon werden visuell überprüft: Sauberkeit, Verzehrbarkeit, Reife, Frische. | |
Und der Geschmack? | |
Der spielt in der Regulierung kaum eine Rolle. Das finde ich dramatisch. | |
Dazu steht in den Vermarktungsnormen hauptsächlich, dass die Produkte frei | |
von fremdem Geruch oder Geschmack sein sollen. Es ist natürlich sehr schwer | |
zu definieren, wie ein Radieschen schmecken soll. Aber nur zu schreiben, es | |
soll frei von fremdem Geschmack sein, ist auch sehr nichtssagend. Es kann | |
dann eben auch nach Wasser schmecken. | |
Und das gilt in der ganzen Gemüsezüchtung? | |
Am interessantesten fand ich das bei Küchenkräutern. Bei den Topfpflanzen | |
für den Supermarkt interessieren sich die Züchter für die Stabilität der | |
Stängel, eine gute Optik mit vielen Blättern im Topf, außerdem sollen die | |
Sorten zu jeder Zeit im Jahr geerntet werden können und brauchen eine hohe | |
Verträglichkeit für kühlere Temperaturen. Aber wonach nicht selektiert | |
wird, ist der Geschmack, hat mir eine Züchterin gestanden. Beim Basilikum | |
wird nur geschaut, dass es den typischen Basilikumgeschmack nicht total | |
verliert. | |
Wer verlangt solche Kräuter? | |
Ein sehr dominanter Akteur ist der Handel, hier werden die Bedingungen | |
formuliert, zu denen eingekauft wird. Das bedeutet große Macht, auch, den | |
Anbaubetrieben zu diktieren, was angebaut wird und was zu welchen Preisen | |
eingekauft wird. Wobei der Handel diese Verantwortung von sich weist und | |
sagt: „Wir machen ja nur, was der Kunde will.“ | |
Müssen wir uns davon verabschieden, dass es etwas Ursprüngliches, | |
Natürliches noch gibt? | |
Wir leben im Anthropozän, der Begriff weist ja schon darauf hin, dass der | |
Mensch überall seine Finger im Spiel hat. Aber deshalb sollte man den | |
Naturbegriff nicht fallen lassen, sondern genauer darüber nachdenken. Im | |
Konzept der Biofakte zeichnet sich Natur dadurch aus, dass sie lebt. Und | |
Leben, sagt Nicole Karafyllis, zeichnet sich dadurch aus, dass es wächst. | |
Also ist Wachstum das Kennzeichen des Natürlichen. | |
Wie ist es um dieses Lebendige bestellt? | |
Für mich war eine wichtige Erkenntnis, dass solche für die Produktion von | |
Lebensmitteln gezüchtete Pflanzen immer schutzbedürftiger werden. Eine | |
hochgezüchtete Tomate ist extrem auf die Vorstellung des Menschen hin | |
optimiert, außerhalb des Gewächshauses, in der freien Natur hätte sie aber | |
keine Überlebenschance. | |
Sollten echte Designer in Zukunft eine stärkere Rolle bei der | |
Lebensmittelproduktion spielen? | |
Ich habe mir in meinem Buch auch diese Frage gestellt. Bisher sind unsere | |
Ernährungssysteme sehr bequem für die Konsumenten, aber nicht besonders | |
nachhaltig. Und das ist ein dringendes Problem. Wie können Menschen auf | |
eine gesunde, aber auch attraktive Art satt werden? Das ist eine spannende | |
Frage auch für Designer:innen. Und eine interessante Aufgabe wäre, dazu | |
beizutragen, dass sich transparentere Lebensmittelproduktionssysteme | |
entwickeln. | |
Wie das? | |
Einige Initiativen, die darauf zielen, dass sogenanntes hässliches Gemüse | |
mehr Wertschätzung bekommt, wurden von Designer:innen angestoßen – | |
[2][zum Beispiel Culinary Misfits]. Die designerische Perspektive kann | |
helfen und unterstützen, dass sich die bisherigen Akteur:innen dieser | |
Systeme stärker als wirkmächtige Gestalter:innen verstehen. Dass sie | |
sich etwas weniger auf den als oberflächlich wahrgenommenen | |
Verbraucherwünschen ausruhen und mehr Mut haben, tatsächlich das zu machen, | |
was ihren eigenen Vorstellungen von guter und sinnvoller Ernährung | |
entspricht. Vor allem beim Handel sehe ich da noch Spielraum. | |
28 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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