# taz.de -- Keine Landidylle: Des Wahnsinns schuppiges Haupt | |
> Vor den multiidiotischen Horden ist man nicht einmal im Ökodorf sicher. | |
> Entspannter spaziert es sich über die verwaiste Oranienstraße. | |
Bild: Sommer in Brodowin | |
Weil ja im Frühjahr alle [1][corona-klaustrophobe Stadtflucht] betrieben | |
und sich auf die letzten freien Butzen am See gestürzt haben wie die | |
Fliegen auf die Kakahaufen, treffe ich mittlerweile mehr Freunde in unserer | |
Bungalowsiedlung in der Uckermark als in Berlin. | |
In der Stadt wohnen wir zwar alle innerhalb eines 1-Kilometer-Rings, aber | |
sehen tun wir uns an der schilfgesäumten Badestelle am Oberuckersee. Dort | |
besiedeln die Kinder in wühligen Rotten die Donut-Schwimmringe, | |
Float-Sessel und Stand-up-Boards, während wir Erwachsenen Kaffee auf Bänken | |
trinken, treudoof Papierzeitungen mit uns herumtragen und uns über | |
Akku-Heckenscheren und Bodenlacke unterhalten. | |
Wenn die Boards wieder freigegeben werden, weil die Kinder sich lärmend auf | |
Kletterbäume und Sandgruben verlegen, paddeln wir Erwachsenen in | |
meditativer Ergebenheit über die glitzernd im Spätsommerlicht liegende | |
Wasserfläche, halten Zukunftssorge und Gegenwartsschrecken in | |
ausbalanciertem Gleichgewicht [2][und die Gruseldemo in der Stadt] auf dem | |
vielbeschworenen 100-Kilometer-Abstand. | |
Später beim Veggie-Wurst-Grillen diskutieren wir, wie man den | |
multiidiotischen Horden vor dem Reichstagsgebäude wohl sinnvoll | |
entgegentreten könnte. Ergebnis: irgendwie gar nicht. Darauf stoßen wir an, | |
das Bayrisch Helle in den leicht zitternden Händen. Und erzählen von der | |
Familie, mit der wir im Urlaub in Brodowin ums Stockbrotfeuer standen. | |
Bange Gewissheiten | |
Aus Sachsen-Anhalt waren sie ohne Auto angereist, hatten für drei Wochen | |
alles ganz puristisch in Fahrradtaschen mitgebracht, wir waren beeindruckt. | |
Er Consultant, sie Juristin, interessant, die Kombi. Aha, Homöopathie-Fans. | |
Ah, oh, eher doch ausgeprägte Schulmedizin-Skeptiker, nein, radikale | |
Impfgegner gar. Denn: Ließen die in Impfstoffen enthaltenen Metalle unsere | |
Kinder nicht mit biopolitischem Vorsatz verdummen? Habe sich die Politik | |
jemals um die Gesundheit der Menschen geschert? Sei Corona nicht ein | |
planvoll eingerichtetes Scheinszenario, um ebendieses Geld und ebendiese | |
Macht in den Händen der 600 Familien, die das Weltgeschehen … | |
Da standen wir schön blöd im Ökodorf vor der Feuerschale und hatten bange | |
Gewissheit: Der Wahnsinn erhebt überall sein schuppiges Haupt. | |
Als Kontrastprogramm zurück in der Stadt dann der Abendspaziergang einmal | |
die Oranienstraße hoch und runter. Auch für einen Montagabend ist es irre | |
leer. Die innen liegenden Gasträume von Restaurants und Bars: leer. | |
Etablissements, die laut Tafel „till late“ aufhaben, sind um 10 Uhr schon | |
zu. Im Schaukasten des SO36 hängt das Programm vom März 2019, quer darüber | |
klebt ein Papierstreifen [3][– ALLES ABGESAGT –], über der verwaisten Tür | |
erinnert ein Transparent an die Ermordeten von Hanau. Nur einer der Spätis | |
hat es offenbar geschafft, zum Nachtlebenmagneten für junge Leute zu | |
avancieren. | |
Alle anderen Späti-Betreiber lehnen untätig vor ihren frisch renovierten | |
Läden an der Hauswand und stieren ins Leere. Der Busfahrer des M29 bremst | |
mitten auf dem stillen Heinrichplatz, hupt los und brüllt wild | |
gestikulierend aus dem Busfenster heraus: „Ali! Ali! Murat!!!“ Endlich | |
bemerken ihn die Buddys, die noch vor dem Bateau Ivre sitzen, und winken | |
laut johlend zurück. Die zwei versprengten und stark in die Jahre | |
gekommenen Rockabillies vor dem Tiki Heart sprechen Schwäbisch, der Mann | |
mit dem Hoodie, dem Gel in den Haaren und dem wohlfrisierten schwarzen | |
Vollbart sagt an der roten Ampel zu mir: „Komm, jehn wa, da könn' wa sonst | |
lange warten!“ | |
3 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Berlin-oder-Brandenburg/!5678356 | |
[2] /Demonstration-gegen-Corona-Regeln/!5706392 | |
[3] /Berliner-Musikszene-in-der-Corona-Krise/!5703104 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
## TAGS | |
Kolumne Berlin viral | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Uckermark | |
Kreuzberg | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
Alltag | |
Kolumne Berlin viral | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinder gegen Corona: „Bitte keine Patys mehr Machen!“ | |
Die Kinder haben die Propaganda gegen die Partybösewichte schon | |
verinnerlicht. Sie wollen in Urlaub fahren, dürfen aber nicht. | |
Herbstvorboten im Coronajahr: Das Spiel ist aus | |
Aufregend war schon lange nichts mehr. Alles plätschert so dahin, wie der | |
Regen ans Fenster. Und jetzt kommt auch noch der Herbst. | |
Gemeinschaft in Coronazeiten: Die Großeltern als Zaungäste | |
Man lernt dazu, unter den Bedingungen von Corona. Spielstraßen sichern, | |
Bäume bewässern, so entstehen neue Gemeinschaftsgefühle in | |
Berlin-Kreuzberg. | |
Ein Berliner Abgesang: Ein letztes Mal Tegel, oder? | |
Mit keinem anderen Ort in Berlin verbindet unsere Autorin so viele | |
Emotionen wie mit dem Flughafen. Nun fliegt sie wohl ein letztes Mal von | |
dort. |