# taz.de -- Gemeinschaft in Coronazeiten: Die Großeltern als Zaungäste | |
> Man lernt dazu, unter den Bedingungen von Corona. Spielstraßen sichern, | |
> Bäume bewässern, so entstehen neue Gemeinschaftsgefühle in | |
> Berlin-Kreuzberg. | |
Bild: Solche Baumsäcke werden in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg ausgegeben, u… | |
War der Freitag noch eine diabolische Ausgeburt von Hitzehorror, ist seit | |
Samstag plötzlich Spätsommer. Das Licht ist anders, und von der Frische | |
überrascht tropfen Nasen. Das sollten sie in Zeiten wie diesen besser | |
nicht. Schnell wurschteln wir die Plumeaus in die Bettbezüge und entdecken | |
im Kleiderschrank erleichtert Pullover und Socken. | |
Bald werden die Kinder wieder drinnen spielen, und wir müssen uns einen | |
anderen Aufbewahrungsort für unsere Masken überlegen. Noch hängen sie an | |
den Magnetpfeilen des Monster-Dartspiels an der Wohnungstür, mittlerweile | |
im dreifachen Dutzend. Zum Schulstart sind einige dazugekommen, denn zwei | |
Schulkinder brauchen nicht nur Einkaufs-, sondern auch Schulklo-, | |
Schulflur-, BVG- und Klassenfahrtmasken. | |
Bei der Einschulungsfeier für die Kleine stand jede Kernfamilie auf dem Hof | |
in einem vorgesprayten Kreis, die Großeltern klebten in langer Reihe mit | |
den Gesichtern zwischen den Zaunstäben und verfolgten die angenehm knappe | |
Feierlichkeit von der Straße aus. Seitdem dürfen keine Eltern mehr aufs | |
Schulgelände, die I-Dötzchen tapern maskiert und allein in ihre | |
Klassenräume, und eigentlich ist das überhaupt kein Problem. Für die | |
Kinder. | |
Wir frönen derweil neuen Hobbys, für die wir erst seit Corona überhaupt | |
Zeit haben: Kiezaktivismus, Realness. [1][Die Parkläufer im Görli geben | |
Baumbadsäcke aus], so viele man wünscht. Die Nachbar*innen lassen sich | |
motivieren, und zusammen binden wir den Kirschblüten-Hanami-Wunderbäumen | |
entlang der Wiener Straße und allen Linden, die es laut „Gieß den | |
Kiez“-Website brauchen können, Wassersäcke um. | |
## Dealer kommen und gucken | |
Dann holen wir das Standrohr, das die temporäre Spielstraße auf der Forster | |
Straße vom Bezirk gestellt bekommen hat, samt Hydranten-Kuhfuß und | |
Feuerwehrschläuchen aus dem angesagten Café, in dem es lagert. Fühlen uns | |
gut, weil wir nicht vor einem Herzchen-Flat-White sitzen wie das | |
International Hipsterdom, sondern Säcke füllen mit druckvollem Strahl. | |
Dealer kommen und gucken. Türkisch sprechende Familien kommen und gucken. | |
Deutsch sprechende Familien in E-Lastenrädern halten und gucken. Nur die | |
amerikanisch sprechenden jungen Menschen mit den Krepphaaren und | |
Kreppsohlen gucken nicht mal. Die reden nur laut und gehen vorbei. | |
Wir schuften zweieinhalb Stunden lang, ziehen die schweren Schläuche von | |
Baum zu Baum, durch Hundekot, Staub, Müll und versengtes Gras, werden | |
dreckig und nass, füllen 35 Säcke und fühlen uns heldenhaft. | |
Schon zwei Tage später springen wir als Kiezlots*innen ein auf der | |
temporären Spielstraße, eingerichtet zur Außenraumbetätigung coronabeengter | |
Kinder. An 19 Stellen in Xhain dürfen sie seit Mai einmal pro Woche wie | |
Pilze aus dem Boden schießen, jede Spielstraße vom Bezirk ausgestattet mit | |
gelben Warnwesten, Absperrungen, behördlicher Genehmigung und einem | |
beherzten „Macht mal!“. | |
## Freiwilligen-Notstand | |
Nach fast vier Monaten und Ferienflaute machen aber jetzt nicht mehr so | |
viele mit, es herrscht Freiwilligen-Notstand. Also wir. Rein in die Westen, | |
Durchfahrt verboten aufgestellt, das Standrohr wieder auf einen Hydranten | |
gepfropft, kreischende Kinder gettomäßig abgeduscht, mosernde Autofahrer in | |
die Schranken gewiesen. | |
Damit ich es mir mittelfristig leisten kann, so viel Gutes zu tun, bewerbe | |
ich mich für die Pilotstudie zum [2][bedingungslosen Grundeinkommen]. Die | |
ausgewählten Studienteilnehmer*innen sollen für drei Jahre monatlich 1.200 | |
Euro Grundeinkommen beziehen und nebenher wissenschaftlich evaluiert | |
werden. Das Paradies. Bücher könnten geschrieben, ökologischer Landbau auf | |
verödeten Spielplätzen betrieben, Kinder im Worst Case heimbeschult, | |
Handwerke erlernt, Läden eröffnet werden. Ich sehe mich als | |
Premium-Kandidatin und habe richtig gute Laune. | |
Einen Tag später steht im Internet, dass sich 1 Million Menschen beworben | |
haben, innerhalb von 70 Stunden. Huch. | |
Kirsten Riesselmann | |
26 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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