# taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2020: Im digitalen Durcheinander | |
> Das Collagenhafte der Buchmesse im Netz ist vollkommen in Ordnung. Doch | |
> wo kann man die Selbstdarsteller schwitzen sehen? | |
Bild: 2020 nur digital: „Signals of Hope“-Reihe der Buchmesse | |
Beim Klicken durch die digitale Buchmesse – dieses Jahr notgedrungen das | |
Äquivalent zum Messerundgang – lande ich bei Selbstdarstellungsfilmen | |
junger Designer*innen aus Hessen, die einen Preis gewonnen haben. Unterlegt | |
sind die Filme mit einer aufdringlich dudelnden Musik, die einen schnell in | |
die Flucht treibt. | |
Ein paar Klicks weiter erzählt die Lektorin Nadya Hartmann einiges | |
Interessantes aus der Geschichte der Frankfurter Verlagsanstalt. Eigentlich | |
sollte das kleine Verlagshaus – Verleger Joachim Unseld plus drei | |
Angestellte – in diesem Herbst ein doppeltes Verlagsjubiläum feiern. Vor | |
100 Jahren wurde die ursprüngliche FVA gegründet, vor 25 Jahren fand die | |
Neugründung statt. Nadya Hartmann erzählt das alles ruhig und lächelnd, im | |
zugewandten Gespräch mit einer Journalistin. | |
Wieder ein paar Klicks weiter sprechen die Schriftstellerinnen [1][Nora | |
Bossong] und [2][Francesca Melandri] über oft schmerzlichen Fragen | |
deutscher und italienischer Erinnerungen. Bevor es dazu kommt, sitzt | |
allerdings erst einmal Irmgard Maria Fellner, die deutsche Beauftragte für | |
auswärtige Kulturpolitik, vor einer Zoomkamera. | |
Was sie sagt, ist alles richtig – auf dem kulturellen Feld kann man heikle | |
Themen ansprechbar machen, die politisch noch viel zu vermint sind –, aber | |
auf eine beflissene Art vorgetragen, die einen als Rezipient*in ungeduldig | |
machen kann. Und im Digitalen gibt es da nur eine Möglichkeit zu entkommen | |
(wenn die Möglichkeit zum Vorspulen nicht gegeben ist): weiterklicken. | |
Ich weiß nicht. Dieses Durcheinander der Eindrücke, dieses | |
Unzusammenhängende und Collagenhafte, das man sich auf der digitalen | |
Buchmesse herstellen kann, hat durchaus etwas Messenhaftes. Aber anders als | |
auf der analogen Messe macht es einen nicht satt. | |
## Passende Formen der Aufmerksameit | |
Das liegt natürlich daran, dass man auf einer analogen Buchmesse von | |
Eindrücken körperlich geradezu umspült wird, von jeder Seite könnte | |
irgendetwas Neues auf dich einströmen, während auf der digitalen Messe der | |
Bildschirm, auf dem das alles abläuft, Teil deiner vertrauten | |
Wohnzimmereinrichtung ist. | |
Es liegt auch an der Stellung der Rezipient*innen zur Veranstaltung. Auf | |
einer analogen Messe gibt es mehr Möglichkeiten, die passende | |
Aufmerksamkeitsform zu finden. Man kann stehen bleiben und zuhören, man | |
kann langsam vorbeischlendern, man kann sich zwischen zwei Veranstaltungen | |
stellen und beide im Blick behalten, man kann nahe herangehen. Und den | |
Selbstdarstellern kann man beim Schwitzen zusehen. Das Digitale dagegen | |
zwingt einen die Blickwinkel eher auf. | |
Vor allem aber stehen bei dieser digitalen Messe die Veranstaltungen viel | |
stärker im Fokus als auf der analogen, auf der sie oft genug nur der Anlass | |
sind, sich zu treffen. Dass auf der Messe die Bücher tatsächlich das | |
Zentrum bilden, ist nämlich eigentlich ein Gerücht. Man musste jedenfalls | |
beifällig nicken, als der Kulturjournalist Ijoma Mangold auf dem | |
öffentlichen Vierer-Zoommeeting mit Sophie Passmann, Hannah Lühmann und Jo | |
Lendle, auf dem sie Messetratsch simulierten, ausplauderte, zu keiner Zeit | |
so wenig zu lesen wie auf Messen. | |
## Die Macht der Buchbranche | |
Die analoge Messe ist von ihrer schieren Präsenz her so überwältigend, dass | |
sogar die obligatorischen Krisenmeldungen aus der Buchbranche dagegen etwas | |
Irreales annehmen. Es kann der digitalen Messe einfach nicht gelingen, | |
diese schiere Macht der Buchbranche, ihre gesellschaftliche Bedeutung | |
anschaulich deutlich zu machen. | |
Das heißt aber alles nicht, dass es auf der digitalen Messe keine | |
Entdeckungen zu machen gäbe. Klar, es gibt die oft gar nicht schlechten | |
Gespräche mit Schriftsteller*innen dieses Jahr jetzt hier. Und das | |
filmische Feature in der „Signals of Hope“-Reihe der Buchmesse von | |
[3][Mahret Ifeoma Kupka] über Schwarzes Schreiben in Deutschland habe ich | |
mir gern angesehen. Mag sein, dass die digitale Buchmesse als | |
Produktionsplattform für viele Autor*innen gut funktioniert hat. Es gab | |
offensichtlich auch einiges Geld zu verteilen. | |
15 Oct 2020 | |
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[1] /Nora-Bossongs-neuer-Roman/!5621507 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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