# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Köche in Lebensgefahr | |
> Sie arbeiteten in Afghanistan für die französische Armee. Sechs Jahre | |
> nach dem Abzug kämpfen sie um ihr Überleben und die Aufnahme in | |
> Frankreich. | |
Bild: Kochen für die französische Armee: Mittagszeit in der Militärkantine v… | |
Wahid F. zeigt uns ein Schreiben der Task Force La Fayette (TFLF), in dem | |
seine „bemerkenswerte Dienstbereitschaft und Professionalität“ sowie sein | |
„unermüdlicher Einsatz für die Nato-Mission und die französische Armee“ | |
gelobt werden. | |
Knapp sechs Jahre nach dem Abzug französischer Soldaten aus Afghanistan hat | |
diese Auszeichnung für ihn an Glanz verloren. Geächtet von den Taliban und | |
vielen weiteren Landsleuten, führt Walid F. in Kabul ein Leben im | |
Verborgenen. Wegen Morddrohungen und gewalttätiger Angriffe musste er mit | |
seiner Frau und vier Kindern mehrmals überstürzt umziehen. „Ich kann nicht | |
mehr arbeiten, weil ich Angst habe, erkannt zu werden. Es ist einfach zu | |
gefährlich“, vertraut er uns an. Sein Bruder wurde im März 2019 von den | |
Taliban getötet. Wahid F. hofft immer noch, irgendwann nach Frankreich | |
gehen zu können. | |
Etwa 800 Afghanen haben als Übersetzer, Lagerarbeiter, Köche oder | |
Chauffeure für die französische Armee gearbeitet. Im Militärjargon werden | |
diese einheimischen Zivilisten mit dem Kürzel PCRL bezeichnet (Personnel | |
civil de recrutement local). Sie selbst nennen sich Tarjuman, was auf Dari | |
„Dolmetscher“ heißt, weil sie als Mittler zwischen den Soldaten und der | |
Bevölkerung fungierten. Bisweilen waren sie jedoch auch an Kampfhandlungen | |
beteiligt. | |
Zwischen 2001 und 2014 hat Frankreich fast 70 000 Soldaten nach Afghanistan | |
entsandt, von denen 90 umkamen. Die Teilnahme an diesem in erster Linie | |
US-amerikanischen Krieg stieß in der französischen Öffentlichkeit auf wenig | |
Verständnis. Am Ende der längsten und teuersten Militärintervention der | |
US-Geschichte verpflichtete sich Washington im Friedensabkommen mit den | |
Taliban vom Februar 2019, sämtliche Einsatzkräfte bis Mai 2021 abzuziehen. | |
## Auch Deutschland stellte sich lange taub | |
Die am Krieg in Afghanistan beteiligten Staaten pflegen einen | |
unterschiedlichen Umgang mit ihren früheren afghanischen Mitarbeitern. | |
Deutschland zum Beispiel, das ähnliche viele Soldaten nach Afghanistan | |
entsandte wie Frankreich, stellte sich ebenfalls lange taub für die | |
Gefährdungsanzeigen seiner sogenannten Ortskräfte. Erst auf massiven Druck | |
beschloss die Bundesregierung 2013 ein Aufnahmeverfahren für die | |
afghanischen Bundeswehrangestellten und ihre „(Kern-)Familienangehörigen“. | |
Bei Bewilligung gilt die Aufenthaltsgenehmigung zurzeit bis Ende 2021. Noch | |
heute sind vor Ort etwa 1600 lokale Helfer bei der Bundeswehr angestellt. | |
In Frankreich konnten gefährdete ehemalige Helfer seit Januar 2012 zunächst | |
nur ein Langzeitvisum beantragen, dessen Bewilligung vom „Grad der | |
Bedrohung, der Qualität der geleisteten Dienste und der | |
Integrationsfähigkeit“ abhing, wobei dieses Kriterium äußerst | |
undurchsichtig war. Vermutlich ging es vor allem darum, zu prüfen, wie | |
intensiv die Betroffenen ihre Religion praktizierten. Nach Abschluss dieses | |
Auswahlprozesses wurden nur 73 PCRL aufgenommen. | |
Dank der Mobilisierung des „Vereins für ehemalige afghanische Dolmetscher | |
und Helfer der französischen Armee“, den die junge Anwältin Caroline | |
Decroix gegründet hat, trat im Mai 2015 ein zweites Aufnahmeverfahren in | |
Kraft. Die Informationen der Regierung zu diesem nur wenige Wochen gültigen | |
Angebot waren jedoch so spärlich, dass am Ende nur 103 PCRL mit ihren | |
Familien ein Visum bekamen. Die übrigen 149 Anträge wurden ohne Begründung | |
abgewiesen und erst im November 2018 einer erneuten Prüfung unterzogen. | |
Danach wurde für noch einmal 51 Tarjuman ein Visum ausgestellt. Insgesamt | |
wurde 227 von insgesamt 800 Helfern gestattet, sich in Frankreich | |
niederzulassen. | |
## Für die Taliban sind alle Verräter | |
Selbst wenn die Vereinigung ehemaliger Dolmetscher mit Hilfe ehrenamtlich | |
tätiger Anwälte (wie mir) gegen Ablehnungsbescheide manchmal sogar | |
erfolgreich Berufung einlegen konnte, ist das keine Lösung. Ein Anrecht auf | |
ein Visum wurde nicht eingeräumt. Die Verwaltungsrichter entscheiden von | |
Fall zu Fall und stützen sich dabei auf das Ausmaß der Gefährdung und die | |
Funktion des Antragstellers für die französischen Armee. Das mutet zynisch | |
an, denn für die Taliban sind alle Tarjuman Verräter, egal ob Koch oder | |
Chauffeur. | |
Zwei Entscheidungen des Staatsrats von 2018 und 2019 hätten ihnen wieder | |
Hoffnung geben können, weil sie sich nun auf ein erweitertes Gesetz von | |
1983 berufen durften. Dem zufolge ist der Staat verpflichtet, seine | |
Beschäftigten zu schützen, wenn sie aufgrund der Ausübung ihres Amts | |
bedroht sind. Dieser „funktionelle Schutz“ wurde nun auch auf nicht | |
verbeamtete Staatsbedienstete ausgeweitet, die im Ausland rekrutiert wurden | |
– selbst wenn ihr Arbeitsvertrag ausländischem Recht unterlag. | |
Dieser beträchtliche Fortschritt wurde jedoch rasch durch das zynische | |
Spiel des Verteidigungsministeriums zunichte gemacht, bei dem die Afghanen | |
ihren Antrag auf „funktionellen Schutz“ stellen müssen. Die bisherige | |
vermeintliche Nachlässigkeit der Behörden war inzwischen in den erkennbaren | |
politischen Willen umgeschlagen, die Anträge auf Schutz systematisch zu | |
unterlaufen. Das Ministerium stellte dafür sieben Juristen ein, die | |
ausschließlich daran arbeiten, die Schwachpunkte in Anträgen der Tarjuman | |
zu finden. Das Team untersucht jedes Dokument auf mögliche Fälschungen, ob | |
es sich nun um einen Mietvertrag handelt, einen Drohbrief, ein ärztliches | |
Attest oder ein Ausweisdokument. Das soll die Anträge auf funktionellen | |
Schutz schwächen. | |
Ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten die anwesenden Vertreter des | |
Verteidigungsministeriums in den Gerichtsverhandlungen, dass die | |
Bedrohungen, denen sich die ehemaligen Ortskräfte ausgesetzt sehen, | |
übertrieben dargestellt würden oder sogar völlig aus der Luft gegriffen | |
seien. Und falls sie doch zuträfen, dann hätten sie nichts mit ihrer | |
früheren Funktion zu tun. Dies widerspricht allerdings dem, was das | |
[1][französische Parlament, das Europäische Unterstützungsbüro für | |
Asylfragen oder das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge berichten]. | |
## Die Verteidigungsministerin fühlt sich nicht verantwortlich | |
Im Juli 2019 präzisierte der französische Staatsrat die Bedingungen, unter | |
denen funktioneller Schutz gewährt wird: Künftig muss nachgewiesen werden, | |
dass die Bedrohungen persönlich, aktuell und konkret sind und sich direkt | |
auf die frühere Funktion der Tarjuman beziehen. Es fragt sich nur, wie man | |
das beweisen soll. Gegen die seltenen Gerichtsurteile, in denen einer | |
ehemaligen Ortskraft funktioneller Schutz gewährt wird, legt | |
Verteidigungsministerin Florence Parly sowieso fast immer Berufung ein. Sie | |
macht auch kein Geheimnis mehr aus ihrer Absicht, die Aufnahme der | |
ehemaligen Staatsbediensteten zu verhindern. Und sie kann ihr illoyales | |
Verhalten problemlos begründen – mit zu hohen Kosten, Angst vor Schleusern | |
und illegaler Einwanderung oder Furcht vor heimlichen Terroristen. | |
Je unsicherer der Ausgang dieser langwierigen Aufnahmeverfahren ist und je | |
weniger Hoffnung es gibt, dass die Gefahren vor Ort geringer werden, desto | |
mehr Afghanen werden versuchen, auf eigene Faust das Land zu verlassen und | |
sich auf den gefährlichen Weg der Migranten zu begeben. Diese Menschen | |
treibt die unerschütterliche Hoffnung, doch noch eines Tages das Land ihrer | |
Hoffnung zu erreichen. Ihre Reise endet manchmal in Iran, in Indien oder | |
auch in der Türkei, wo Präsident Erdoğan nicht müde wird, damit zu drohen, | |
dass hunderttausende Migranten in ihre Herkunftsländer oder die | |
europäischen Durchreiseländer zurückgeschickt werden. Tatsächlich hat die | |
Türkei zwischen Januar und September 2019 schon 32 000 Afghanen | |
ausgewiesen. | |
Für die Tarjuman besteht, wenn sie Afghanistan erst einmal verlassen haben, | |
jedoch kaum noch eine Chance, dass ihre Anträge auf funktionellen Schutz | |
angenommen werden, da sie ja nun nicht mehr unmittelbar der Bedrohung durch | |
die Taliban ausgesetzt sind, auch wenn diese Ursache für ihre Flucht war. | |
So bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als illegal nach Frankreich | |
einzureisen, um einen Asylantrag stellen zu können. | |
## Zur illegalen Einreise gezwungen | |
Die ehemaligen afghanischen Ortskräfte sind in einer paradoxen Situation: | |
Der Staat weigert sich, ihnen Visa für die Einreise auszustellen, aber wenn | |
sie es illegal ins Land schaffen, können sie ziemlich sicher sein, dass | |
ihnen der Flüchtlingsstatus oder subsidiärer Schutz zuerkannt wird. So | |
urteilt jedenfalls regelmäßig der Nationale Asyl-Gerichtshof (CNDA). Die | |
Tarjuman sind zu einer einsamen und gefährlichen Flucht gezwungen, um | |
letztlich den Schutz zu erhalten, auf den sie eigentlich Anspruch haben. | |
Seit September 2020 ist eine parlamentarische Untersuchungskommission damit | |
beschäftigt, eine Bilanz der Aufnahmeverfahren von ehemaligen lokalen | |
Kräften zusammenzustellen. Sie soll auch für mehr Transparenz sorgen, den | |
Schutz verbessern und die gegenwärtige Rechtslage korrigieren, deren | |
Unzulänglichkeiten das Verteidigungsministerium bislang ausgenutzt hat. | |
Wenn dieses Recht nicht weiterentwickelt wird, stellt sich morgen die | |
gleiche Frage für die Ortskräfte, die die französische Armee derzeit in der | |
Sahelzone und anderswo beschäftigt. | |
Im Wahlkampf 2017 sprach Emmanuel Macron über die verzweifelte Lage der | |
Tarjuman und verglich sie mit den Harkis, die im algerischen | |
Unabhängigkeitskrieg (1954–1962) auf der Seite Frankreichs kämpften. Macron | |
räumte damals ein, dass der französische Staat ihnen gegenüber einen | |
„Fehler“ gemacht habe. Jetzt muss er die Verantwortung dafür übernehmen. | |
11 Oct 2020 | |
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[1] https://www.easo.europa.eu/annual-report-html | |
## AUTOREN | |
Antoine Ory | |
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