| # taz.de -- Die Wahrheit: Allein mit Nosferotz | |
| > Was geschieht wirklich in der häuslichen Abgeschiedenheit der Quarantäne? | |
| > Und wer begegnet einem dort? | |
| Als ich Nosferotz zum ersten Mal in meinem Kabäuschen begegnete, sah er | |
| recht jämmerlich aus. Seine Augen waren rot unterlaufen, seine Nase triefte | |
| und seine Zähne hätten dringend mal zum Arzt gemusst. Trotzdem nahm ich ihn | |
| mit aus der Abstellkammer in die Küche, denn das Mitleid hatte mich am | |
| Kragen gepackt. | |
| Kaum dort angekommen, führte sich Nosferotz auf wie der letzte Asi. Als | |
| erstes zog er die Vorhänge zu. Außenwelt könne er nicht ertragen, sagte er. | |
| Dann nahm er mir meine Schlüssel ab, um sicherzugehen, dass auch ich nicht | |
| mehr hinaus konnte. Er sah sich in meiner Wohnung um und beschloss, ein | |
| Weilchen hierbleiben zu wollen. Dann forderte er Bier! | |
| Gott sei Dank hatte ich noch ein paar Flaschen, aber die waren bald weg. | |
| Nosferatz soff wie ein Loch. Als das Bier alle war, fingen die Probleme an. | |
| Nosferotz wollte sich nicht mit Tee zufrieden geben. Unwirsch trank er auch | |
| noch die letzten Vorräte an Portwein, Champagner und Kräuterlikör. Dann | |
| hatte er Hunger. Ich kochte ihm Kartoffeln mit Gratin. Mies gelaunt schlang | |
| er alles in sich hinein. Die Nudeln konnte ich nicht mal kochen, Nosferotz | |
| riss sie mir aus den Händen und verschlang sie mit der Packung. | |
| ## Spuren auf dem Spiegel | |
| Dann wollte Nosferotz fernsehen. Ich hielt ihm zögerlich die Fernsehzeitung | |
| hin, doch Nosferotz wurde wütend. Ihm einen solchen Mist anzubieten, wäre | |
| ja eine Unverschämtheit, tobte er, und seine Augen wurden noch | |
| blutunterlaufener, seine Nase triefte wie ein Wasserfall und seine Zähne | |
| wurden fleckig. Außerdem krümmte er plötzlich seinen Rücken, seine | |
| Fingernägel schossen wie Pfeile aus seinen Händen heraus, und ich dachte | |
| nur: Gott sei Dank hat er Stiefel an! Denn seine nackten Füße wollte ich | |
| gerade wahrlich nicht sehen. | |
| Dann musste er auf die Toilette. Er war noch nicht ganz im Badezimmer, als | |
| ich auch schon ein gigantisches Fluchen hörte. Irgendwas war offensichtlich | |
| mit meinem Spiegel nicht in Ordnung, da wären Zahnpastaspuren drauf, rief | |
| er aufgebracht, so etwas könne er gar nicht leiden. | |
| Dann war eine Weile lang Ruhe. Ich wurde schon fast nervös. Seit ich | |
| Nosferotz aufgenommen hatte, war es noch keine Sekunde still um ihn | |
| geworden. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich wusste es | |
| nicht. | |
| ## Verschlüsselte Botschaften | |
| Ich ließ meine Gedanken in Wellenlinien zurückschweifen. Was hatte ich | |
| eigentlich in dem eingangs erwähnten Kabäuschen, jener Kammer gesucht? | |
| Langsam stellte sich eine Erinnerung ein: Vor vielen Jahren hatte mir ein | |
| uralter Kaufmann auf einem Basar in Marrakesch hinter einem versteckten | |
| Vorhang einen Zettel zugesteckt, auf dem eine geheime Botschaft verzeichnet | |
| war. Aufgeregt kramte ich in meiner Jeans, die ich seit Marrakesch nicht | |
| mehr gewaschen hatte – und tatsächlich! Der Zettel war noch da! Aber die | |
| Notiz war in Hieroglyphen geschrieben, ich konnte die Botschaft nicht | |
| entziffern. | |
| Schnell warf ich das Internet an. Nosferotz war noch im Bad, er hätte mir | |
| sicher nicht erlaubt, eine Suchmaschine zu benutzen. Aber hinter seinem | |
| gekrümmten Rücken kontaktierte ich schließlich per Telefon den führenden | |
| Experten für verschlüsselte Botschaften. Es dauerte zehn lange und | |
| unendlich erscheinende Sekunden, bis Professor Doktor Johannek den Anruf | |
| entgegennahm. Seine sonore Stimme beeindruckte mich. Ich konnte durch den | |
| Hörer fühlen, wie er sein Kinn walkte und seine Stirn in viele Falten | |
| legte. Bei ihm war ich richtig, das merkte ich sofort. | |
| Ich beschrieb ihm die Hieroglyphen auf dem Zettel und merkte, wie dem | |
| gestandenen Wissenschaftler der Atem stockte. Dann hörte ich nur noch ein | |
| gequältes Stöhnen und wusste sofort, dass der Professor einem Herzinfarkt | |
| erlegen war. Mit seinem letzten Hauch flüsterte er: „Ein Kabäuschen, eine | |
| Kammer.“ Ich fühlte mich schuldig, aber durfte keine Zeit verlieren, die | |
| Nachricht war zu brisant. | |
| ## Wie ein krankes Huhn | |
| Nosferotz war mittlerweile aus dem Badezimmer zurückgekehrt und beschwerte | |
| sich darüber, dass das Wasser aus dem Wasserhahn floss, er könne fließende | |
| Gewässer nicht ausstehen. Ich verkniff mir eine freche Antwort, denn | |
| Nosferotz blickte sehr grimmig drein. | |
| Nun wollte er Radio hören, doch alle Sender hatten ihren Betrieb | |
| eingestellt. Ich fürchtete Nosferotz' Zorn und begann zu singen, was ihn | |
| noch mehr auf die Palme brachte. Er fing an zu spucken und zu fauchen und | |
| gebärdete sich wie ein krankes Huhn. Dann begann er, mich ununterbrochen | |
| anzustarren und bösartig zu kichern, so als wüsste er etwas, was ich nicht | |
| wusste. | |
| Jetzt hatte ich die Nase gestrichen voll und forderte ihn zitternd und | |
| bebend auf, meine Wohnung zu verlassen und wieder in sein Kabäuschen zu | |
| verschwinden. Er trollte sich, aber nicht ohne vorher meine gesamten | |
| Erbsensuppendosenvorräte unter lautem Geschrei aus dem Wohnzimmerfenster zu | |
| werfen. Noch Jahre später würden sich die Nachbarn über mich und meinen | |
| seltsamen Besucher die Mäuler zerreißen, das war mal sicher. Mir war das | |
| schnuppe, obwohl ich mich langsam fragte, ob ich jemals wieder unbeschwert | |
| einen Supermarkt betreten könnte. | |
| Heute, Tage später, wache ich noch manchmal tief in der Nacht auf und denke | |
| an den entsetzlichen Nosferotz. Ich bin so froh, dass er endlich fort ist, | |
| doch ich hasse mich dafür, dass ich ihm nicht mindestens das Nasenbein | |
| gebrochen habe. Wirklich eine vertane Chance! | |
| 20 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Corinna Stegemann | |
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