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# taz.de -- Truppenabzug aus Afghanistan: Die Parallelregierung
> In Afghanistan haben die Taliban einen zweiten Staat aufgebaut. Wie er
> funktioniert und was das für die Zeit nach dem Abzug der US-Armee
> bedeutet.
Bild: Die örtliche Bevölkerung interessiert sich vor allem dafür, ob im Staa…
Oft sitzt er in einer Moschee in Mirai“, sagt Pir Muhammad*, ein Bauer aus
dem Hauptort von Andar, einem Distrikt außerhalb der südostafghanischen
Großstadt Ghasni. Fast 200 Kilometer sind es von hier bis in die Hauptstadt
Kabul. „Manchmal fährt er herum, und in den Dörfern können die Leute ihm
Anliegen vortragen.“ Die Rede ist von Mullah Waliullah, dem
Distriktgouverneur der Taliban. Wenn der mit seinen Leibwächtern über die
Dörfer zieht, so Pir Muhammad, hinterlasse er seine Telefonnummer, damit
man ihn bei dringenden Problemen finden kann.
In Andar steht Waliullah einem weit verzweigten parallelen Netzwerk
administrativer Strukturen vor, das die Aufständischen aufgebaut haben,
seit sie im Oktober 2018 Mirai eroberten. Die Regierung hält gerade noch
zwei Armeebasen und ein paar Kontrollpunkte in Andar. Es gibt
Talibangerichte und eine Oberaufsichtskommission, die verschiedene
sektorale Kommissionen anleitet – von Bildung und Wiederaufbau bis zu einer
Finanzkommission, die Steuern eintreibt. Stationäre Büros unterhalten die
Taliban aber nicht. Zu groß ist die Furcht vor Luftschlägen.
Doch könnte dieser Apparat bald Teil der offiziellen Regierungsstrukturen
werden. [1][US-Präsident Trump verkündete am Dienstag, dass er die Zahl
seiner Truppen in Afghanistan bis Mitte Januar von 4.500 auf 2.500
verringern will]. Damit übt er weiteren Druck auf die Regierung in Kabul
aus, sich auf eine Machtteilung mit den Taliban zu einigen. Diese Gespräche
laufen bereits seit September, kommen bisher aber nicht voran.
Andar ist ein typischer ländlicher Distrikt in Afghanistan. Die Menschen
leben von der Landwirtschaft, bauen vor allem Weizen, Mais und etwas
Opiummohn an und leiden unter der landesweiten Dürre.
Andar steht auch für eine große Anzahl der rund 400 Distrikte des Landes,
in denen die Regierung des Präsidenten Aschraf Ghani überhaupt nicht mehr
oder nur noch in umzingelten Enklaven so etwas wie Kontrolle ausübt. Dort
haben sich die Taliban inzwischen zu einer veritablen Parallelregierung
gemausert, wie so manche Guerilla zwischen Kolumbien und den Philippinen.
Hadi Sohak* aus Surmat, einem Distrikt in der Provinz Paktia, östlich von
Ghasni, sagt: „Wenn die Regierung bei uns ein Projekt umsetzen möchte,
braucht sie die Zustimmung und Kooperation der Taliban.“ Pir Muhammad und
Interviewpartner:innen in acht weiteren Distrikten bestätigen das mit
fast identischen Worten.
„Die Taliban haben begriffen, dass sie die Unterstützung der Bevölkerung
brauchen, wenn sie ihre militärischen Ziele erreichen wollen“, schreibt
Scott Smith vom US Institute of Peace in Washington, der lange in
Afghanistan gearbeitet hat. „Das erreichen sie unter anderem durch die
Bereitstellung von Dienstleistungen.“ Das fing bereits in den frühen 2000er
Jahren an, in der Reorganisationsphase der Taliban nach ihrer Niederlage
gegen die US-geführten Truppen, die nach den Terroranschlägen des 11.
Septembers intervenierten. Die Taliban bauten eine parallele
Gerichtsbarkeit auf, die endemische Korruption an staatlichen Gerichten
spielte ihnen in die Karten. „Man muss schon dafür bezahlen, wenn der
Richter 'Herein!’ ruft“, berichteten die Menschen damals. Mit Polizei und
Bildungssystem, wo man von Lehrerstellen bis zum Prüfungserfolg für alles
zahlen muss, tauchen die Gerichte regelmäßig in den Top 3 der korruptesten
Institutionen auf, die die afghanische NRO Integrity Watch jährlich
zusammenstellt.
Die Taliban setzten ein im islamischen Recht und in Stammestraditionen
verankertes System dagegen, das zwar auch mit drastischen Strafen, stärker
jedoch mit Vermittlung in Land- und Familienstreitigkeiten arbeitet.
Inzwischen vereinheitlichen die Taliban ihr System landesweit. Das fällt
besonders bei der Besteuerung des Lkw-Fernverkehrs auf. Früher wurden
Trucker an jedem Kontrollpunkt von Taliban oder Regierungspolizei
willkürlich abgezockt; jetzt geben die Aufständischen Quittungen aus, die
auch am anderen Ende des Landes gültig sind und Doppelbesteuerung
ausschließen. Das kommt bei den Transportunternehmern gut an.
Im Bildungssystem hat sich die Talibanpolitik laut Smith am meisten
gewandelt. Früher duldeten sie keine staatlichen Schulen in ihren Gebieten,
fackelten sie ab oder wandelten sie in Koranschulen um. Durch ihren
erweiterten landesweiten Zugriff übernehmen sie die Schulen heute selbst.
Sohak in Surmat sagt, sie hätten das letzte Wort bei der Neueinstellung von
Lehrern und überwachen deren Erscheinen: „Sie ziehen Geld vom Gehalt ab,
wenn sie nicht zum Unterricht kommen.“ Sie würden auch in den Lehrplan
eingreifen, „haben Schulstunden zu kulturellen Themen und den
Sportunterricht durch religiöse Studien ersetzt.“ Die Regierung in Kabul
spielt mit, weil sie den Zugriff auf die Schulen nicht ganz verlieren will.
Sie überweist weiter Gehälter für die Lehrer und Mittel für Baumaßnahmen
oder Schulmaterial.
Mit Mädchenschulen tun die Taliban sich weiter schwer. Die laufen in allen
zehn untersuchten Distrikten nur bis Klasse sechs, mit Ausnahme vom
westafghanischen Distrikt Obeh. Dort überzeugte die örtliche Gemeinschaft
die Taliban, das Gymnasium weiterzubetreiben. Einzige Bedingung der
Taliban: keine männlichen Lehrer für die oberen Klassen. Obeh hat dafür
genug Lehrerinnen und setzt unterstützend Zwölftklässlerinnen ein.
Dass die Taliban kaum eigene Projekte umsetzen und eingetriebene Steuern
vor allem in ihre Militäroperationen fließen lassen, ist ihr großer
Schwachpunkt. Doch auch hier beginnen sie umzusteuern. In Andar setzten sie
mehrere Straßenprojekte in Gang. Dafür beleben sie lokale Traditionen von
Gemeinschaftsarbeit oder sammeln Geld von Geschäftsinhabern ein, um Firmen
zu beauftragen.
Insgesamt betrachte die örtliche Bevölkerung die Dienstleistungen, die die
Taliban sicherstellen, als effektiver als die der Regierung, so Smith. In
Andar, so der afghanische Analyst Fazl Muzhary, sei der örtlichen
Bevölkerung „nach all den Jahren des Kriegs inzwischen gleichgültig, wer
Dienstleistungen bereitstelle, solange es überhaupt welche gibt“. Die
Taliban hätten „in großem Maß an Akzeptanz“ gewonnen. Smith sieht darin
Chancen. Er sei sich dessen bewusst, dass es auch „schlimmere Szenarien“
geben könne. Aber „die Varietät in lokalen Modellen der Zusammenarbeit“
zwischen Regierung und Taliban könne in „eine Zukunft nach einem
Friedensabkommen“ zwischen beiden verlängert werden.
* Namen aus Sicherheitsgründen geändert.
Dieser Bericht beruht auf Vor-Ort-Forschung des Afghanistan Analysts
Network (Kabul/Berlin), dessen Co-Direktor der Autor ist.
21 Nov 2020
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## AUTOREN
Thomas Ruttig
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