# taz.de -- US-Präsidentschaftswahl: Lost in Numbers | |
> In den Umfragen liegt Joe Biden vorn – national und auch in den | |
> entscheidenden Bundesstaaten. Doch kann man den Zahlen trauen? | |
Bild: In den Umfragen liegt Biden vorn: der Präsidentschaftskandidat bei einem… | |
Eigentlich war Hillary Clinton doch schon die Siegerin. Am Wahltag hatte | |
die New York Times [1][ihre Siegeschancen auf 85 Prozent taxiert], die | |
anderen Prognosen hatten sich zwischen 70 und 99 Prozent eingependelt. | |
Landesweit lag Clinton mit 3 Prozentpunkten vorn. Und auch da, wo es bei | |
den Präsidentschaftswahlen darauf ankommt, sah es nach einem Sieg der | |
Demokratin aus – in Pennsylvania, in Michigan, in Wisconsin. | |
In den frühen Morgenstunden, am 9. November 2016 um fünf Minuten nach halb | |
drei, aber passierte das schwer Fassbare: Donald Trump hatte gerade die | |
letzten notwendigen Stimmen in Wisconsin geholt, in einem knappen Anruf | |
gratulierte ihm Clinton. In Manhattan leuchtete die Spitze des Empire State | |
Building republikanisch rot. | |
Trump gewann 2016 weit mehr Bundesstaaten, als die Umfrageinstitute | |
vorhergesagt hatten. Wiederholt sich die Geschichte? | |
Aktuell sehen die meisten Institute den demokratischen | |
Präsidentschaftskandidaten Joe Biden deutlich vorn. Die Webseite | |
[2][Realclearpolitics,] die akribisch Umfrage für Umfrage aufführt, taxiert | |
ihn im Schnitt relativ stabil bei etwas mehr als 50 Prozent, Donald Trump | |
bei 43 Prozent. Das Unternehmen Fivethirtyeight des Branchengurus Nate | |
Silver gibt Biden einen Vorsprung von fast 9 Prozentpunkten. Beide | |
Plattformen errechnen den Durchschnitt aller seriösen Umfragen. | |
Die Zahlen aus entscheidenden Bundesstaaten deuten ebenso auf einen Sieg | |
Bidens hin. In Wisconsin, dem Staat, der Clintons Niederlage besiegelte, | |
steht es laut Fivethirtyeight 52 zu 43 Prozent zugunsten von Biden, im hart | |
umkämpften Pennsylvania 50 zu 45 Prozent, mit tendenziell aber enger | |
werdendem Rennen. | |
Der Mittlere Westen erscheint derzeit wie die „blaue Wand“, die sich | |
Hillary Clinton 2016 erhofft hatte, also klar in demokratischer Hand. Auch | |
Michigan lieferte zuletzt gut 50 zu 43 Prozent für Biden. | |
Selbst in traditionell eher roten Staaten wie Georgia und Iowa gibt es kurz | |
vor der Wahl eine Chance für Biden. In Georgia steht es laut Umfragen | |
praktisch unentschieden mit 48 zu 47 für Biden, auch in Iowa und Arizona | |
liegt Biden genauso knapp vorn. Nur, wie verlässlich sind diese Zahlen | |
diesmal? Und könnte sich noch mal alles drehen? | |
Die zweite Frage beantwortet eine der renommiertesten US-Demoskop.innen | |
ohne Zögern. „2020 ist es sehr viel unwahrscheinlicher, dass es bei den | |
Wählern noch einen späten Wechsel gibt“, sagt Courtney Kennedy, Leiterin | |
der Methodenforschung bei dem Meinungsforschungsinstitut Pew, im Gespräch | |
mit der taz. Nur 5 Prozent der Wähler.innen seien noch unentschlossen, 2016 | |
waren es in der Woche vor der Wahl noch 15 Prozent. | |
Die Frage, wie es 2020 zuverlässigere Zahlen geben könnte, beschäftigt | |
Kennedy seit vier Jahren. Im November 2016, wenige Tage nach der Wahl, saß | |
sie in einer Schaltkonferenz mit Kolleg.innen aus dem ganzen Land. Die | |
American Association for Public Opinion Research hatte die führenden | |
Expert.innen zusammengetrommelt. Sie sollten herausfinden, was | |
schiefgelaufen war. Unter Kennedys Führung wurde ein Komitee zur | |
Untersuchung der Fehler gebildet. | |
„Die nationalen Erhebungen waren korrekt“, sagt Kennedy. Klar ist aber | |
auch: Bei den Umfragen auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten „haben einige | |
erhebliche Fehler“ gemacht, wie es im Abschlussbericht des Komitees heißt. | |
Die Unterstützung für Trump im nördlichen Mittleren Westen ist unterschätzt | |
worden. Zu sicher waren sich nicht nur die Demokrat.innen, dass die „blaue | |
Wand“ dort halten würde. | |
Die Demoskop.innen hatten zu wenige weiße Männer vom Land und zu wenige | |
Menschen ohne Collegeabschluss in ihren dann doch nicht so repräsentativen | |
Befragungsgruppen. Demokratische Wähler.innen, von denen mehr in der Stadt | |
leben und einen Collegeabschluss haben, waren zu stark vertreten. | |
Barack Obama hatte bei der Wahl 2012 eine große Zahl bisheriger | |
Nichtwähler.innen an die Urnen gezogen. Im Jahr 2016 hatten die | |
Demoskop.innen diese Wahlbeteiligung daher etwas stärker gewichtet. Das | |
könnte in die verzerrte Gewichtung mit hineingespielt haben. | |
Methodenprobleme wie etwa viele automatisierte Befragungen durch kleinere | |
bundesstaatliche Institute trugen zudem zur Verfälschung der Ergebnisse | |
bei. Aber insbesondere Trump-Wähler.innen taten das Ihre. Einige hatten | |
nicht zugeben wollen, dass sie Trump wählen wollten. Und viele entschieden | |
sich erst in der Woche vor der Wahl. „Von denen, die sich spät entschieden | |
haben, gingen enorm viele für Trump ins Wahllokal“, sagt Kennedy. | |
Aus den Fehlern von 2016 habe die Branche gelernt, versichert sie: Die | |
Auswahl der Befragten sei methodisch besser, die Befragungen seien | |
repräsentativer, das Stadt-Land-Verhältnis sei penibel angepasst und der | |
Bildungsstand stärker berücksichtigt. Insbesondere seien 2020 aber auch auf | |
Bundesstaatsebene die großen nationalen Player der Umfragebranche | |
eingestiegen. Das habe die methodische Qualität verbessert. | |
Direkte Befragungen in persönlichen Interviews seien ein entscheidender | |
Faktor. Und für so etwas brauche es ein größeres Budget. Man könnte auch | |
sagen: Es ist mehr Geld in bessere Umfragen investiert worden. | |
Robert Cahaly ist dagegen überzeugt, dass die klassischen Demoskopen.innen | |
ein zweites Mal falsch liegen werden. Cahaly ist Chef der Trafalgar Group, | |
eines Meinungsforschungsinstituts, das 2016 den Sieg Trumps in | |
entscheidenden Bundesstaaten wie Michigan und Pennsylvania vorhergesagt | |
hatte. | |
Seine Leute suchten auch inaktive Wähler.innen aus vergangenen Wahlperioden | |
auf, nutzten kurze, an der angenommenen Aufmerksamkeitsspanne ausgerichtete | |
Fragenkataloge und brachten so Menschen zum Antworten, die sonst durchs | |
Raster fielen. | |
Die meisten Demoskopen.innen hätten immer noch nicht begriffen, dass sich | |
die Welt geändert habe, sagte Cahaly jetzt dem Fernsehsender Fox News: „Die | |
lassen es einfach nicht sein, Leute anzurufen und ihnen 20, 30 oder 40 | |
verrückte Fragen zu stellen.“ Normale Leute nähmen aber nicht „an verrüc… | |
langen Befragungen teil“. Und normale Leute würden auch mal lügen. | |
Nach den Trafalgar-Zahlen liegt Trump derzeit in Arizona mit etwa 4 | |
Prozentpunkten vorn, in Michigan und Pennsylvania ebenfalls, wenn auch mit | |
gerade mal 2 Punkten, was de facto bedeutet: gleichauf. Der Vorsprung für | |
Biden in Wisconsin liegt Trafalgar zufolge in einer genauso unerheblichen | |
Größenordnung. | |
Auch Donald Trumps Lieblingsdemoskop.innen von Rasmussen Reports zeigen | |
bessere Zahlen für den Präsidenten. Aktuell liegt er hier auf nationaler | |
Ebene mit 47 Prozent hinter Biden mit 48 Prozent. Anfang der Woche war | |
Trump sogar leicht im Vorteil gewesen. Die Zahlen von Rasmussen und | |
Trafalgar gehen jedoch auch in die Berechnungen von Realclearpolitics und | |
Fivethirtyeight mit ein. | |
Ein gemäßigter republikanischer Demoskop ist Frank Luntz. Seine Prognosen | |
sind meist nah am Ergebnis. Im Jahr 2016 hatte er die Siegesgewissheit des | |
Clinton-Lagers mit großer Skepsis beobachtet. 2020 dagegen tippt Luntz auf | |
einen Sieg Bidens. | |
Auf Twitter schrieb er aber auch: „Wenn die Demoskopen falschliegen, ist | |
die Branche am Ende.“ Das unkalkulierbare Element, das Trump mitbringt, | |
ermöglicht keine Gewissheiten. | |
Auch Courtney Kennedy schreibt Trump allen verbesserten Umfragen zum Trotz | |
nicht ab. Es sei wahrscheinlich, dass er doch besser abschneide, als es die | |
Zahlen im Moment hergäben. „Er hat so eine Art, Leute an die Wahlurnen zu | |
bringen.“ | |
Ganz anders berechnet Daniel Clifton den mutmaßlichen Ausgang der Wahl. Er | |
ist Chef der Politikanalyseabteilung von Strategas Security und berät | |
Anleger, die der Wahlausgang mit Blick auf ihr Aktienportfolio | |
interessiert. | |
Vor Investor.innen stellte er kürzlich ein ökonomisch basiertes Modell vor. | |
Normalerweise entschieden vier Faktoren, ob ein Präsident wiedergewählt | |
werde: die persönlichen Zustimmungsraten, der Börsenstand, das | |
Bruttosozialprodukt und der Dollarkurs. | |
Derzeit gebe es gemischte Signale mit einem Dow-Jones-Index auf hohem | |
Niveau, aber einer volatilen Wirtschaftslage und leicht sinkendem Dollar. | |
Rechne er diese vier Faktoren zusammen, „würde Trump 52 Prozent der Stimmen | |
gewinnen“. Zwischen Wiederwahl und Zustimmungsraten bestehe zudem ein | |
85-prozentiger Zusammenhang. Und die Zustimmungsraten stiegen zuletzt. | |
Natürlich legt sich auch Clifton nicht so einfach fest. Mit der Pandemie, | |
der Rezession und den Protesten von Black Lives Matter gebe es in diesem | |
Jahr große Unwägbarkeiten. Die Wahl sieht er nicht zuletzt als Referendum | |
über Trump und die Pandemie. | |
Man könne dessen Siegeschancen mit den Zahlen der Covidfälle in Beziehung | |
setzen. Und die steigen wieder. Clifton gibt dann aber doch eine Prognose | |
ab: „Zurzeit gebe ich Biden eine 60-prozentige Gewinnchance, Trump 40 | |
Prozent.“ | |
Es gibt die Demoskopie, die Marktanalyse und das Orakel: Allan Lichtmann. | |
Der Historiker von der American University in Washington, D. C., setzt für | |
seine Prognose auf eine Analyse der Lage des amtierenden Präsidenten anhand | |
von 13 Faktoren, darunter die Zustimmung zu den Parteien, die aktuelle | |
ökonomische Lage, die langfristigen wirtschaftlichen Aussichten, | |
innenpolitische und außenpolitische Erfolge sowie Charisma. | |
Jede Wahl der US-Präsidenten seit 1984 hat er damit richtig vorhergesagt. | |
Und diesmal? Er setzt mit 7:6 auf Joe Biden. | |
30 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/interactive/2016/upshot/presidential-polls-forecast… | |
[2] https://www.realclearpolitics.com/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Junge | |
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