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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Schockfrisuren kommen!
> Heute öffnen die Friseure wieder. Noch in der Nacht wurden die Geschäfte
> belagert von seltsam verwilderten Zottelwesen.
Bild: Kaum war die Scheren-Prohibition aufgehoben, suchten die Mähnenwesen das…
In der Nacht zum 4. Mai schlug der Föhn überraschend um. Der Frühling war
für Friseurmeister Kurt Wiederkehr bisher ungewöhnlich hart gewesen.
Täglich hatte er mit ansehen müssen, wie seine Ziselierscheren, Brenneisen
und Lockenstäbe traurig in ihren Halterungen dämmerten, in den Kesseln
faulte lustlos die Desoxyribonukleinsäure vor sich hin und selbst Shampoos
und Kurspülungen begannen zu schimmeln. Wo in glücklicheren Zeiten noch
Arpad, der anmutige Azubi, munter ausgefegt hatte, da lagen jetzt nur noch
Reste von dicken blauschwarzen Haarsträhnen herum, die Arpad bei seiner
fluchtartigen Flucht vom Kopf gefallen waren.
Während er seinen Schlafanzug auszog, blickte Kurt wie zufällig durch die
gläserne Tür seines Friseurladens nach draußen. Er rieb sich die Augen und
musste noch einmal hinsehen: Da lauerten im Halbdunkel des anbrechenden
Morgens an die zwei Dutzend … – ja, was denn eigentlich? Kurt musste an die
Morlocks denken, die er mal in einem Film gesehen hatte. Die wutverzerrten
Gesichter, die fiebrig glühenden Augen und der entsetzliche Wildwuchs, den
jedes dieser Wesen auf dem Kopf trug – ja, das waren Morlocks, keine Frage.
Und es wurden immer mehr. Und sie kamen näher … Mit zitternden Fingern
schaltete er das Radio ein.
„Aus dem ganzen Land gehen stündlich Berichte über seltsame Zottelwesen
ein, die sich in riesigen Mengen vor Frisiersalons und Barbierstuben
zusammenscharen. Diese Rotten verursachen Verkehrsstörungen und reißen
sogar vereinzelt Politessen die Hütchen vom Kopf. Das Innenministerium ließ
verlauten, dass es sich bei den Aggressoren um Morlocks handele.
Wissenschaftler der Universität Tübingen halten es jedoch für möglich, dass
es sich um Frauen handeln könne, welche die Gier nach einem Friseurtermin
hinaus auf die Straße getrieben hat.“
Da fiel es Kurt wie Schuppen von den Augen: Natürlich! Die
Scheren-Prohibition war aufgehoben. Er hatte heute nach langer Zeit seinen
Salon wieder eröffnen wollen. Er blickte abermals zur Tür – und seine Haare
sträubten sich und wurden auf einen Schlag schlohweiß: Nun lauerten schon
an die fünfzig Morlocks vor seinem Laden, einige hatten sich schon fast bis
an den Eingang gewagt und reckten ihre Arme nach der Klinke.
## Männlich auf der Chaiselongue
Das Telefon schrillte. Ohne den Blick von der Tür zu lassen, nahm Kurt ab.
„Täärmiiin! Täääärrrrmiiiin!!!!!“, grunzte es aus der Muschel. Als h�…
in eine glühende Trockenhaube gegriffen, warf Kurt das Telefon ebenso
entsetzt wie elegant und dennoch männlich auf die Chaiselongue, auf der
sich in besseren Zeiten zuweilen Damen, die etwas zu früh zum Termin
erschienen waren, lasziv geräkelt und vom dargebotenen Schaumwein genippt
hatten.
Es rappelte am Eingang. Der erste Morlock! Oder war es eine Frau, deren
verwilderter Haarschnitt ihr nichts Menschenähnliches ließ? Kurt war sich
nicht sicher – die erste dieser Kreaturen hatte sich mit den Händen an die
Klinke geklammert und trat mit den Füßen immer wieder heftig gegen die
Glastür. Voller Panik blickte Kurt im Salon umher. Er musste sich
verbarrikadieren, das war klar, aber womit …?
Sein Blick fiel auf den violetten Seidenschal, den Arpad ihm zum 50.
Geburtstag geschenkt hatte. Unter schier übermenschlichen Anstrengungen
verhängte er die Tür mit dem Schal. Das war geschafft. Doch sofort drängten
sich die Morlockinnen dicht an den Seitenfenstern. Durch das bebende Glas –
Gott sei Dank hielt es dem Druck noch stand – konnte Kurt viehisches
Knurren und Grollen hören. Plötzlich hatte er eine Idee: Listig, leise und
behände zog er sämtliche Gaze-Vorhänge vor den Fenstern zu. Das würde für
eine Weile halten. Erschöpft und schwitzend ließ er sich in einen der
Frisierstühle mit Massagefunktion fallen. Er schaltete das Radio wieder
ein.
## Here come the morlocks from England...
„Die Morlockfrauenrotten haben in allen Bundesländern Unruhe
hervorgerufen“, verkündete ein Reporter. „In Berlin gab es heute Morgen um
zehn Uhr nicht einen einzigen Friseurladen, der nicht von Massen dieser
beängstigenden Kreaturen befallen war. Sie belagern Dachfirste,
Fenstersimse, Gullis und Schornsteine. Sie scheinen zu allem bereit, um ins
Innere der Salons vorzudringen. Im ganzen Land sind es Abermillionen, die
alle nur dieses eine Ziel zu verfolgen scheinen.“
Die Stimme des Sprechers klang ängstlich. Mit einem Mal vernahm Kurt ein
Geräusch. Er erstarrte. Konnte es sein, dass er am Vorabend vergessen
hatte, die Hintertür abzu…? „Sie sind drin!“, entfuhr es ihm, „O mein …
sie sind schon im Kosmetiklager!“ In blinder Angst stürmte er los, um die
Tür zwischen Lager und Schneideraum zu verschließen – doch es war zu spät.
Wie eine vom Sturm aufgepeitschte wütende Welle spülte es die Kreaturen
herein, kreischend und fauchend kämpften sie um Kurts Terminkalender, sie
rissen sich jaulend und heulend gegenseitig aus den Behandlungsstühlen, mit
Spiegeln, Rundbürsten, Rasiermessern und Lockenwicklern gingen sie
aufeinander los und rissen an Kurt!
Von allen Seiten wurde Friseurmeister Kurt Wiederkehr in alle Richtungen
gezogen und gezerrt, scharfe Krallen bohrten sich in sein Fleisch, das sich
hier und da schon von den Knochen löste. Während er langsam das Bewusstsein
verlor, hörte er wie aus der Ferne den Radioreporter hysterisch etwas von
Tumulten, Menschen in Panik und bürgerkriegsähnlichen Zuständen schreien.
Dann wurde es dunkel um Kurt. Für immer …
4 May 2020
## AUTOREN
Corinna Stegemann
## TAGS
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