# taz.de -- Spektakulärer Syrien-Prozess in Koblenz: Das Rätsel um Anwar R. | |
> Als Geheimdienstler in Syrien hat er mutmaßlich gefoltert. Wegen | |
> Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird Anwar R. in Deutschland der | |
> Prozess gemacht. | |
Bild: Anders als sein Mitangeklagter verdeckt Anwar R. (links) sein Gesicht nic… | |
Ein Mittwochnachmittag Ende August. Draußen vor dem Koblenzer | |
Oberlandesgericht weht ein stürmischer Wind die letzten heißen Sommertage | |
davon, als der Zeuge Riad Seif aussagt. Seif, einer der bekanntesten | |
Oppositionellen Syriens, wird über der Richterbank groß an die Wand | |
projiziert. Weil der 73-Jährige schwer an Krebs erkrankt ist, wird er per | |
Video aus Berlin zugeschaltet, wo er im Exil lebt. | |
Während Seif aussagt, sitzt Anwar R. wie alle Prozessbeteiligten hinter | |
Plexiglas an seinem Platz auf der rechten Seite des Saals und macht sich | |
Notizen. Manchmal reicht er einen Zettel an seinen Dolmetscher weiter, der | |
neben ihm sitzt. Der soll ihn für den Verteidiger übersetzen, wohl damit | |
dieser die richtigen Fragen stellt. | |
Mit Fragenstellen kennt Anwar R. sich aus. 17 Jahre lang hat er beim | |
syrischen Geheimdienst gearbeitet, viele davon als Ermittlungsleiter. | |
Deshalb steht er vor Gericht, hier im Saal 128. Die Bundesanwaltschaft hat | |
ihn wegen [1][Verbrechen gegen die Menschlichkeit] angeklagt. | |
Anwar R., 57, hohe Stirn, Brille, Schnauzer, erschien zuletzt stets mit | |
einem dunklen Sweatshirt vor Gericht. Wenn Kameras zu Beginn der | |
Prozesstage im Saal erlaubt sind, verdeckt er – anders als sein | |
Mitangeklagter – sein Gesicht nicht. Anwar R. will sich nicht verstecken. | |
R. hat, so trägt es Oberstaatsanwalt Jasper Klinge beim Prozessauftakt Ende | |
April vor, beim syrischen Allgemeinen Geheimdienst gearbeitet und in der | |
Abteilung 251 die Unterabteilung „Ermittlungen“ geleitet. Dazu gehört | |
„al-Khatib“, ein berüchtigtes Gefängnis im Zentrum von Damaskus. Dort | |
sollen allein zwischen April 2011 bis September 2012 systematisch Tausende | |
Menschen gefoltert worden sein, manche sind an den Folgen gestorben. Darum | |
geht es im Prozess. R. soll dafür verantwortlich sein. | |
R. habe, sagt Klinge, die Vernehmungsbeamten und Wärter zum Dienst | |
eingeteilt und deren Arbeit überwacht und bestimmt – inklusive Folterungen. | |
Deshalb klagt die Bundesanwaltschaft R. wegen 58-fachen Mordes und Folter | |
in mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung an. | |
Selbst gefoltert zu haben, wirft man ihm nicht vor. Er soll als | |
Verantwortlicher Mittäter sein. | |
Anwar R. ist der Hauptbeschuldigte in diesem weltweit bislang einzigartigen | |
Prozess. Erstmals müssen sich zwei mutmaßliche syrische Folterknechte vor | |
Gericht verantworten. Dass Mitarbeiter des [2][Regimes von Baschar | |
al-Assad] vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden, haben | |
Russland und China durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat verhindert. Deshalb | |
bleibt nur die nationale Justiz, Deutschland ist dabei Vorreiter. Nach dem | |
Weltrechtsprinzip im deutschen Völkerstrafgesetzbuch kann die Justiz | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgen, wenn weder Täter | |
noch Opfer Deutsche sind. Der Prozess soll den Opfern Gerechtigkeit | |
bringen. Und Assad zeigen: Taten werden geahndet. | |
Konzentriert hört Anwar R. an diesem Augustnachmittag der Aussage von Riad | |
Seif zu. Seif ist nicht irgendein Zeuge. Lange bevor in seinem Heimatland | |
im März 2011 die Proteste begannen, hat Seif, damals einer der | |
erfolgreichsten Unternehmer des Landes, die Regierung kritisiert, | |
Korruption bekämpft, Bürgerrechte eingefordert und versucht, die Menschen | |
im „Forum nationaler Dialog“ zu organisieren. Bis dieses verboten wurde. | |
1994 zog er erstmals in das syrische Parlament ein, dreimal saß er im | |
Gefängnis. Als die Demonstrationen begannen, lief er mit. Seit er 2012 aus | |
Syrien geflohen war, war Seif eine der zentralen Figuren der Exilcommunity. | |
Jetzt sitzt [3][Riad Seif], weißes Hemd, dunkles Jackett, in seinem | |
Rollstuhl in einem Raum im Berliner Landgericht, von wo er nach Koblenz | |
zugeschaltet wird. Links am Tisch von ihm eine Übersetzerin, rechts ein | |
Anwalt. Seif spricht Arabisch, die Dolmetscherin übersetzt, was nicht immer | |
ganz glatt abläuft. | |
Das Gericht hat Seif als Zeugen geladen. Aber auch Anwar R. wollte das. | |
Denn Seif hat dem Geheimdienstmann geholfen. Der Oppositionelle mit guten | |
internationalen Beziehungen hat R. dem Auswärtigen Amt empfohlen. Und so | |
dafür gesorgt, dass dieser im Juli 2014 mit einem Aufnahmeprogramm für | |
besonders schutzbedürftige syrische Flüchtlinge nach Deutschland kam. | |
Anwar R, der Mann, den die Bundesanwaltschaft angeklagt hat, flog mit Hilfe | |
der Bundesregierung von Amman direkt nach Berlin-Tegel. Und lebte mit | |
seiner Familie als anerkannter Flüchtling in einer ruhigen Neubausiedlung | |
im Nordosten Berlins. Bis er im Februar vergangenen Jahres festgenommen | |
wurde. | |
Anwar R.s Geschichte ist vielschichtig. Da ist der Mann, der dem syrischen | |
Regime treu gedient hat. Der befördert wurde, bis er Oberst war. Der als | |
Sunnit den alawitischen Machthabern seine Loyalität wohl besonders unter | |
Beweis stellen musste. Da ist aber auch der prominente Deserteur, der sich | |
Ende 2012 aus Syrien absetzte und 2014 mit der Delegation der syrischen | |
Opposition an den Friedensverhandlungen Genf II teilnahm. Da ist der | |
Geflüchtete, der in Berlin zur Polizei ging, weil er sich vom syrischen | |
Geheimdienst verfolgt fühlte – und damit die Ermittlungen gegen sich | |
auslöste. Und da ist der Angeklagte, der kein Wort spricht, aber eine | |
Erklärung verlesen lässt, in der er leugnet, dass es unter seiner Leitung | |
überhaupt Folter gegeben hat. | |
Der Oppositionelle Seif, das wird vor Gericht schnell klar, will R. nicht | |
verteidigen. Der alte Mann will von seinen Erfahrungen berichten. Und | |
obwohl diese weitgehend in eine Zeit fallen, die für den Prozess | |
nebensächlich ist, unterbrechen die RichterInnen ihn kaum. Groß scheint der | |
Respekt vor der Lebensleistung dieses Mannes zu sein, der krank im | |
Rollstuhl sitzt und dem bei der Frage, wann er Syrien verlassen hat, die | |
Tränen kommen. | |
„Woher kennen sie Anwar R.?“, fragt der Richter jetzt. Seif antwortet, er | |
habe ihn persönlich gar nicht gekannt, bis R. ihn in Berlin besucht habe. | |
Auch habe er nicht viel über Anwar R.s Arbeit gewusst. Ein Freund seines | |
Schwiegersohns habe darum gebeten, dass er sich für einen desertierten | |
Oberst des Geheimdienstes einsetze, der nach Jordanien geflohen sei und vom | |
syrischen Regime mit dem Tod bedroht werde. Ein weiterer Grund: „Wir | |
wollten die Unterstützung der Abtrünnigen und Informationen über das | |
System.“ Von dem hochrangigen Überläufer habe man sich viel erhofft. „Aber | |
da kam nichts, kein Wort.“ Und je länger Seif aussagt, desto mehr Zweifel | |
klingen durch, ob Anwar R. nach seiner Desertion wirklich gemeinsame Sache | |
mit der Opposition gemacht hat. | |
Warum rückt ein Deserteur keine Informationen aus dem System raus, die für | |
die Opposition so wertvoll wären? Warum desertiert jemand, nachdem er | |
jahrzehntelang dem Regime treu gedient hat? Kann einer, der überzeugt zur | |
Opposition übergelaufen ist, die systematische Folter in syrischen | |
Gefängnissen wirklich leugnen? | |
Wer versucht, sich dem Hauptangeklagten anzunähern, dem kommen solche | |
Fragen. Für die Schuldfrage sind sie nebensächlich. Aber R.s Verhalten nach | |
der Tat könnte sich auf die Höhe der Strafe auswirken. Ihm droht | |
lebenslange Haft. | |
Die Beweislage gilt als dicht: Es gibt viele Zeugen und zahlreiche | |
Dokumente, außerdem die sogenannten Caesar-Files, Tausende Fotos, die ein | |
ehemaliger syrischer Militärfotograf von getöteten Gefangenen gemacht und | |
aus Syrien herausgeschleust hat. Bislang ist der Prozess bis zum 20. Mai | |
2021 terminiert. | |
Der Freund seines Schwiegersohns, sagt Seif, habe auch berichtet, dass | |
Anwar R. aus al-Haula stammt, wo regierungstreue Milizen im Mai 2012 ein | |
Massaker an der Zivilbevölkerung anrichteten, bei dem mehr als hundert | |
Menschen getötet wurden. Danach soll die Familie Druck ausgeübt haben: R. | |
könne nicht länger für das Regime arbeiten. Seif erwähnt dies mehrfach, so | |
als müsse er seine Unterstützung für R. rechtfertigen. | |
Teile der syrischen Exilcommunity haben Seif für die Hilfe, die er Anwar R. | |
zukommen ließ, scharf kritisiert. Ein Seitenwechsel löscht eben die | |
begangenen Verbrechen nicht. | |
Er sei mit dem Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni befreundet, sagt Seif | |
vor Gericht. Al-Bunni, auch als Zeuge geladen, trägt in Berlin Beweise | |
gegen Regimemitarbeiter wie Anwar R. zusammen. Aber in dieser Frage, so | |
Seif, seien sie unterschiedlicher Meinung. Seif wollte Abtrünnige auf die | |
Seite der Opposition ziehen. Das Denken damals: je hochrangiger der | |
Überläufer, desto größer die Chance, dass das System kollabiert. | |
Auch versprach Seif sich wichtige Informationen von Anwar R. Al-Bunni | |
dagegen zweifelt an, ob R. überhaupt die Seite gewechselt hat – und ob man | |
mit Leuten wie ihm gemeinsame Sache machen sollte. Wahr aber ist auch: | |
Anwar R. steht hier vermutlich nur vor Gericht, weil er desertierte und | |
nach Deutschland kam. Deshalb konnte die Polizei, die anderer hochrangiger | |
Mitarbeiter des Assad-Regimes nicht habhaft wird, ihn ganz einfach an | |
seiner Meldeadresse verhaften. | |
Anwar R. ist am 3. Februar 1963 in al-Haula in der Nähe von Homs im Westen | |
Syriens geboren und studierte in Damaskus Rechtswissenschaften. Noch | |
während des Studiums ging er auf die Polizeiakademie und wurde Ausbilder. | |
Als einer von drei Jahrgangsbesten landete R. 1995 mit 32 Jahren beim | |
Allgemeinen Geheimdienst, wo er zunächst in Damaskus für Patrouillen | |
zuständig war. | |
Es folgte Beförderung auf Beförderung. R. wurde Ermittlungsleiter, erst in | |
Abteilung 285, dann in Abteilung 251, die für die Sicherheit in Damaskus | |
und Umgebung zuständig ist. Dort unterstanden ihm, so heißt es in der | |
Anklage, 30 bis 40 Mitarbeiter, darunter Vernehmungsbeamte und | |
Gefängniswärter von al-Khatib. R. bezog ein Büro im ersten Stock, die | |
Zellen sind im Keller. | |
Anfang 2011 wird Anwar R. erneut befördert, er ist jetzt Oberst. Drei | |
Monate später gehen die Menschen in Syrien gegen das Regime von Baschar | |
al-Assad auf die Straße. Das versucht die Proteste mit Gewalt | |
niederzuschlagen. Geheimdienste und Militär gehen immer brutaler gegen | |
Oppositionelle vor. Die Gefängnisse sind überfüllt. In al-Khatib, das | |
berichten Zeugen und Experten gleichermaßen, wird schon jahrzehntelang | |
gefoltert. Doch nach Beginn der Proteste hätten Brutalität und Willkür eine | |
neue Dimension erreicht. Es habe quasi kein Verhör mehr ohne Folter | |
gegeben, so die Anklage. Zum Verhör werden die Gefangenen, so haben sie es | |
ausgesagt, stets mit Augenbinde gebracht, die Hände auf dem Rücken | |
gefesselt. Neben dem Vernehmer ist meist ein Wärter dabei. Anders gesagt: | |
ein Folterknecht. | |
Es drohen Tritte und Schläge. Mit Schläuchen, Metallrohren und Kabeln, | |
deren Ende offen sind, damit sich das Metall im Fleisch der Opfer verfängt. | |
Es drohen Elektroschocks, Verbrennungen, abgebundene Penisse, Übergüsse mit | |
Wasser. Es droht eine Methode namens „Dulab“, bei dem der Häftling in einen | |
Autoreifen gezwängt und mit Schlägen und Tritten malträtiert wird. Und | |
„Falaka“, bei der das Opfer immer wieder auf die besonders empfindlichen | |
Fußsohlen geschlagen wird. Oder der „deutsche Stuhl“, der so heißt, weil | |
angeblich Altnazis diese Foltermethode dem Regime beibrachten. Dessen Lehne | |
kann so weit nach hinten gebogen werden, dass der Rücken des Häftlings | |
überstreckt – und vielleicht die Wirbelsäule bricht. Das meiste davon seien | |
wohl Standardmethoden gewesen, sagt vor Gericht ein BKA-Beamter, der viele | |
Folteropfer aus al-Khatib befragt hat. | |
24 Fälle führt die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage auf. Ferras Fayyad | |
ist einer von ihnen. Schon bei der Ankunft in al-Khatib sei er geschlagen | |
worden und habe Schreie anderer Inhaftierter gehört, sagt der Regisseur | |
Anfang Juni in Saal 128. „Das waren Schreie, die waren nicht normal.“ Er | |
berichtet von Tritten und Schlägen, davon, wie er an den Händen an der | |
Decke aufgehängt wurde, so dass nur die Zehenspitzen den Fußboden | |
berührten, und dass jemand versuchte, einen Stock in seinen After | |
einzuführen. „Haben Sie den Stock in sich gefühlt?“, fragt die Richterin, | |
es geht um den Vorwurf der Vergewaltigung. „Einmal, mit einem Stoß.“ Ob er | |
zwei oder drei Monate in al-Khatib gefangen war, weiß er nicht mehr. In den | |
überfüllten Zellen ohne Tageslicht habe er das Zeitgefühl verloren. | |
Inzwischen haben auch andere Überlebende vor Gericht ausgesagt. Was sie | |
berichten, ist schmerzhaft – auch deshalb, weil sie beschreiben, was in | |
Syrien weiterhin passiert. Mindestens 90.000 Regimegegner sind laut | |
Menschenrechtsorganisationen noch immer in Haft, werden gefoltert und | |
nicht gehört. | |
Inzwischen läuft der Prozess seit fünf Monaten, Anwar R. schweigt. Auch | |
eine Stimmprobe verweigert er, wohl aus Angst, dass einer der Zeugen ihn so | |
erkennt. Am fünften Prozesstag aber, einem Montag Mitte Mai, verlesen seine | |
Anwälte fast zwei Stunden lang eine Einlassung. Anwar R. streitet alle | |
Vorwürfe ab. | |
„Ich habe niemanden geschlagen, noch gefoltert, ich habe auch niemals einen | |
Befehl dazu erteilt“, liest sein Verteidiger vor. Systematische Folter | |
leugnet R., die Vernehmungen seien „gewaltlos und respektvoll“ abgelaufen. | |
Misshandlungen habe es zwar gegeben – in anderen Abteilungen. | |
Bis März 2011, als die Proteste begannen, hat Anwar R. sich nach eigener | |
Darstellung weitgehend mit dem Regime identifiziert. Mit den | |
Demonstrationen aber habe sich alles geändert. „Das Chaos brach aus“, | |
liest der Anwalt vor. Glaubt man R., scheint es nicht zu seiner Berufsehre | |
gepasst zu haben, dass plötzlich jeder Demonstrant im Gefängnis landen | |
konnte. Schon seit April 2011 sei er entschlossen gewesen zu desertieren, | |
im Juni 2011 habe ihm sein Vorgesetzter seine Kompetenzen entzogen, weil er | |
Inhaftierten geholfen habe. Im September 2012 sei er in eine andere | |
Abteilung versetzt worden. Kurz vor Weihnachten dann habe er mit seiner | |
Familie Syrien verlassen. | |
Er habe, so R., bereits in Syrien Kontakt zur Opposition aufgenommen, die | |
ihm bei der Flucht nach Jordanien geholfen habe. Anfang 2014 habe er dann | |
als Teil der Delegation der syrischen Opposition an den Friedensgesprächen | |
Genf II teilgenommen. In welcher Funktion genau, sagt er nicht. Eine | |
Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts hat seine Teilnahme vor Gericht | |
bestätigt. Und R. „im Grundsatz“ eine „aktive Rolle“ in der Opposition | |
bescheinigt. Laut Riad Seif aber stand R. nur mit dem Leiter der Delegation | |
in Verbindung. Es könne sein, dass er als bezahlter Wachmann eingestellt | |
war. | |
Während der Verteidiger die Einlassung auf Deutsch verliest, hört R. über | |
seinen Kopfhörer die arabische Übersetzung. Man merkt ihm keine Regung an. | |
Am Abend nach der Verhandlung lädt Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni bei | |
Facebook einen Beitrag hoch. Anwar R., schreibt er, habe seinen | |
Arbeitsplatz geändert, nicht aber seine Arbeit selbst. Das soll wohl | |
heißen: Anwar R. könnte weiterhin für den syrischen Geheimdienst arbeiten. | |
Es ist eine der Thesen, die über Anwar R.s Desertion kursieren. Auch | |
Überzeugung und Druck aus der Familie werden genannt. Und dass der Mann, | |
wie viele in der Zeit um 2012, wohl mit dem Sturz des Assad-Regimes | |
gerechnet habe – und am Ende vielleicht schlicht auf der richtigen Seite | |
stehen wollte. | |
Es ist ein Donnerstag Anfang Juni, als al-Bunni, 61, dunkles Haar, voller | |
Bart, fliederfarbenes, offenes Hemd unter leicht knittrigem Anzug, aussagt. | |
Al-Bunni hat in Syrien als Menschenrechtsanwalt gearbeitet. Nachdem er 2014 | |
als Flüchtling nach Deutschland gekommen war, hat er in Berlin das Syrian | |
Center for Legal Studies and Researches gegründet. Mit anderen Aktivisten | |
sammelt er Zeugenaussagen und Belege über Folter und | |
Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat, um sie der Polizei zu | |
übergeben. | |
Wie Seif ist auch al-Bunni ein wortgewaltiger Mann. Leidenschaftlich klagt | |
er auf Arabisch das Assad-Regime an. Dieses terrorisiere das eigene Volk, | |
foltere Menschen mitunter bis zum Tod oder lasse sie einfach verschwinden. | |
Al-Bunni traf im Mai 2006 in Damaskus zum ersten Mal auf Anwar R. Als der | |
Anwalt zur Arbeit fahren wollte, wurde er in ein Auto gezerrt, in den | |
Fußraum gequetscht, man verband ihm die Augen. „Ich wurde gekidnappt“, sagt | |
al-Bunni vor Gericht. Im Auto habe Anwar R. gesessen und ihn beschimpft. Er | |
habe R. später an seiner Stimme wiedererkannt. | |
Nach der Entführung landete al-Bunni für fünf Jahre im Gefängnis. Es war | |
seine vierte Verhaftung. Mitglieder von al-Bunnis Familie, allesamt in der | |
Opposition tätig, wurden schon in den 1970er Jahren verfolgt. „Meine | |
Familie hat insgesamt 73 Jahre im Gefängnis gesessen“, sagt er. Sie seien | |
gefoltert worden. Jeder, der im syrischen Sicherheitsapparat gearbeitet | |
hat, habe von der systematischen Folter gewusst. „Und er wusste nicht nur | |
davon, er hat sie auch angewandt.“ | |
2014 traf al-Bunni im Flüchtlingswohnheim in Berlin-Marienfelde Anwar R. | |
wieder, erkannte ihn aber nicht gleich. Dass dieser schuldig ist, daran hat | |
al-Bunni keinen Zweifel. Den Vorwurf, dass Anwar R. weiter für den | |
syrischen Geheimdienst arbeite, will der Menschenrechtsaktivist vor Gericht | |
nicht wiederholen. | |
Aber dass dieser in seiner Einlassung die gleichen Worte wie der syrische | |
Präsident Assad gewählt hatte, heiße doch: Seine Ansichten seien | |
deckungsgleich mit denen des Regimes. Assad hatte im vergangen Jahr zum | |
anstehenden Prozess in Koblenz zu Russia Today gesagt: „Wir haben keine | |
Foltereinheiten. Warum sollten wir foltern?“ | |
28 Sep 2020 | |
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