| # taz.de -- Die Wahrheit: Brisanter Papierschinken | |
| > Ein Bücherfund in der Straßenbahn birgt die überraschend umfangreichen | |
| > und intimen Daten wildfremder Personen. Dann geschah das Unfassbare. | |
| Bild: Auch anderswo herumliegende Sudelbücher warten mit kuriosem Inhalt auf | |
| Mein Ziel war es von Anfang an, den Mann kennenzulernen, der dieses | |
| hochinteressante Adressbüchlein verfasst hatte, welches ich in der | |
| Straßenbahn zwischen Adolf-Ehrmann-Bad und Otto-Junker-Straße unter zwei | |
| Sitzpolstern gefunden hatte. Es ist nicht so, dass ich unentwegt unter | |
| Sitzpolstern herumkrame, aber manchmal halt doch. | |
| Das Büchlein erweckte sofort mein Interesse: Es war offensichtlich nicht | |
| mehr brandneu, denn seine Ecken waren angestoßen. Dennoch waren alle meine | |
| Sinne plötzlich wie elektrisiert. Meine Hände zitterten, als ich es wagte, | |
| das Büchlein aufzuschlagen. Dann stockte mir der Atem: Es enthielt Hunderte | |
| von Telefonnummern und die dazugehörigen Adressen! Was für ein brisantes | |
| Material mir da in den Schoß gefallen war. Ich fiel zunächst in einen | |
| langen und erholsamen Schlaf, in der Hoffnung, meine Träume würden mir | |
| zeigen, wie ich mit dieser Verantwortung umzugehen hätte. Ich träumte aber | |
| nur von einer schwarzen Spinne, die in einem Holzscheit gefangen gehalten | |
| wurde. | |
| Wieder erwacht, dachte ich über meine Situation nach. Als das auch nichts | |
| brachte, sah ich mir das Büchlein, das eigentlich ein gewaltig schwerer, | |
| gelber Papierschinken war, genauer an. Wie ich da abermals erschrak! | |
| „Fliesen-Ehrlich“ sprang es mir ins Gesicht und ich wusste sofort, dass ich | |
| nie wieder mein Badezimmer würde betreten können, weil ich nicht wusste, | |
| aus welcher Manufaktur meine Fliesen stammen. Kommen sie aus ehrlichem | |
| Handwerk oder sind sie ein Produkt von liederlichem Halbwelt-Handel? | |
| Aber es ging noch schrecklich weiter: „Abed, Pour, Paulus & Partner“ stand | |
| in diesem seltsamen Adressbüchlein. Ich musste mich ab-, aber dann doch | |
| sofort wieder hinwenden: Ob die Antiquitätenhändlerin Anita Wils wusste, | |
| dass sie unter „Antiquitätenhandel Anita Wils“ in einem geheimen Adressbuch | |
| zu finden war? Und zwar unter der Adresse Hagenberger Straße 58 in | |
| Düsseldorf. | |
| Das wurde mir plötzlich alles viel zu intim und ich konnte einfach nicht | |
| mehr weiterlesen. Aber wie mich doch die Neugier plagte … | |
| Mich beschlich das Gefühl, jeden Einzelnen, der in diesem Buch aufgeführt | |
| war, persönlich besuchen zu müssen. Ohne Voranmeldung. Ich wollte einfach | |
| von hinten anfangen und zwar mit „Z-Event und Catering GmbH“ – na, die | |
| würden sich freuen, wenn ich dort einfach so hereinschneite … | |
| ## Beinbruch im Treppenhaus | |
| Doch noch bevor ich aufbrach, stöberte ich etwas weiter im Büchlein herum, | |
| und es war sonderbar: Michling, Ralf, Dr. med. vet., der für Kleintiere und | |
| Pferde zuständig ist, tummelte sich ausgelassen zwischen den Buchstaben Q | |
| und Y. Und auch Eberle & Peck, die sich in Waiblingen um Markisen kümmern, | |
| hatten sich im Alphabet nach hinten gedrängelt. So langsam fesselte mein | |
| Fund-Büchlein meinen Forscherdrang. Dann geschah das Unfassbare: Die | |
| Trollwerk Produktion GbR aus Potsdam sog meine gesamte Aufmerksamkeit auf | |
| sich, da konnte auch Bauelemente Petermann aus Kaarst (Nord) nicht mehr | |
| mithalten. | |
| Ich beschloss, spontan nach Potsdam zur Trollwerk Produktion zu fahren. | |
| Leider brach ich mir im Treppenhaus ein Bein, sodass aus dieser | |
| Unternehmung vorerst nichts wurde. | |
| Fußlahm auf dem Sofa liegend dachte ich zurück an den Tag, an dem ich das | |
| Büchlein gefunden hatte: Mein Ziel war es doch gewesen, den Mann | |
| kennenzulernen, der dieses hochinteressante Adressbüchlein verfasst hatte? | |
| Aber war es überhaupt ein Mann gewesen? Könnte es nicht sogar auch eine | |
| Frau gewesen sein? Oder ein Kind? Oder ein … Ich wagte nicht, diesen | |
| Gedanken zu Ende zu denken. Ich war wie verwirrt und konnte an nichts | |
| anderes mehr denken. Es war bei Gott die reine Hölle. Doch ich riss mich | |
| zusammen und dachte an all die Menschen da draußen. Was hätten sie an | |
| meiner Stelle getan? | |
| ## Keine Ausbildung in Münster | |
| Ich beschloss, eine Ausbildung bei der Detektei Tudor in Münster zu | |
| absolvieren. Die hatten laut Adressbuch schon seit 50 Jahren Erfahrung. | |
| Doch mit meinem gebrochenen Bein wollten sie mich nicht einstellen. | |
| Begründung: Ich wäre nicht schnell genug, um einem Dieb oder Doktor Mabuse | |
| hinterherzurennen. Noch bevor ich mich ans Diskriminierungsministerium für | |
| Behinderte in der Obereifel wenden konnte, fiel ich abermals in einen | |
| langen und erholsamen Schlaf. | |
| Als ich wieder erwachte, stand ein großer Herr in einem grauen Anzug vor | |
| mir und lächelte mich wohlwollend an. „Sie wollen also den interessanten | |
| Herrn kennenlernen, der dieses interessante Adressbuch verfasst hat?“, | |
| fragte er zwinkernd. Ich brachte keinen Ton heraus, weil ich im Traum | |
| gerade von einem Schinkenbrötchen abgebissen hatte und nicht mit vollem | |
| Mund sprechen wollte. Enttäuscht wandte sich der graue Herr ab; ich traf | |
| ihn nie wieder. Das Adressbüchlein aber war fortan verschwunden und ich | |
| hatte die ganze Geschichte im Nu vergessen. | |
| 15 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Corinna Stegemann | |
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