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# taz.de -- Artenschutz versus Mobilität: Der Riesenstein des Anstoßes
> Eine Straße im Südschwarzwald ist seit mehr als sieben Jahren gesperrt.
> Wegen eines Felsbrockens. Gehört sie noch den Menschen? Oder den
> Fledermäusen?
Bild: Die Albtalstraße ist fast 30 Kilometer lang. Knapp 3 Kilometer davon…
Stephan Marder steht in einer Parkbucht vor einem verrammelten Gasthof im
Südschwarzwald. Seine Mitstreiter kämen sicher gleich, auf sie sei Verlass,
sagt er. Kurz darauf parken mehrere große Autos neben dem Mann mit den
weichen Augen und den groben Händen. Zuletzt rauscht Herbert Nägele in
seinem dunklen Geländewagen heran, stoppt, springt raus und zieht ein paar
schwarze Filzhüte aus dem Kofferraum.
Zu fünft stehen sie jetzt hier, vier Männer und eine Frau in weißen Hemden
und T-Shirts und eben mit diesen Filzhüten. „Unser Revolutionsoutfit“,
scherzt einer. Hemd in die Hose, raunzt Nägele. „Uns wurde unsere Identität
genommen“, sagt Stephan Marder. Alle nicken.
Rundherum stehen Bäume, sehr viele Bäume und sattgrüne Hügel. Hotzenwald
sagen die Menschen hier zu diesem Landstrich. Es ist ein drückend heißer
Samstagmittag, unten im Tal rauscht die Alb vorbei, der Fluss, der dieser
kurvigen Straße nah der Schweizer Grenze ihren Namen gibt: Albtalstraße.
Stephan Marder zeigt auf den haushohen Felsen in ihrem Rücken, auf die
handgeschriebenen Schilder ihrer Bürgerinitiative an der Felswand. „Sieben
Jahre Straße zu, sieben Jahre leere Versprechungen. Es reicht!“, steht dort
in großen roten Buchstaben.
Kurz nach Pfingsten 2015 krachte nachts ein kleinwagengroßer Felsblock auf
die Fahrbahn der Albtalstraße, etwa auf halber Strecke zwischen den
Gemeinden Albbruck und Tiefenstein. Bis heute sind deshalb rund 2,5
Kilometer der L 154 gesperrt. Niemand weiß mit Sicherheit, ob sich das
jemals wieder ändert. Ihr Protest gegen die Sperrung hat Nägele, Marder und
Co den Ruf als „Albtalrebellen“ beschert. „Diese Straße war immer schon …
Sie gehört zu uns“, sagt Eva Rippel, graue Kurzhaarfrisur, blaue
Dreivierteljeans. Und wieder nicken sie alle gemeinsam.
Nun, strenggenommen ist diese Straße erst seit rund 170 Jahren da, erbaut
ab 1855 in nur vier Jahren, kaum fünf Meter breit, zwei enge Fahrspuren
zwischen Felsen und Abhang. Was zweifellos vorher schon da war, ist die
Natur ringsherum und diese könnte der Straße zum Verhängnis werden. Die
steilen Schluchtwälder, der raue Granitfelsen sind auch das Zuhause
geschützter Vogel- und Falterarten, von Eidechsen und Fledermäusen. Hier
leben die Mopsfledermaus und der Waldkauz, Steinpickerschnecken und
Schließmundschnecken, die Alpenspitzmaus und die Mauereidechse.
Um die kleine Landstraße vor künftigen Felsabgängen zu sichern, wären tiefe
Eingriffe in diesen Lebensraum nötig. Großflächige Stahlnetze oder ein
massiver Betonwall. Die umweltschonende Alternative mit einer punktuellen
Hangsicherung und Kompensationsmaßnahmen wird im Landesverkehrsministerium
in Stuttgart inzwischen auf Kosten in Höhe von rund 20 Millionen Euro
kalkuliert. Das wären 8 Millionen Euro pro Kilometer, 8.000 Euro pro Meter
Landstraße.
## Der Minister hat eine freie Straße versprochen
Was kommt zuerst, Mensch oder Natur? Und was ist zumutbar für den Menschen,
was eine Zumutung? Um diese Fragen geht es seit sieben Jahren in diesem
kleinen Schwarzwaldtal. Und um diese Fragen geht es auch bei zahlreichen
Infrastrukturvorhaben im ganzen Land. Der Mensch will bauen und sanieren.
Der Mensch will aber auch Tiere und die Umwelt schützen, Vielfalt bewahren,
Lebensräume schützen.
Gegen die eigene Expansionshybris hat sich der Mensch Regeln gegeben,
Umweltschutzbestimmungen und rote Listen mit bedrohten Arten. Allein in
Deutschland sind laut Weltnaturschutzunion derzeit 34 Prozent der
einheimischen Tierarten und 26 Prozent der einheimischen Pflanzenarten
bestandsgefährdet.
Weil sich das ändern soll, haben Feldhamster, Fledermäuse, Rotmilane und
Schwarzstorche deutschlandweit schon den Bau von Flughafenhallen, Windparks
und Zugstrecken verhindern und verzögern können. Keine Straße, kein Tunnel,
keine Brücke wird heute gebaut ohne die Prüfung umweltschutzrechtlicher
Einwände. Der Mensch hat sich selbst die Vorfahrt genommen.
Die entsprechenden Gesetze und Regeln gelten natürlich auch hier im Albtal.
Aber Stephan Marder erinnert sich noch gut an ein Versprechen des grünen
Verkehrsministers von Baden-Württemberg, Winfried Hermann. Der reiste zwei
Jahre nach dem Felsabgang ins Albtal und hatte den Menschen hier
versprochen, ihre Straße werde wieder befahrbar sein.
Marder erinnert sich auch noch daran, dass die Grünen im vergangenen
Bundestagswahlkampf Politik für den ländlichen Raum versprochen haben. „Gut
und gerne leben auf dem Land“, hieß ein Papier der Kanzlerkandidatin
Annalena Baerbock. Es ging darin um geschlossene Dorfkneipen, Einsamkeit
und Abgeschiedenheit, und um wachsenden Verdruss auf Staat und Politik.
Auch dass der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor rund zehn
Jahren eine „Politik des Gehörtwerdens“ versprochen hat, hat Stephan Marder
nicht vergessen und dass Kretschmanns damaliger Finanzminister Nils Schmid,
SPD, wegen knapper Kassen kurze Zeit später der Meinung war, man müsse im
Zweifel auch mal ein Schwarzwaldtal zuwachsen lassen. Marder merkt sich so
was.
Er führt die Gruppe vom Parkplatz vorbei an einem schweren Metallzaun und
aufgehäuften Wackersteinen am Beginn der Straßensperrung. Er will das
Einschlagloch des Felsens zeigen. Seine sanfte Stimme klingt jetzt
zorniger. „Wir sind sehr für Klimaschutz. Wir Menschen im Albtal leben ein
naturverbundenes, naturnahes Leben. Aber das hier, das ist Ökoterror“, sagt
Marder.
## Der von Geisterhand bewegte Brocken
Von links und rechts greifen Brombeerhecken über den bröckelnden Asphalt.
Laub und abgestorbene Äste am Straßenrand. Nach wenigen Minuten steht
Marder vor dem Einschlagloch des Felsens, eine kleine Pfütze hat sich
gebildet, der Brocken liegt inzwischen am Abhang neben der Straße. „Wie von
Geisterhand verschwunden“, sagt Marder. Völlig klar, dass die
Albtalrebellen das waren, aber das würden sie nicht öffentlich zugeben.
Die Albtalstraße liegt in einem Biosphärengebiet, das Albtal ist
sogenanntes geschütztes „Flora-Fauna-Habitat“ und Teil des europäischen
Vogelschutzgebiets Südschwarzwald, außerdem Landschaftsschutzgebiet. Es
gibt im Grunde kaum eine Naturschutzverordnung, die für dieses Fleckchen
Erde nicht gilt. Entsprechend kompliziert wird es, wenn in diesem Gebiet
Bauarbeiten nötig sind.
Bei ersten Untersuchungen im Frühjahr 2016 stellte das
baden-württembergische Landesamt für Geologie fest, dass insgesamt 1.500
Kubikmeter Felsmaterial an der Albtalstraße abrutschen könnten. Von
„hochgradig labilen Bereichen“ und einem „diffusen und unübersichtlichen
Felssturzpotenzial“ ist die Rede.
Es folgten weitere Gutachten. Über mehrere Jahre haben Biologinnen und
Biologen die Tierwelt untersucht. Das dauert so lange, weil man gesamte
Vegetationsphasen überwachen muss, um zu bewerten, wie die Tiere reagieren
könnten, wenn nebenan schwere Maschinen massive Dübel in Felswände drehen.
Vor allem aber muss man die Tiere erst einmal finden. Bei ersten
Untersuchungen an der Albtalstraße wurden in vier Monaten acht
Mopsfledermäuse gezählt, sieben Männchen, ein Weibchen. Und 22
Mauereidechsen.
Ein paar Meter hinter der Einsturzstelle des Felsens, kurz vor dem ersten
von fünf Tunneln, haben Jugendliche Tisch und Stühle aufgestellt, auf dem
Asphalt der Albtalstraße zeichnen sich Lagerfeuerspuren ab. Stephan Marder
setzt sich. Er hat eine Gartenbaufirma, sie liegt direkt hinter der
gesperrten Straße in Albbruck. Zwar ist niemand durch die Straßensperrung
vom Rest der Welt abgeschnitten, man hat sich aber an zwei Umgehungsstraßen
gewöhnen müssen. Rund 4 Kilometer Umweg.
Er erzählt von Lkw, die wegen der Sperrung nun an Kindergärten vorbeifahren
müssen, die wegen der Steigungen mehr bremsen und mehr Sprit bräuchten, von
längeren Wegen für Rettungswägen, von geschlossenen Läden und Gaststätten
und von jungen Menschen, die scharenweise die Dörfer im Albtal verlassen
würden. Es scheint, als müsste die Straßensperrung als Grund für sehr viele
Schwierigkeiten in dieser Gegend herhalten. Und es scheint auch so, als
gehe es wieder um die Angst, die Regierenden könnten in Stuttgart längst
beschlossen haben, das Albtal einfach zuwachsen zu lassen.
Herbert Nägele erinnert sich daran, dass er die Albtalstraße seit mehr als
vierzig Jahren entlanggefahren ist, schon als Jugendlicher mit dem Moped,
einer Zündapp. Jeden Morgen zur Gewerbeschule, er hat Elektriker gelernt,
am Abend wieder zurück. „Die Straße ist ein Denkmal, das können wir nicht
einfach verrotten lassen“, sagt Nägele. Eva Rippel erzählt, ihre Kinder
liebten die Fahrten durch die Tunnel, ständig sollte sie hupen, gekringelt
hätten sich die Kleinen dann auf der Rückbank.
Sie blickt von der Straße hinab, vorbei an Tannen und Fichten, runter ins
Tal, in die ewig grüne Landschaft, die hier noch mal so richtig rumhügelt.
Es gibt sogar Postkarten von dieser Stelle der Straße, dem Ausblick, dem
Tunnel. Eine Farbaufnahme von 1900. Rippel schüttelt den Kopf. „Die
Menschen von damals würden sich im Grab umdrehen, wenn sie uns heute sehen
könnten“, sagt Rippel. „Seit sieben Jahren gesperrt wegen eines Felsens.
Kann man keinem klardenkenden Menschen erklären.“
## Die ganze Aufregung für vier Kilometer?
Ein Anruf bei Ruth Cremer-Ricken, der Chefin der grünen Kreistagsfraktion
im Landkreis Waldshut-Tiengen, zu dem auch das Albtal gehört. Cremer-Ricken
spricht streng und ein wenig genervt. Sie kennt die kritische Haltung der
Bürgerinitiative gegenüber den Grünen. „Naturschutz ist keine Ideologie
oder ein Parteiprogramm, es ist geltendes Recht. Und wenn geltendes Recht
es unmöglich macht, dass die Straße wieder befahren werden kann, dann ist
das zu akzeptieren.“
Arten- und Umweltschutz seien wichtig und wurden in diesem Gebiet auch
großgeschrieben, als es noch keine grüne Landesregierung gab. „Diese
Bestimmungen haben sich nicht die Grünen ausgedacht“, sagt Cremer-Ricken.
„Artenschutzrechtliche Bestimmungen gelten nicht nur abstrakt, sondern auch
unmittelbar vor der eigenen Haustür.“
Auch Niklas Nüssle, der grüne Landtagsabgeordnete des Wahlkreises, betont
am Telefon die Gesetzeslage. „Unser Rechtsrahmen zwingt uns, Artenschutz
und Umweltschutz zu berücksichtigen. Natürlich sind mir diese Themen
wichtig und sie sind Teil der grünen DNA, aber hier geht es nicht um
Parteiprogrammatik“, sagt Nüssle mit alemannischem Dialekt. „Im Albtal wird
ein Konflikt verhandelt, der sich inzwischen auch bundesweit bei immer mehr
Infrastrukturvorhaben zeigt. Umweltschutz und Artenschutz stehen den
Menschen scheinbar im Weg. Das sind Werte, für die wir uns als Gesellschaft
entschieden haben“, sagt er noch und dass er eine Umleitung rund ums Albtal
„für absolut verhältnismäßig“ halte.
Martin Kistler klingt da viel unzufriedener, Kistler ist Landrat im
Landkreis Waldshut-Tiengen und Mitglied der Freien Wähler. Sein Landratsamt
koordiniert die Gutachten. „Sieben Jahre bürokratische Auseinandersetzung
mit einem Felsbrocken kann man den Leuten wirklich nur schwer erklären. Die
Vorgaben des Natur- und Artenschutzes für die Sicherung dieser Straße führt
uns an die Grenze des Handhabbaren“, sagt er. „Uns ist der Rechtsrahmen
über den Kopf gewachsen.“
Mit der Bürgerinitiative stehe er in regelmäßigem Austausch, sagt Kistler.
„Den Vorwurf, hier werde Naturschutz ideologisch verstanden, halte ich für
überzogen. Aber ich kann die Menschen gut verstehen. Diese Straße ist immer
dagewesen, ein historisches Denkmal, Teil der Identität hier im Landkreis.“
Und auch bei ihm klingt die Angst durch, die Politiker:innen in der
Landeshauptstadt wollten das Tal zuwachsen lassen. „Wir können nur hoffen,
dass der Verkehrsminister daran festhält, dass diese Straße wieder
befahrbar sein soll“, sagt Kistler.
Nur spricht dafür bisher wenig. Aus einem zweiten ingenieurgeologischen
Gutachten von 2018 geht hervor, dass sich zahlreiche weitere labile
Felskörper oberhalb der Straße befinden, die in steilen Hanglagen lediglich
ineinander verkeilt sind und ansonsten keinen Halt haben. Ihr Abrutschen
sei eine Frage der Zeit. Es fehle an „ankerfähigem Substrat“ für wirksame
Sicherungsmaßnahmen. Seitenlang werden großvolumige Instabilitäten
aufgelistet.
Die Sicherung der Felsen könne weder im Sinne des Naturschutzes noch
halbwegs wirtschaftlich gewährleistet werden. Die Untersuchung liest sich
auch wie der schriftliche Beweis, dass nicht immer zu vermitteln ist
zwischen Mensch und Tier. Entweder sind die Eingriffe zu teuer oder zu
folgenschwer für das Artenreich.
## Mensch oder Mopsfledermaus?
Die Albtalstraße wurde von Menschen für Menschen gebaut, aber sie führt
durch Natur, zu deren Schutz sich der Mensch durch Verordnungen und Gesetze
verpflichtet hat. Im Zweifelsfall bedeutet das auch, dass nach
Verständigung und Harmonie klingende Worte in Umweltschutzverordnungen sich
für betroffene Menschen wie Hohn anhören. So heißt es etwa in der
Verordnung des Biosphärengebiets Schwarzwald, dass die Erhaltung der
vielfältigen Ökosysteme in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen
stehen soll. „Motor für die Entwicklung des Biosphärengebiets Schwarzwald
sind die dort lebenden Menschen.“
Stephan Marder lehnt sich im Schatten an einen Granitblock, seine Hand
führt er langsam über den Stein, als würde er in diesem Moment zu ihm
sprechen wollen. „Gegen den Umweltschutz kommen wir mit unseren
Bedürfnissen nicht an. Gehört die Straße nun uns oder der Mopsfledermaus?“
Die Gruppe steht jetzt mit betretenen Mienen in der Mittagssonne auf der
gesperrten Straße. „Wenn wir nicht gehört werden, müssen sich die Politiker
nicht wundern, wenn die Politikverdrossenheit wächst“, sagt Herbert Nägele.
Ruth Cremer-Ricken, die grüne Kreistagsfraktionsvorsitzende, fordert am
Telefon mehr Gelassenheit ein. „Kein Tal im Schwarzwald ist abgeschnitten
oder wird zuwachsen. Niemand kommt zu spät zur Arbeit“, sagt sie. Und:
„Eine dauerhafte Straßensperrung für den Autoverkehr muss nicht
zwangsläufig dazu führen, dass die Menschen ihre Straße nie wieder betreten
dürfen. Es wäre zum Beispiel auch eine Umwidmung zu einem Waldweg möglich.“
Auf Waldwegen nehmen Menschen bekanntlich das Risiko in Kauf, ihnen könne
etwas auf den Kopf fallen, schiebt sie nach.
Die Bürgerinitiative will an einer Straße für den Autoverkehr festhalten.
In einem Brief an den Ministerpräsidenten haben sie im Mai 2020 angeboten,
eine „Felsputzete“ durchzuführen, also sich selbst um die Hänge entlang d…
Straße zu kümmern. Das hätten die Gemeinden viele Jahre lang so gemacht.
Straße zu, Felsen räumen, Straße wieder auf. Aber dieser Vorschlag hat die
Regierenden in Stuttgart offenbar nicht überzeugt.
Im Verkehrsministerium in Stuttgart versammeln sich in einem kargen
Besprechungsraum im Dachgeschoss an einem Donnerstagnachmittag Ende Juli
fünf Mitarbeiter:innen von Winfried Hermann zum Interviewtermin des
Ministers. Die Teamsitzung sei dem spannenden Thema geschuldet, sagt jemand
in der Runde. Hermann betritt als Letzter den Saal. Und macht gleich mal
klar, er habe mit gesperrten Landstraßen im Schwarzwald eigentlich wenig zu
tun, aber die Albtalstraße sei inzwischen eben ein Politikum und damit also
auch ein Thema für ihn.
Hermann setzt sich und sagt, er habe eben noch eine Mitarbeiterin
losgeschickt, um zu prüfen, welche Tiere inzwischen genau von den Maßnahmen
zur Sicherung der Hänge betroffen wären. „Ich war vor Ort und habe damals
versprochen, dass diese Straße wieder befahrbar gemacht wird. Das war mein
erklärtes Ziel.“ Zu diesem Zeitpunkt sei es um 2 bis 4 Millionen Euro
Baukosten gegangen. „Es war keine Option, dass wir das Albtal einfach
zuwachsen lassen. In den letzten Jahren haben sich Kosten sowie Aufwand
einer Wiedereröffnung aber immer krasser entwickelt. Das lässt mich
nachdenklich werden.“ Er schiebt nach: „Wir müssen uns fragen, ob rund 20
Millionen plus X Euro für 3 Kilometer Absicherung einer Landstraße
verhältnismäßig sind. Auch angesichts der zahlreichen, deutlich mehr
befahrenen Straßen und Brücken im Land, die wir mit den begrenzten Mitteln
dringend sanieren müssen.“
Wenn die Sanierung der Straße tatsächlich 20 Millionen Euro kostet, dann
bleibt sie geschlossen. Das klingt beim Minister deutlich durch. „Egal wie
ich mich entscheide, die Kritik wird folgen“, sagt Hermann. „Entweder heißt
es, ich verbrenne Geld oder ich breche meine Versprechen.“ In der
Zwischenzeit ist die Mitarbeiterin mit den bedrohten Tierarten aufgetaucht.
Besonders gefährdet seien weiterhin der Waldkauz und die Mopsfledermaus,
habe sie erfahren.
## Der Minister in der Zwickmühle
Winfried Hermann sagt, der europäische Artenschutz sei längst zu einem
Problem für die Infrastrukturpolitik geworden. „Es geht dabei zuweilen
nicht um den Schutz einer Art, sondern einzelner Exemplare einer Art.“ Ein
einzelnes brütendes Vogelpaar könne heute ganze Infrastrukturvorhaben
gefährden. „Natürlich dauert das alles zu lang und ist ärgerlich. Aber
natürlich bin ich auch dem Natur- und Artenschutz verpflichtet, dessen
Bedeutung ich ausdrücklich anerkenne.“ Um dann zu sagen: „Aber er darf
nicht dazu führen, dass wir nicht mehr bauen und sanieren können. Wir
müssen handlungsfähig bleiben.“
Da sitzt ein grüner Spitzenpolitiker, der die DNA seiner eigenen Partei als
ein Problem für Realpolitik erklärt. „Das ist ein Dilemma für mich als
grünen Verkehrsminister“, sagt Hermann.
Nach drei Stunden Spaziergang über die gesperrte Straße sind die
Albtalrebellen zurück am Kofferraum von Herbert Nägele, dem Mann mit den
Filzhüten. Der zieht eine Kühltasche mit kaltem Bier aus dem Wagen, die
Gruppe setzt sich in den Schatten auf den Boden. Der Frust ist ihren
Gesichtern nun nicht mehr so sehr anzusehen wie noch am Beginn der
Wanderung.
Einer hat die Idee, man könnte die Straße kaufen und zur Privatstraße
umwidmen. Dann sei man den lahmen Staat los. Ein anderer bedauert, dass die
direkte Demokratie nicht auch hier gilt, 15 Kilometer von der Schweiz
entfernt. Stephan Marder sitzt still daneben. Ein vorbeifahrendes Auto hält
an, der Fahrer macht Fotos von der Felswand mit den Protestschildern.
„Unser Protest wirkt“, sagt Marder leise.
3 Sep 2022
## AUTOREN
Jonas Weyrosta
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