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# taz.de -- Arbeitsbedingungen bei Amazon: Fatale Überwachung
> Der Druck auf die Mitarbeiter*innen im Amazon-Zentrum Winsen ist hoch. Da
> kann es schon mal zu Unfällen kommen wie im Fall von Marc S.
Bild: Paket für Paket im Akkord: Mitarbeiter*innen im Amazon-Logistikzentrums …
Hamburg taz | Für die vierte Operation an Armen und Händen ist Marc S. nach
Hamburg gekommen. Er sitzt in einem Café nahe dem Hauptbahnhof und krempelt
die Ärmel hoch: „Hier“, sagt er und zeigt auf eine Narbe am Daumen. Das war
der Arbeitsunfall, dann folgten Komplikationen und eine zweite OP, an der
anderen Hand eine dritte und jetzt der Ellenbogen. Marc S. hat anderthalb
Jahre bei Amazon in Winsen gearbeitet. Der Druck, dem er dort ausgesetzt
war, hat Spuren hinterlassen.
Wie lückenlos die Mitarbeiter*innen im Logistikzentrum überwacht werden,
hat das [1][NDR-Magazin „Panorama“ in der vorvergangenen Woche aufgezeigt].
Jedes Einscannen eines Pakets wird direkt an den Vorgesetzten übermittelt,
der so genau verfolgen kann, wer wie viele Pakete pro Minute abfertigt. Die
niedersächsische Datenschutzbehörde ermittelt deshalb seit fast drei Jahren
gegen den Konzern, der seinen Gewinn in der Coronakrise auf 5,2 Milliarden
Dollar verdoppelt hat.
„Die Manager kommen dauernd zu dir“, sagt S. im Gespräch mit der taz. „S…
zeigen dir deine Arbeitsleistung als Graph auf einem Laptop und sagen: 'Du
bist schnell, das ist gut. Aber du musst noch schneller werden’. Der Druck
ist immens.“ Marc S. arbeitete schnell, wie er sagt, „so schnell wie drei
zusammen“. Bis er sich verletzte.
S. war im „Receive-“, also Annahmebereich, als „Production Supervisor“
tätig. Im Annahmebereich stehen die Mitarbeiter*innen an Fließbändern,
schneiden hereinkommende Kartons auf, scannen die Ware und legen sie auf
ein Fließband auf Kniehöhe. Der leere Karton kommt auf ein Band, das über
den Köpfen entlangläuft. So geht es Paket für Paket, im Akkord.
## Mit der Faust klein gemacht
Häufig habe es aber technische Probleme mit den Fließbändern gegeben, sagt
S., oder Probleme, weil das outgesourcte Unternehmen, das die leeren
Kartons abholen soll, nicht gekommen war [2][und die Container
überquollen]. Dann musste S. das Problem an die nächsthöhere Ebene
kommunizieren und dafür sorgen, dass die Kartons, die sich auf dem Boden
stapelten, klein gemacht und abtransportiert werden.
Amazon-Mitarbeiter*innen holen sich ihr Arbeitsmaterial wie
Sicherheitshandschuhe und spezielle Sicherheitsmesser an einem Automaten.
Der/die Mitarbeiter*in scannt den Dienstausweis und bestellt per
Tastenkombination die gewünschte Ware, wie beim Snackautomat am Bahnhof.
„Aber wenn du schon mehrere Klingen für dein Sicherheitsmesser verbraucht
hast, kriegst du keine neue“, sagt Marc.
Also habe er die Kartons mit der Faust durchboxt, um sie anschließend zu
falten. Bis dabei sein Daumen umknickte: Bänderriss. Auch sein Ellenbogen
hat dabei Schaden genommen, genauer der Nerv, der bis zum Ring- und
Zeigefinger reicht. Die beiden Finger seiner rechten Hand sind taub.
Amazon hat ein spezielles Vorgehen dafür, befristet angestellte
Mitarbeiter*innen, die nicht so schnell arbeiten wie andere oder irgendwie
negativ auffallen, loszuwerden. Es gibt feste Tage für solche indirekten
Entlassungen, sie heißen „Release Days“ (auf deutsch: „Tag der
Freilassung“). Auch S.’ Vertrag wurde nach anderthalb Jahren nicht
verlängert, obwohl er schnell genug gearbeitet habe. S. ist sich sicher,
dass der Grund dafür in der langen Krankschreibung nach dem Betriebsunfall
liegt.
Als US-Amerikaner ist er wesentlich schlechtere Arbeitsumstände gewohnt,
als in Deutschland üblich sind. Die Arbeitsumstände bei Amazon hätten ihn
aber doch überrascht: „Ich dachte nicht, dass so etwas in Deutschland
möglich ist“, sagt S. Die Toiletten etwa seien bis zu 200 Meter vom
Arbeitsplatz entfernt. Der Effizienz-Graph geht sofort runter, wenn ein*e
Mitarbeiter*in dort hinmuss.
Für die Mittagspause sind laut S. 30 Minuten vorgesehen, aber wer die
Fabrik verlasse, müsse durch eine Sicherheitsschleuse gehen, an der sich
manchmal eine Schlange bilde. Dann sei es in der kurzen Zeit kaum zu
schaffen, sagt S. Oft habe er ohne Pause durchgearbeitet.
Einen direkten Zusammenhang zwischen Krankschreibungen und Entlassungen
streitet der Amazon-Sprecher Thorsten Schwindhammer ab. „Nach der Genesung
und der Rückkehr zur Arbeit nach dem Krankenstand kehren unsere Mitarbeiter
an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück“, sagt er. 70 Prozent der
Mitarbeiter*innen in Winsen hätten zudem einen unbefristeten
Arbeitsvertrag.
Nur: Bei Marc S. kam es bis zum „Release Day“ nicht zur vollständigen
Genesung. Die Operation zog Komplikationen im Gewebe nach sich, die eine
erneute Operation erforderten, und dann noch eine und noch eine, und dann
die am Ellenbogen. Alles, weil Amazon nicht genug Arbeitsmaterialien
rausgerückt hat?
„Jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, jede Woche ein Sicherheitsmesser
mit einer Ersatzklinge aus den Automaten zu entnehmen“, sagt Schwindhammer.
„Wenn Mitarbeiter mehr Ersatzklingen benötigen, werden diese natürlich zur
Verfügung gestellt.“
## Systematischer Druck
Der Soziologe Peter Birke hat deutschlandweit Mitarbeiter*innen von Amazon
befragt. „Der Konzern hat eine glatte Fassade, wo alles sehr gut
funktioniert. [3][Darunter aber herrscht eine unheimliche Willkür]“, sagt
er. „Vieles hängt davon ab, ob man sich gut mit dem jeweiligen Vorarbeiter
versteht.“ So hält Birke auch für vorstellbar, was S. berichtet, der
Konzern aber abstreitet: Dass S., nachdem er mal einen Tag krank gewesen
sei, in einen Strafbereich versetzt worden sei. „Wir nannten es den
Dungeon“, sagt S.: ein Bereich am Ende des Geländes hinter Stahlgittern, wo
man allein unter Robotern sei, es sehr kalt sei und man sehr kleine Teile
zählen müsse. Eine solche Behauptung sei „Unsinn“, sagt Schwindhammer.
Birke erklärt: „Systematisch ist der unheimliche Produktionsdruck, bei
gleichzeitig permanenter Berichterstattung an die oberen Etagen. Unter
diesen Umständen kann es zu Übergriffen durch Vorarbeiter kommen, die aber
nur sehr schwer nachzuweisen sind.“
In den anderthalb Jahren, die S. am Standort Winsen gearbeitet hat, habe es
fünf Arbeitsunfälle in seiner Abteilung gegeben, sagt er. Hundert
Mitarbeiter*innen pro Schicht arbeiteten dort, am gesamten Standort sind es
laut Amazon 1.900. Der Multikonzern selbst gibt zu Arbeitsunfällen keine
Zahlen heraus. Er betont: „Amazon legt größten Wert auf die Sicherheit und
Gesundheit seiner Mitarbeiter und hat Millionen von Dollar investiert, um
einen sicheren Arbeitsplatz zu schaffen.“
28 Oct 2020
## LINKS
[1] https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Amazon-Der-Vorgesetzte-sieht-a…
[2] /Abfall-in-Deutschland/!5720906
[3] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5682191
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
Arbeitsbedingungen
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