# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Belarus: Bobruisk hat keine Angst mehr | |
> Auch in der Provinz machen die Menschen ihrem Unmut gegen Staatschef | |
> Lukaschenko Luft – und unterstützen offen seine Gegenkandidatin. | |
Bild: Ihre Anhänger*innen feiern die Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tikh… | |
BOBRUISK taz | Auf einem kleinen Platz vor der Banja, direkt neben dem | |
Markt, stehen sie, ein Dutzend alte Frauen mit gebeugten Rücken. Jeden Tag | |
kommen sie in das Zentrum der belarussischen Provinzstadt Bobruisk, um sich | |
mit dem Verkauf selbst gesammelter Beeren ihre schmale Rente aufzubessern. | |
Seit Kurzem ist dieses Örtchen mit 220.000 Einwohnern zu einem kleinen Hyde | |
Park geworden. Hier treffen die Babuschkas mit Oppositionelle zusammen, die | |
im kleinen Kreis mit den Menschen sprechen. Und die Babuschkas diskutieren | |
mit, wenn es um Politik geht. „Seht zu, dass die Kakerlake endlich | |
verschwindet“, ruft eine ältere Dame mit einem kleinen Korb in der Hand | |
einem jungen Mann zu, der in ein Gespräch vertieft ist. Jeder weiß, dass | |
mit „Kakerlake“ der [1][amtierende Präsident Alexander Lukaschenko] gemeint | |
ist. | |
Noch Anfang des Jahres hätte niemand im verschlafenen Bobruisk gedacht, | |
dass dieses Jahr etwas Besonderes passieren würde. Zwar wussten alle, dass | |
Präsidentschaftswahlen anstehen und Lukaschenko, der seit 1994 an der Macht | |
ist, wieder seinen überwältigenden Sieg verkünden würde. | |
Doch dann [2][kam Corona und erreichte auch Belarus]. Die Pandemie | |
verbreitet sich schnell. Viele fahren tagsüber oder an den Wochentagen in | |
die Hauptstadt Minsk, also dorthin, wo die ersten Infektionen dokumentiert | |
worden sind. Dann bringen sie das Virus in ihren Heimatort zurück. | |
## Dieses Jahr ist vieles anders | |
Lange haben die Behörden die Gefahr verschwiegen und so getan, also sei | |
nichts passiert. Auf dem Höhepunkt der Pandemie hat Lukaschenko sogar einen | |
freiwilligen Arbeitseinsatz am Samstag und [3][eine Siegesparade | |
angeordnet]. Das hat auch diejenigen Belarussen in Rage gebracht, die sich | |
ansonsten mit allem abfinden. Denn es geht um das nackte Überleben, das | |
Lukaschenko wenig kümmert. | |
Es tut sich etwas. Auch in Bobruisk. Die Atmosphäre ist geradezu | |
fantastisch. Bei den letzten Wahlen waren die Menschen noch verängstigt. | |
Alternative Kandidaten konnten sich schon freuen, wenn ihnen jemand an | |
einem Straßenstand ein freundliches „Ja, Sie müssen verstehen“ ins Ohr | |
raunte, bevor er wieder in der Menge untertauchte. | |
Doch jetzt gibt es Alternativen, [4][wie Swetlana Tichanowskaja]. Sie tritt | |
gegen Lukaschenko anstelle ihres Mannes, Sergej Tichanowski an, der nicht | |
zugelassen wurde und jetzt im Gefängnis sitzt. | |
Tichanowskaja war mehrmals in Bobruisk. Das erste Mal regnete es in | |
Strömen. Doch die Menschen stellten sich geduldig in lange Schlangen, um | |
ihre Unterschrift für die Kandidatin zu leisten. Diese Schlangen sind zu | |
einer Form der Meinungsäußerung geworden. Denn an einem anderen Tag hatten | |
viele Menschen in Bobruisk eine Schlange gebildet, um gegen die | |
Verhaftungen derer zu protestieren, die für Veränderungen kämpfen. Vielen | |
war ein junges Pärchen aufgefallen, das in einem Polizeibus saß und nicht | |
zu seinem Kind nach Hause gelassen wurde. | |
Und als am Abend die Festgenommenen immer noch nicht freigekommen waren, | |
hatte sich erneut eine Schlange gebildet. Und wieder wurden Demonstrierende | |
willkürlich fest genommen. Eine Frau, die sich noch rechtzeitig mit einem | |
Sprung in einen Bus vor der Festnahme retten konnte, berichtete später von | |
einem Fahrgast, der den Busfahrer angebrüllt hatte, er solle die Frau noch | |
hineinlassen. Er sei ein Polizist gewesen. | |
## Tichanowskaja ist Identifikationsfigur | |
Den Festnahmen folgten Prozesse. Der Vorwurf lautete auf Teilnahme an einer | |
nicht genehmigten Veranstaltung. Bewohner, die der Verhandlung beigewohnt | |
hatten, waren danach fassungslos. Sonderpolizei in den Gerichtssälen hatte | |
alle kurzerhand vor die Tür gesetzt, die nur kurz „Schande“ in Richtung der | |
Richter geraunt hatten. | |
Lukaschenko hatte wohl das Kalkül, dass er mit Grausamkeit die | |
Proteststimmungen abkühlen werde. Doch das Gegenteil ist eingetreten, den | |
Belarussen ist der Geduldsfaden gerissen. Mit der Kandidatin Swetlana | |
Tichanowskaja identifizieren sich viele. | |
Denn die Menschen sehen, dass sie genau das durchmacht, was andere auch | |
durchgemacht haben. So ist ein ihr nahestehender Mensch verhaftet worden | |
und man hat ihr gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen. Und trotz all dem hat | |
sie die Kraft, zu kämpfen. Diese Frau sorgt für Aufbruchstimmung. | |
Als Tichanowskaja zum zweiten Mal in Bobruisk war, reiste sie schon als | |
registrierte Kandidatin an. Zu dieser Veranstaltung waren über 8.000 | |
Besucher gekommen. So etwas hatte Bobruisk noch nie gesehen. Dass man sich | |
in einem Stadion etwas außerhalb treffen musste, tat der Sache keinen | |
Abbruch. Gegen Ende der Veranstaltung war es dunkel geworden, Licht gab es | |
keins. Auf einmal drückten alle auf ihren Mobiltelefonen die | |
Taschenlampenfunktion und es wurde ganz hell. | |
## Eingeschränkte Wahlbeobachtung | |
Auch wenn der Höhepunkt der Wahlen am Sonntag ist, kann man auch jetzt | |
schon in den Wahllokalen abstimmen. Und viele Menschen, die Angst haben, | |
ihre Stimme könnte falsch oder nicht gezählt werden, betätigen sich als | |
unabhängige Wahlhelfer. Einfach ist das nicht, hat doch die Zentrale | |
Wahlkommission, angeblich wegen des Coronavirus, verfügt, dass sich nur | |
drei Wahlbeobachter gleichzeitig in einem Wahllokal aufhalten dürfen. Und | |
wer es trotzdem in ein Wahlbüro schafft, muss fürchten, von der Polizei vor | |
die Tür gesetzt zu werden. | |
Auch der Fall einer jungen Frau in Bobruisk hat viele Menschen zur Weißglut | |
gebracht. Die junge Mutter hatte sich von der Wahlkommission nicht | |
hinauswerfen lassen. Daraufhin ließ der Vorsitzende der Kommission die | |
Polizei kommen. Die nahmen die Frau mit. Auf der Wache musste sie sich | |
entkleiden und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. | |
Am 9. August werden nicht nur in Minsk, sondern [5][auch in anderen Städten | |
viele auf die Straße gehen]. Es werden junge Menschen sein, Rentner, | |
Studierende und Arbeiter. | |
„Weißt du“, sagt die Babuschka auf dem Platz neben der Banja und sieht auf | |
ihre runzeligen, schwieligen Hände. „Mein Leben habe ich gelebt. Ich | |
möchte, dass meine Enkel ein anderes Leben haben.“ | |
Aus dem Russischen von Bernhard Clasen | |
8 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Alexandrina Glagoljewa | |
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