| # taz.de -- Prozess wegen Folter in Syrien: „Ich habe niemanden gefoltert“ | |
| > Im Prozess gegen mutmaßliche Schergen des Assad-Regimes lässt sich der | |
| > Hauptangeklagte Anwar R. ein – und bestreitet die Vorwürfe vehement. | |
| Bild: In diesen Ordnern sind Vorwürfe gegen die Angeklagten gesammelt | |
| Koblenz taz | Aufrecht sitzt Anwar R. hinter einem Schirm aus Plexiglas, | |
| der ihn wie alle Prozessbeteiligten vor dem Coronavirus schützen soll. Der | |
| 57-Jährige mit dem grauen Schnauzer und dem auffälligen Muttermal unter dem | |
| linken Auge hat einen Kopfhörer auf. Damit hört er die arabische | |
| Übersetzung der Aussage, die der Rechtsanwalt Michael Böcker nun verliest. | |
| R. hört konzentriert zu. Dabei kennt Anwar R. den Text gut. Es ist seine | |
| Aussage, die der Verteidiger, der hinter ihm sitzt, nun vorträgt. | |
| Es ist Montag, Saal 128 im Koblenzer Oberlandesgericht. Im weltweit ersten | |
| Prozess gegen mutmaßliche Folterer des syrischen Assad-Regimes lässt sich | |
| der Hauptangeklagte ein – und widerspricht der Anklage vehement. Anwar R. | |
| räumt ein, die Unterabteilung Ermittlungen im Allgemeinen Syrischen | |
| Geheimdienst geleitet zu haben, alle anderen Vorwürfe streitet er ab. „Ich | |
| habe niemanden geschlagen noch gefoltert, ich habe auch niemals einen | |
| Befehl dazu erteilt“, liest Böcker vor. Misshandlungen habe es zwar | |
| gegeben, doch dafür seien andere Abteilungen verantwortlich gewesen. | |
| Anwar R. steht seit Mitte April in Koblenz vor Gericht, bislang hat er | |
| geschwiegen. Der Syrer ist wegen [1][Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
| angeklagt], wegen 58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 Fällen, | |
| wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung. R. hat laut Anklage beim | |
| Allgemeinen Syrischen Geheimdienst die Ermittlungseinheit in der Abteilung | |
| 251 geleitet, mit Befehlsgewalt über die Vernehmungsbeamten und das | |
| Gefängnispersonal in „al-Khatib“, einem berüchtigten Foltergefängnis in | |
| Damaskus. | |
| Vom 29. April 2011 bis zum 7. September 2012 seien mindestens 4.000 | |
| Häftlinge der Abteilung 251 gefoltert worden, Verhöre ohne Misshandlungen | |
| gab es praktisch nicht, so lautet die Anklage. 58 Menschen seien an den | |
| Folgen gestorben. | |
| Aussage „absolut unglaubwürdig“ | |
| Anwar R. aber widerspricht. Ihm seien, so liest es sein Verteidiger vor, | |
| wegen seiner Versuche, Inhaftierte zu entlassen, bereits im Juni 2011 seine | |
| Kompetenzen entzogen worden. Auch habe er früh darüber nachgedacht zu | |
| desertieren. Dann weist R. in zahlreichen Einzelfällen die [2][Vorwürfe von | |
| Folteropfern] zurück. Mal hat er angeblich „keine Kenntnisse“ gehabt, mal | |
| war er nicht befasst oder nicht zuständig. | |
| „Ich habe vielen Menschen geholfen, aber nie eine Gegenleistung verlangt.“ | |
| Auch habe es in „al-Khatib“ gar keine Vorrichtungen gegeben, um Menschen an | |
| der Decke aufzuhängen – was von Opfern als gängige Foltermethode | |
| beschrieben wird. Die Folteropfer, die als Nebenkläger in dem Prozess | |
| auftreten, sind nicht ins Gericht gekommen. | |
| Zum Ende seiner Einlassung, die fast zwei Stunden dauert, führt R. 26 | |
| Zeugen an, die seine Aussage unterstützen könnten. R. beschreibt auch, wie | |
| er im Winter 2012 desertierte und die Opposition unterstützt habe. R., so | |
| der Verteidiger weiter, habe die Geschehnisse in Syrien nicht mittragen | |
| können. | |
| Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der mit einem Kollegen sieben Nebenkläger | |
| vertritt, hält R.s Aussage für „absolut unglaubwürdig“: „Das würde | |
| bedeuten, dass alle Zeugen lügen. Es gibt eine Fülle von Aussagen, dazu | |
| Fotos und andere Beweise.“ Zudem sei R. seit 1992 bei der Staatssicherheit | |
| gewesen, erst zum Major, dann zum Oberst befördert worden. „Anwar R. war | |
| Teil des Systems“, sagt Scharmer. | |
| R. versuche seine Mitverantwortung für „jahrelange systematische Folter | |
| kleinzureden, indem er behauptet, er habe bloß Befehle befolgt und | |
| letztlich habe die Unterabteilung 40 die tatsächliche Macht im | |
| Al-Khatib-Gefängnis ausgeübt“, urteilte auch Wolfgang Kaleck, | |
| Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights | |
| (ECCHR). Das sei in solchen Verfahren übliche Taktik. | |
| 18 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine am Orde | |
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