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# taz.de -- Die Wahrheit: Kosmos der rollenden Schätze
> Die merkwürdigsten Museen der Welt (5). Heute: Das Fahrzeugmuseum in
> Marxzell im baden-württembergischen Albtal.
Bild: Herr des geordneten Chaos: Wolfgang Reichert
Liegt es am Wespenstich direkt an meiner Halsschlagader, den ich mir auf
der Fahrt eingefangen habe? Warum habe ich plötzlich keine Angst mehr vor
Hühnern? Und wieso stehe ich wie in Trance vor einer antik aussehenden
Rolle Stacheldraht? Fragen, die niemals beantwortet werden. Aber eines ist
sicher: Sobald man nur einen Zeh in das Fahrzeugmuseum im badischen
Marxzell gesetzt hat, ist man herrlich verloren in einer überquellenden
Welt von Üppigkeit, Freude und verdrängten Erinnerungen.
Von außen wirkt das Museum wie ein kleiner, harmloser Trödelladen, an dem
man lächelnd vorbeifährt. Von innen ist es ein gigantisches Universum aus
Unordnung und fast vergessenen Kinderträumen – und Albträumen. Über drei
Stockwerke erstreckt sich das Sammelsurium, in dem man hemmungslos
herumtollen kann, fürchtet man sich nicht vor lebensechten
Schaufensterpuppen mit irren Gesichtsausdrücken in zerfledderter Kleidung,
Spinnen oder bedrohlichen Stoffclowns mit schrägem Grinsen, die in allen
Ecken und Winkeln dieser absonderlichen Welt lauern.
Eine Katze stromert maunzend über einen mit seltsamen Dingen bevölkerten
Dachboden, den man bisher noch gar nicht bemerkt hat, und man würde sich
nicht arg wundern, wenn plötzlich eine verrostete ägyptische
Pharaonen-Mumie mit erhabener Grußgeste und begleitet von einer
Blechbüchsen-Armee vorbeizöge.
Wolfgang Reichert ist ein freundlicher Mann mit lachenden Augen. Der
73-Jährige herrscht über dieses bizarre Reich, das sich Kult-Regisseur
Wenzel Storch nicht wirrer hätte ausdenken können. Reicherts Vater begann
1960 damit, Motorräder zu sammeln. Mittlerweile tummeln sich über 200 Autos
– das älteste ein Franzose von 1898 –, mehr als 300 Mopeds, unzählige
Emaille-Schilder, Teddybären, ölgekühlte Zündspulen, Klaviere, Glühbirnen,
doppelköpfige Kälber mit acht Beinen, Nähmaschinen, Hubschrauber,
Röhrenradios, Panzer, Morsestationen, Musikboxen, Dampfmaschinen und noch
viel mehr in den Hallen. Und Geschichten weiß Reichert zu erzählen, zu
jedem einzelnen seiner Objekte, die er in und auswendig kennt.
## Wahn auf Rädern
Er und sein Bruder Hubert, die heutigen Inhaber des Museums, wuchsen
zwischen Autos, Motorrädern und Ölkannen auf, sie spielten mit
Schraubschlüsseln und Wagenhebern und wurden so von Kindesbeinen an in den
Kosmos ihrer Ahnen gesogen, die vor über 50 Jahren begannen, zunächst nur
Fahrzeuge, später aber alles anzuhäufen, an dem sie nicht vorbeigehen
konnten. Diesen Wahn haben Wolfgang und Hubert geerbt. Und hat ein Objekt
mal erst die Liebe auf den ersten Blick bei den beiden erweckt, gibt es
keine Hürde, die dessen sofortigen Transport ins Museum verhindern könnte.
Ein famoser „Heinkel Kabinenroller“ ohne Räder? Kein Problem für Wolfgang!
Er ließ ihn kurzerhand auf das Dach seines Ford Taunus 17M hieven, bohrte
ein paar Löcher und verschraubte beide Gefährte. Mit diesem Doppeldecker
brachte er seine neue Errungenschaft sicher nach Marxzell. Und das ist nur
eine der abenteuerlichen Storys, die hinter den oft seltsamen Objekten
stecken, die die Reicherts so horten.
Manchmal weiß man nicht genau, ob das, was man gerade interessiert
betrachtet, zur Ausstellung gehört, ob es noch im Gebrauch ist oder
schlichtweg auf den 4.000 Quadratmetern vergessen wurde. Was soll die alte
Bierdose auf der Motorhaube des noch älteren Oldtimers? Kann man mit dem
grünen Wählscheiben-Telefon noch irgendwo anrufen?
## Pelz für Puppe
Zu einer der Pelzjacken, derer es hier nicht wenige gibt, erzählt Wolfgang
launig: „Da kam mal ein Herr zu uns, dessen Frau gestorben war. Ihren Pelz
wollte er nicht behalten, aber wegschmeißen wollte er ihn auch nicht. Daher
habe ich ihn dieser Puppe angezogen.“
Hurra! Ein morbider Hauch weht mich an, und heimlich greife ich in die
steinzeitlich anmutenden Felltaschen, doch leider finde ich weder goldene
Amulette noch vergilbte Fotografien – die sind schon allesamt in den
zahllosen Vitrinen gelandet, von denen man nicht weiß, welche man zuerst
betrachten soll.
Eine ausgeprägte Hühnerphobie sollte man nicht haben, wenn man den
Parkplatz des Museums ansteuert. Die Federviecher sind hier mannigfach
vertreten und betrachten gackernd ein altes Flugzeug, olle
Eisenbahnwaggons, in denen sich schon reichhaltige Botanik breitgemacht hat
und noch viel mehr schönes Zeug, das es bisher noch nicht in die Innenräume
geschafft hat. Einfach spannend.
Wenn jeder Wespenstich direkt an der Halsschlagader ein derart
faszinierendes Erlebnis nach sich zöge, hätte ich gern mehr davon.
19 Aug 2020
## AUTOREN
Corinna Stegemann
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