| # taz.de -- Recht auf Abtreibung in den USA: Der härteste Kampf | |
| > Mit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1973 sahen Liberale in den | |
| > USA das Recht auf Abtreibung gesichert. Sie unterschätzten die | |
| > Fundamentalisten. | |
| Bild: Protest in Washington gegen die Ernennung von Amy Coney Barrett als Richt… | |
| New York taz | Der Schutz der Privatsphäre und die Rechtssicherheit waren | |
| die Hauptargumente, mit denen der Oberste Gerichtshof [1][im Januar 1973 | |
| sein Grundsatzurteil „Roe gegen Wade“ fällte]. Nach jahrelangen harten | |
| Auseinandersetzungen bekamen Frauen das Recht, einen | |
| Schwangerschaftsabbruch durchzuführen – legal und in sicherem medizinischen | |
| Umfeld. Die Zeit der Engelmacher schien zu Ende zu sein. | |
| Die liberale Öffentlichkeit, Ärzte und Feministinnen feierten einen | |
| Wendepunkt in der US-amerikanischen Justizgeschichte. Auch einige religiöse | |
| und konservative Sprecher erkannten einen Fortschritt. In der Baptist | |
| Press, der Agentur der konservativen und weißen Southern Baptist | |
| Convention, lobte Barry Garrett, der Oberste Gerichtshof habe mit seiner | |
| Entscheidung die „menschliche Gleichheit und Gerechtigkeit“ verbessert. | |
| Und Betty Ford, deren republikanischer Mann zwei Jahre später US-Präsident | |
| werden sollte, sprach von einer „großartigen Entscheidung“. Vier Tage nach | |
| dem Entscheid des Gerichts, am 28. Januar 1973, feierte in New Orleans ein | |
| Mädchen, das 47 Jahre später oberste Richterin der USA werden sollte, | |
| seinen ersten Geburtstag: [2][Amy Coney Barrett]. | |
| Die Vorstreiterinnen, die den Weg zu dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch | |
| mit jahrelangem Aktivismus gebahnt hatten, konnten nicht ahnen, wie | |
| zerbrechlich das Grundsatzurteil auf lange Sicht bleiben sollte. Nach ihrem | |
| Erfolg am obersten Gericht bauten einige von ihnen | |
| Familienplanungseinrichtungen auf. Die meisten setzten ihr Leben fort und | |
| wandten sich anderen Themen zu. | |
| ## Das Empörungspotenzial | |
| Aus dem Recht auf Abtreibung wurde „Roe gegen Wade“. Wann immer das | |
| Grundsatzurteil von einem republikanischen Bundesstaat oder einer | |
| religiösen Organisation angegriffen wurde, kamen die Vorstreiterinnen | |
| erneut zusammen. Aber sie kämpften nicht mehr kontinuierlich für die | |
| Ausdehnung des Rechts. Sie konzentrierten sich auch nicht darauf, es in | |
| Bundesgesetze zu schreiben. Nach einem historischen Erfolg schrumpfte ihre | |
| mächtige Bewegung zu der Verteidigung eines Gerichtsurteils zusammen. | |
| Das Themenfeld der Abtreibung übernahmen andere. Konservative und Religiöse | |
| – darunter sowohl Katholiken als auch evangelikale Fundamentalisten – | |
| entdeckten das Empörungspotenzial, das in dem Thema steckt. Sie lancierten | |
| Kampagnen gegen das Recht auf Abtreibung, die für sie „Mord“ ist. Und sie | |
| beriefen sich auf Gott und eine angeblich von ihm gewollte Familienordnung. | |
| Mit der Verlagerung der Debatte von dem Recht auf Selbstbestimmung von | |
| Frauen über ihren Körper hin zu einem christlichen Kreuzzug für das Leben | |
| verschafften sie sich Zugang zu den Herzen konservativer Gläubiger und | |
| konservativer Wähler. | |
| Unter den Ersten, die das Grundsatzurteil anprangerten, war eine Frau, die | |
| ihre Karriere als Antifeministin und Bestsellerautorin gemacht hat. Phyllis | |
| Schlafly hatte nach Anfängen in der antikommunistischen McCarthy-Ära die | |
| Verteidigung der traditionellen Familienwerte zu ihrem Hauptthema gemacht. | |
| Sie nannte Roe gegen Wade die „schlimmste Entscheidung in der Geschichte | |
| des Obersten Gerichtshofs“. | |
| Schlafly blieb bis zu ihrem Tod wenige Wochen vor der Wahl von Donald | |
| Trump, den sie unterstützte, eine einflussreiche Figur in rechten Kreisen. | |
| Als eine der Ersten verband sie die Gegnerschaft zu Abtreibung mit der | |
| Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe und machte aus beiden eine Art | |
| politisches Programm, das eine Bewegung schuf. | |
| Am hartnäckigsten blieben die Antiabtreibungsaktivisten bei den | |
| evangelikalen Fundamentalisten am Thema. Sie konkurrierten mit der | |
| katholischen Kirche, aus der ursprünglich die stärkste Kritik an dem | |
| Grundsatzurteil kam, um die größte religiöse Empörung. Evangelikale | |
| Fundamentalisten trugen die radikale Abtreibungskritik in ihre Tempel – und | |
| ihre Religion in die politischen Sphären. Statt mit komplizierten Themen | |
| wie stagnierenden Löhnen, dem Abbau von Umweltregeln und Steuern und der | |
| Klimazerstörung beschäftigten sie ihre Anhänger mit aggressivem Beten vor | |
| Familienplanungszentren, mit Fotos von blutigen Föten und mit | |
| Horrorgeschichten über Abtreibungen im letzten Drittel der Schwangerschaft, | |
| obwohl die weniger als 1 Prozent der Abtreibungen in den USA – ausmachen. | |
| ## Gegner dominieren die Debatte | |
| In 47 Jahren haben sie es geschafft, den politischen Diskurs zu verändern. | |
| Zwar befürwortet heute eine Mehrheit der US-Öffentlichkeit – also sowohl | |
| Demokraten als auch Republikaner – das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. | |
| Aber die Hoheit über den Ton in der Debatte und über den Aktivismus auf der | |
| Straße haben jene, die dagegen sind und sich irreführend als | |
| „Lebensschützer“ bezeichnen – als ginge es der anderen Seite nicht um das | |
| Leben. Sie haben auch dafür gesorgt, dass republikanische Wähler ihre | |
| [3][Wahlentscheidung für Donald Trump] damit begründen, dass er „gegen die | |
| Tötung von Babys“ eintrete. | |
| Mithilfe des Abtreibungsthemas sind die evangelikalen Fundamentalisten von | |
| einer kleinen Gruppe von Außenseitern zu Präsidentenmachern geworden. Und | |
| sie haben ihre Konfession ins Zentrum des nationalen Geschehens gerückt. | |
| Ronald Reagan war der Erste, der davon profitiert hat. Donald Trump wäre | |
| ohne sie nicht Präsident geworden. Auch bei den kommenden Wahlen ist er | |
| wieder auf sie angewiesen. Evangelikale Fundamentalisten machen zwar nur 15 | |
| Prozent der Gesamtbevölkerung der USA aus. Aber sie sind eine | |
| disziplinierte Wählergruppe. Im Jahr 2016 stellten sie ein Viertel aller | |
| Wähler. | |
| Bei ihrer Unterstützung für Trump stört es sie nicht, dass der Präsident | |
| mit dem Thema Abtreibung genauso opportunistisch umgeht wie mit seinen | |
| anderen politischen Positionierungen. Er wurde erst wenige Jahre vor seiner | |
| Wahl zum Abtreibungsgegner. Noch 1999 spendete er Geld für | |
| Familienplanungszentren in New York. | |
| Den Fundamentalisten reichte es, dass er als erster US-Präsident zu ihrem | |
| jährlichen „March for Life“ kam, dass er Planned Parenthood finanziell | |
| aushungerte und dass er allen Entwicklungshilfegruppen die Mittel streicht, | |
| sobald sie Informationen über Abtreibung geben. Sie werten es auch als | |
| seinen Verdienst, dass es während seiner Amtszeit Hunderte von | |
| republikanischen Versuchen gab, das Abtreibungsrecht in den Bundesstaaten | |
| auszuhöhlen. | |
| ## Bürokratische Hürden für Frauen und Ärzte | |
| Manche schaffen neue bürokratische Hürden für Frauen und Ärzte, andere | |
| verkürzen die Zeit, in denen der Eingriff erlaubt ist, andere erhöhen die | |
| Kosten. Als im zurückliegenden Frühling sich die Pandemie ausbreitete, | |
| deren Bedeutung der republikanische Präsident bestritten hat, nutzten | |
| mehrere republikanische Bundesstaaten die Gelegenheit, um | |
| Abtreibungskliniken zu schließen. Abtreibungen, so argumentierten sie, | |
| könnten warten. Die Gerichte sahen das anders und verhinderten die | |
| Schließung der Kliniken. | |
| Ihren bislang nachhaltigsten Erfolg haben die Fundamentalisten in dieser | |
| Woche erzielt, als Trump Amy Coney Barrett zur obersten Richterin auf | |
| Lebenszeit machte. Barrett ist Katholikin und gehört der radikalen Gruppe | |
| People of Praise an. Ihre Religiosität ist eine neue Art der Synthese | |
| zwischen evangelikalen Christen und Katholiken. Nachdem der Präsident den | |
| evangelikalen Fundamentalisten die [4][Abschaffung von Roe gegen Wade] | |
| versprochen und nachdem Barrett das Grundsatzurteil kritisiert hat, können | |
| die evangelikalen Fundamentalisten erwarten, dass die solide rechte | |
| Mehrheit im Obersten Gerichtshof das Grundsatzurteil kippen wird, gegen das | |
| sie seit Jahrzehnten kämpfen. | |
| In der Geschichte von Ein-Punkt-Bewegungen in den USA ist so viel | |
| politischer Einfluss ein spektakulärer Erfolg. Viele Faktoren haben dazu | |
| beigetragen. Einer ist der steigende Einfluss von Religion im politischen | |
| Bereich. Ein anderer ist der Konkurrenzkampf, bei dem sich verschiedene | |
| christliche Konfessionen gegenseitig die Gläubigen abjagen und den vorerst | |
| die Fundamentalisten gewinnen. Ein weiterer ist die weitgehende Abwesenheit | |
| von Programm- und Ideendebatten in der US-Politik. Die religiöse Entrüstung | |
| füllt dieses Vakuum. | |
| Siebenundvierzig Jahre nach dem Grundsatzurteil Roe gegen Wade haben sich | |
| die Mehrheitsverhältnisse am Obersten Gerichtshof zugunsten von rechten | |
| Richtern verschoben. Die alte patriarchalische Ordnung ist in der Person | |
| einer jungen Frau zurückgekommen. Aber auch auf der anderen Seite ist nun | |
| Bewegung. | |
| Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden, ein Katholik, der | |
| lange gezögert hat, verspricht heute, dass er versuchen wird, das Recht auf | |
| Abtreibung auf Bundesebene in ein Gesetz zu schreiben. Und die | |
| Vorkämpferinnen von 1973 sowie ihre Töchter, Söhne und Enkel sind längst | |
| wieder auf der Straße. Angesichts der neuen Mehrheit im obersten Gericht | |
| könnte der kommende [5][Kampf für das Recht auf Abtreibung] der härteste | |
| werden. | |
| 29 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /US-Film-im-Berlinale-Wettbewerb/!5664402 | |
| [2] /US-Senat-bestaetigt-Richterin-Barrett/!5724310 | |
| [3] /Die-US-Wahlen-in-Zahlen/!5722871 | |
| [4] /Oberster-Gerichtshof-in-den-USA/!5719721 | |
| [5] /Aktivistin-zu-Abtreibungsverbot-in-Polen/!5724288 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
| ## TAGS | |
| US-Wahl 2024 | |
| Schwerpunkt Abtreibung | |
| Supreme Court | |
| Evangelische Kirche | |
| USA | |
| Schwerpunkt Abtreibung | |
| USA | |
| USA | |
| US-Wahl 2024 | |
| Schwerpunkt Abtreibung | |
| US-Wahl 2024 | |
| US-Wahl 2024 | |
| US-Wahl 2024 | |
| US-Wahl 2024 | |
| Amy Coney Barrett | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Streit um Abtreibungsrecht in den USA: Texanische Richterin bremst Verbot | |
| Maya Guerra Gamble verhindert vorerst die Anwendung des neuen restriktiven | |
| Abtreibungsrechts in Texas. Frauen dort schöpfen Hoffnung. | |
| Neues Abtreibungsgesetz in Texas: Prämie für Frauenfeinde | |
| Abtreibungswillige anzuzeigen, ist im US-Staat Texas fortan ein lukratives | |
| Geschäft. Kaum sechs Wochen bleiben Frauen noch, um sich zu entscheiden. | |
| Abtreibungsrecht in den USA: Die USA auf dem Weg 50 Jahre zurück | |
| Backlash für Frauenrechte: Der Gouverneur von Texas unterschreibt ein | |
| Verbot von Abtreibungen nach der 6. Schwangerschaftswoche. | |
| Schwangerschaftsabbruch in den USA: Arkansas verbietet Abtreibungen | |
| Selbst nach Vergewaltigung und Inzest dürfen Frauen demnach ihre | |
| Schwangerschaft nicht abbrechen. Es ist Teil eines Kampfes um die | |
| Bundesrechtsprechung. | |
| Trump-Beraterin Paula White: Eine unheilige Allianz | |
| Mit Ekstase hat eine Trump-Beraterin für Aufsehen gesorgt. Die Evangelikale | |
| verkörpert die Zweckehe von Religion und Staat in den USA. | |
| Website von Abtreibungsgegner_innen: Vermeintlich harmlos | |
| Abtreibungsgegner versuchen ungewollt Schwangere online hinters Licht zu | |
| führen. Vor Gericht steht derjenige, der dies öffentlich machte. | |
| Berlusconi und Trump – ein Phänomen: Der Trumpusconi-Mythos | |
| Präsident Trump könnte bald Geschichte sein. Nicht aber der Trumpismus. Das | |
| lehrt uns das Beispiel seines bekanntesten politischen Vorläufers. | |
| US-Präsidentschaftswahl: Lost in Numbers | |
| In den Umfragen liegt Joe Biden vorn – national und auch in den | |
| entscheidenden Bundesstaaten. Doch kann man den Zahlen trauen? | |
| US-Senat bestätigt Richterin Barrett: Supreme Court wird konservativ | |
| Der US-Senat hat die Nominierung von Amy Coney Barrett für den Obersten | |
| Gerichtshof bestätigt. Von den Demokrat*innen erhielt sie keine Stimme. | |
| Proteste wegen Richterin Barrett: Wut in Washington | |
| Tausende Frauen zogen vor den Supreme Court in Washington, D.C. Sie zeigten | |
| ihre Ablehnung der Trump-Kandidatin Amy Coney Barrett. | |
| Nominierung für den Supreme Court: Die leise Revolution | |
| Amy Coney Barrett ist kein Einzelfall: In den knapp vier Jahren seiner | |
| Amtszeit hat Trump die US-Rechtsprechung nachhaltig umgeformt. |