# taz.de -- Die Wahrheit: Und ewig wiehern die Fjorde | |
> Die Norwegen-Woche der Wahrheit: Irrungen und Wirrungen einer | |
> Großbauernfamilie. Ein wild galoppierender Heimatroman. | |
Bild: Wie gemalt: ein echtes norwegisches Fjordpferd auf einer Weide. | |
„Askjielejvor! Askjielejvor!!!“, hallte es durch die Klüfte in den | |
schroffen Bergen, als Tore verzweifelt die ausgebüxte Askjielejvor suchte. | |
Ohne die trächtige Fjord-Stute konnte sich Tore auf gar keinen Fall mehr | |
auf dem bergigen Gutshof seines Vaters Dag sehen lassen. Der Vater hatte | |
schon angekündigt, Tore bald enterben zu wollen. Und er hatte recht, befand | |
Tore. Er, Tore, war ein ungebührlicher Sohn. Der alte Dag würde ihn, Tore, | |
eher vom Hof jagen, als ihm im Schneegestöber Unterkunft zu gewähren, wenn | |
nicht auch die brave Askjielejvor endlich ihren Stall gefunden hätte … | |
Tore setzte sich unter einen schneebedeckten Felsvorsprung, dachte nach und | |
lauschte seiner Erinnerung im Kopf. Es war erst zwanzig Jahre her, als der | |
alte Dag Tore, ihn, Tore, den erstgeborenen gesetzlichen Erben, damals mit | |
Schimpf und Schande vom Hof gejagt hatte, nur weil er, Tore, mit einem | |
Mädchen aus der Stadt ein uneheliches Kind gezeugt hatte. Es war ein | |
Mädchen. | |
Tore wusste damals nicht mehr ein noch aus und begann ein Jurastudium in | |
Reykjavík, welches er mit dem Prädikat „Summa cum laude“ und allem | |
Brimborium gleich wieder abbrach, um einen Surf-Urlaub in Kalifornien | |
anzutreten. „The endless summer“, wie er jetzt sarkastisch durch seine | |
blendenden Vorderzähne höhnte. Tore stand vor einer Entscheidung, die ihm | |
nicht leichtfallen würde: „Was soll ich nur tun?“, fragte er sich um das | |
eine oder andere Mal. Er entschied sich dafür, zunächst Askjielejvor zu | |
finden und in den Stall zu bringen. | |
Ein Adler zog seine Kreise über das gigantische Gebirgsmassiv, und der | |
Schneesturm legte sich zur Ruhe. Tore wusste, dass sein Vater, der alte | |
Dag, ihm noch immer nicht verziehen hatte, dass er, Tore, seinen jüngeren | |
Bruder Ragnar bei einem Fjordpferderennen besiegt und zur Hölle geschickt | |
hatte. Er, Tore, hatte damals einen Meineid geschworen, um den Gutshof der | |
schönen und alleinstehenden Inge zu bekommen – und Inge dazu. Ragnar hatte | |
das nicht hinnehmen wollen und sich hilfesuchend an den jungen Priester | |
Askjiell gewandt. Den jedoch plagten Schuldgefühle, denn auch er hatte | |
unangemessene Empfindungen für Inge, und er konnte sich selbst nicht mehr | |
in die Augen sehen. | |
## Die trächtige Askjielejvor | |
Plötzlich zerbarst mit einem ungeheuren Krachen ein Zaun. Askjielejvor | |
hatte sich auf den Heimweg gemacht und dabei keinerlei Rücksicht auf das | |
morsche Gebälk genommen, das Tore schon den ganzen Tag übersehen hatte. Da | |
war sie also, die trächtige Askjielejvor. Tore musste etwas lächeln. Doch | |
dann verfinsterte sich seine Miene. Tore sah Bürgermeister Angel | |
Vikingskipshuset, wie er mit dem grobschlächtigen Wilderer Trygve | |
Gulbranssen unter einem gefällten Baum Schnaps trank. Das konnte nichts | |
Gutes bedeuten. Gulbranssen hatte einen erlegten Igel über der Schulter, | |
das konnte der Bürgermeister unmöglich übersehen. Doch nichts geschah … | |
Lange geschah nichts … Der Bürgermeister und der Wilderer tranken zusammen | |
noch einen Schnaps. | |
Ein gellender Schrei aus dem Dorf ließ die heimelige Szenerie erzittern: | |
„Die Leitung bricht! Die Leitung bricht!“ Damit konnte nur die | |
Wasserleitung gemeint sein, die der alte Dag vor zwanzig Jahren in den | |
unerbittlichen Fels geschlagen hatte, um die Dörfler mit Wasser aus den | |
Felsen zu versorgen. | |
Dass diese Vorrichtung nicht ewig halten würde, war eigentlich allen klar | |
gewesen, doch niemand hatte sich bisher der bitteren Wahrheit stellen | |
wollen. Nun musste jemand in die Wand steigen, um die Leitung zu | |
reparieren. Tore dachte nicht im Traum daran, dieses halsbrecherische | |
Wagnis auf sich zu nehmen. Obwohl das im Dorf sicher gut angekommen wäre. | |
Doch er, Tore, hatte andere Pläne. Er wollte das Kind der Einödbäuerin Ilka | |
vor einem Wolfsrudel und dem Erfrierungstod retten, um so Ilkas Herz und | |
ihren Hof zu gewinnen – dann würde sein Vater, der alte Dag, aber | |
erschreckt aus der Wäsche gucken, denn er, Tore, wusste genau, dass auf | |
Ilkas Gehöft seit zwanzig Jahren Schuldscheine in einer Truhe lagerten, die | |
sein Vater, der alte Dag, in schnapsseliger Laune damals Ilkas Vater, dem | |
alten Öyvind, leichtfertig unterschrieben hatte. | |
## Tores Kehle | |
Tores Kehle entrang sich ein gehässiges Gelächter, das noch lange von den | |
felsigen Bergen als grauenvolles Echo ins Tal zurückgeworfen wurde. Die | |
Dörfler bekreuzigten sich und zogen spontan mit einer farbenprächtige | |
Prozession zu Ehren der heiligen Jungfrau Maria und all ihrer Kinder durch | |
die Straße. | |
Langsam versank die blutrote Sonne hinter den Bergen, und auch auf dem | |
Gutshof des alten Dag kehrte Ruhe ein. Die brave Askjielejvor schnaubte im | |
heimischen Heu und gebar ein prächtiges Füllen, das bald von sich reden | |
machen würde. Tore und sein Vater, der alte Dag, tranken zusammen einen | |
selbstgebrannten Schnaps und beobachteten hinter regentrüben Fenstern die | |
Schneeflocken, die munter im Abendlicht umeinander purzelten. Morgen würde | |
Tore seinem Vater, dem alten Dag, etwas in die brüchigen Rippen stoßen und | |
womöglich einen weiteren Meineid schwören. Doch das hatte noch Zeit … Zeit | |
bis morgen … | |
18 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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