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# taz.de -- Herbstvorboten im Coronajahr: Das Spiel ist aus
> Aufregend war schon lange nichts mehr. Alles plätschert so dahin, wie der
> Regen ans Fenster. Und jetzt kommt auch noch der Herbst.
Bild: Herbst!
„Herbstsaison. Die große Depression. Herbst. Das Spiel ist aus. Jetzt wird
es ernst. Wer jetzt alleine bleibt, bleibt es lange und kommt unter
Umständen nicht durch.“ Die Zeilen habe ich aus dem Magazin, das mir mein
Bürokollege vor dem Altpapier gerettet hat. Das Magazin heißt Sounds, die
Ausgabe stammt aus dem Jahr 1982: 12/1982, 3,50 DM. Sie stehen dort auf
Seite 28, so beginnt ein Text [1][des geschätzten Kollegen Detlef
Diederichsen], in dem er herrlich mäandernd über den Herbst 1982 berichtet,
den politischen, in dem Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, wie den
musikalischen (samt echter Konzerte mit Publikum!), der den Autor
allerdings eher kalt ließ.
Zuvor aber beschreibt er die saisonale Auslagengestaltung eines Buchladens
in seiner Nachbarschaft. Der gesamte Schaukasten sei dort mit Herbstlaub
ausgefüllt worden, um Stimmung für den Herbstlyriker schlechthin, Rilke
natürlich, und unser aller Herbstgefühl zu machen. „Wirklich großartig
finde ich“, so schreibt Diederichsen, „daß man den Herbst hier wirklich als
Problem vorstellt, das den arbeitenden Menschen ebenso stark zu schaffen
macht wie Lohnpause und Bundesliga.“
Diederichsen konnte 1982 freilich nicht ahnen, wie problematisch sich im
Jahr 2020 schon die Vorboten des Herbstes, die quasi ohne Übergang auf das
Bangkok-Wetter der vergangenen Wochen über Berlin hereinbrachen, anfühlen
würden.
In diesem Vorherbst umschlingt einen die Melancholie wie ein abgetragener
Trenchcoat. Die Fallzahlen steigen wieder. Für all die schönen
Outdooraktivitäten, mit denen man sich in der heißen Zeit von der Pandemie
ablenkte, scheinen die Tage gezählt. Draußen geht bald wohl nicht mehr viel
und Drinnen ist ein Problem. Dieser Herbst ist wirklich ein Problem.
Als wir vor ein paar Wochen mit dem Aufräumen unseres Gemeinschaftsbüros
begannen und dabei jene Sounds fanden, waren wir eigentlich schon reichlich
spät dran. Nicht nur, weil die Zeitschriften- und Bücherstapel sich dort
schon etwas länger vom Staub berieseln lassen. Nein, [2][alle außer uns
haben das Thema Entrümplung 2020 ja schon längst durch, haben das schon im
Frühling, während des Lockdowns erledigt]. So akribisch sogar, dass
Wertstoffhöfe im ganzen Land wegen Überfüllung schließen mussten.
Was früher alles aufregend war
Ziemlich voll wurde bei uns zumindest die Papiermülltonne hinter dem Haus.
Dabei habe ich nicht nur die Sounds, sondern noch ein paar Hefte mehr vor
dem Recycling bewahrt. Unverständnis erntete ich beispielsweise, weil ich
mich nicht von ein paar Modemagazinen aus den Jahren 2011 bis 2015 trennen
wollte.
Dicke Wälzer, zugegeben, aber wenn ich sie im Regal stehen sehe, weiß ich
noch genau, wie aufregend es damals war, als ich eine der Redakteur*innen
kennenlernte. Bei meinem ersten Besuch auf der [3][Berliner Fashion Week]
war das, die ich da ebenfalls noch total aufregend fand. Richtig aufregend
war es dann, als mir jene Redakteurin ein paar Monate später einen
Textauftrag für ebendieses Magazin gab. Gerade kommt mir das noch viel
länger her vor, als es ist, wie so vieles.
Überhaupt, all das Aufregende: „Diese aufregenden Veranstaltungen, bei
denen wir früher immer waren, wo finden die jetzt eigentlich statt?“, hat
J. an einem der letzten halbwegs warmen Abende gefragt, als wir gerade in
irgendeinem Park resigniert auf den Beginn irgendeiner Performance
warteten. Aufregend in diesem Sinne ist tatsächlich schon lange nichts mehr
gewesen (auch jene Performance nicht). Alles plätschert so dahin wie der
Spätsommerregen ans Fenster. Immerhin.
J., die aus Kanada stammt, erzählte dann nämlich noch, dass ihre
Freund*innen aus Montreal sie mittlerweile darum bäten, nichts mehr von
ihrem Berliner Post-Lockdown-Leben zu berichten. Viel zu aufregend. Kaum
auszuhalten, erst recht zu dieser Jahreszeit.
2 Sep 2020
## LINKS
[1] /Erinnerung-an-Komponist-Lord-Kitchener/!5686694
[2] /Julia-Luedemann-ueber-Aufraeum-Euphorie/!5690216
[3] /Fashion-Week-verlaesst-Berlin/!5689349
## AUTOREN
Beate Scheder
## TAGS
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