# taz.de -- MieterInnen wehren sich: Milieuschutz schützt Wohli nicht | |
> Im Haus an der Wiener Ecke Ohlauer Straße in Kreuzberg regt sich Protest. | |
> Der neue Eigentümer hat aus ihnen eine Gemeinschaft gemacht | |
Bild: Türen im Wrangelkiez: die Bewohner*innen des Kiezes wollen den Ausverkau… | |
Berlin taz | Die Zeit läuft. Das weiß auch Karsten Kirmse, den sie hier nur | |
als Kalle kennen. Kalle, der die Madonna-Bar betreibt – diese Kreuzberger | |
Kiezinstitution, die mit dem Roman „Herr Lehmann“ literarisch verewigt und | |
wegen ihres barock anmutenden Deckengemäldes oft gerühmt wurde. 36 Jahre | |
gibt es sie jetzt. | |
Kalle Kirmse und das Madonna fanden einst über eine Annonce in der Zweiten | |
Hand zusammen, den „Ebay-Kleinanzeigen“ der digitalen Vorkriegsgeneration. | |
„Kreuzberger Szenekneipe zu verkaufen“, stand darin. Und eine | |
Telefonnummer. 1995 war das. | |
Nun hat das Haus Wiener 22/Ohlauer 2, das die Bewohner liebevoll Wohli | |
nennen und das in einem Milieuschutzgebiet liegt, einen neuen Eigentümer. | |
So stand es vor knapp vier Wochen in einem Brief, der nicht etwa vom neuen | |
Besitzer, sondern von der Asum, einer Gesellschaft für soziale | |
Stadtentwicklung, kam, die der Hausgemeinschaft Unterstützung anbot. Denn | |
die Wohli ist verkauft. Wenn bis zum 31. August keine andere Lösung | |
gefunden wird, geht das Haus mit seinen 17 Wohn- und 4 Gewerbeeinheiten an | |
ein Firmengeflecht, an dessen Ende eine Schweizer Großbank steht. | |
Die Stimmung im Haus sei angespannt, sagt Kirmse. Die Angst vor Verdrängung | |
geht um. „Das Problem für uns Mieter ist, dass wir viel befürchten, aber | |
wenig wissen“, sagt er. Planungssicherheit, das wünscht er sich. „Ich | |
glaube allerdings nicht, dass der neue Eigentümer speziell daran | |
interessiert ist, dass die Madonna-Bar weiter existiert. Der ist daran | |
interessiert, dass das Gewerbe vermietet ist. Und da geht es um Rendite.“ | |
Kirmse trifft der Hausverkauf doppelt. Seine Wohnung liegt genau über der | |
Bar. Ein Vierteljahrhundert Lebensgeschichte, verteilt auf zwei Stockwerken | |
und knapp 170 m². | |
## Rummel und Gewusel auf der Wiener Straße | |
Den letzten Abend für das Madonna habe er schon x-mal im Kopf | |
durchgespielt, sagt Kirmse. Schon lange bevor er vor vier Wochen den Brief | |
erhielt. Wie es sein würde, wenn er zum letzten Mal den Schlüssel rumdreht. | |
Das letzte Mal das Licht ausmacht. Doch so weit ist es noch nicht – auch | |
wenn die Zeit läuft. „Ich betreibe den Laden 25 Jahre. Das gebe ich nicht | |
auf, nur damit hier nachher ein Starbucks oder ein Schuhgeschäft reinkommt. | |
Das kann ich auch den Leuten im Kiez nicht antun“, sagt Kirmse. | |
Als Kalle Kirmse geboren wurde, wohnten Christa und Erwin Hartmann schon | |
sechs Jahre in der Wohli. Fast wollte Christa Hartmann die Wohnung im | |
fünften Stock nicht haben, im Frühjahr 1962: weil ihr die Fenstersimse so | |
niedrig erschienen, dass sie Angst hatte, herauszufallen. Noch heute, mit | |
ihren 79 Jahren, nähert sie sich ihnen nur mit viel Respekt. Unten, auf der | |
Wiener Straße, scheppert der Verkehrslärm. „Ich brauche das – den Rummel, | |
das ganze Gewusel, wenn ich aus dem Fenster gucke. Totale Ruhe kann ich | |
nicht“, sagt sie. | |
Mit der Ruhe wäre es spätestens seit dem Schreiben der Asum sowieso vorbei. | |
Sie habe schon damit gerechnet, dass so ein Brief einmal käme. [1][Warum | |
sollte es der Wohli auch anders gehen] als so vielen anderen Häusern im | |
Kiez? Einmal, Ende der 70er, hatten die Hartmanns schon einmal Angst, gehen | |
zu müssen. „Eigentlich glaube ich immer an das Gute im Menschen. Aber bei | |
diesen Immobiliengeschichten bin selbst ich misstrauisch“, sagt Christa | |
Hartmann. Damals stellte die neue Hausverwaltung einen | |
Modernisierungskatalog mit 13 Punkten vor. Bis heute wurden davon nur die | |
Dachantenne und die Klingelanlage umgesetzt. | |
## Die diamantene Hochzeit noch erleben | |
Seitdem scheint hier im 5. OG die Zeit stehen geblieben. Der Kachelofen, | |
für den die Hartmanns auch im Winter regelmäßig die Kohlen hinaufschleppen, | |
steht im Wohnzimmer, die Duschkabine in der Küche. Ein Kuriosum, aber keine | |
Seltenheit in der Wohli. 86 m², jeder einzelne für 2,71 Euro netto kalt. | |
Ein Spekulantentraum. Die Hartmanns hingegen träumen von etwas anderem. In | |
weniger als zwei Jahren steht die diamantene Hochzeit an. 60 Jahre | |
verheiratet: Das wollen sie in ihrer Wohnung erleben, sagt Erwin Hartmann, | |
bei dem mit jedem Satz das Mecklenburger Platt seiner Kindheit wie eine | |
durcheinanderlaufende Dünung heranrollt. Hier, wo sie zwei Kinder | |
großgezogen und so viel erlebt haben, diese vielen kleinen Momente, bei | |
denen sie sich mit funkelnden Augen anschauen, wenn sie davon erzählen. | |
„Wir freuen uns über jeden Tag, den wir hier verbringen können“, sagt | |
Christa Hartmann. Wenn er die Wohnung doch verlassen müsse, sagt ihr | |
82-jähriger Mann, dann nur mit den Füßen voran. | |
Um die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr werden zu lassen, muss bis zum | |
Ende des Monats eine Lösung gefunden werden – [2][dann läuft die Frist für | |
das Vorkaufsrecht] der Stadt aus. Gern wird von offizieller Seite | |
stattdessen aber mit sogenannten Abwendungsvereinbarungen gearbeitet. In | |
diesen erklären sich die Käufer bereit, für einen gewissen Zeitraum auf | |
bestimmte Maßnahmen wie Luxussanierungen zu verzichten. In der Wohli | |
befürchten sie, dass die Bedingungen aufgeweicht werden könnten – oder der | |
Käufer einfach auf Zeit spielt. „Ich habe die Angst, dass uns die Politik | |
im Stich lässt. Es wird Zeit, dass sich die Stadt endlich auf die Seite der | |
Mieter stellt“, sagt Kalle Kirmse. | |
Eine Genossenschaft hat sich bereit erklärt, einzuspringen. Zehn Prozent | |
des Kaufpreises müsste die Hausgemeinschaft als Eigenanteil aufwenden. Bei | |
einem mittleren einstelligen Millionenbetrag ist auch das nicht gerade | |
wenig. Dafür müssen alle mitmachen. Das Ziel heißt Selbstverwaltung für ein | |
Haus, dessen Bewohner sich untereinander bis vor Kurzem kaum kannten. „Mit | |
dem Eingang Ohlauer hatte ich bisher nicht viel zu tun“, sagt selbst Kalle | |
Kirmse. | |
## Nikotinbraune Patina | |
„Früher wussten wir alle etwas voneinander im Haus. Das hat sich über die | |
Jahre geändert. Das hab ich nie jemandem übel genommen. Und jetzt fügt sich | |
das Leben im Haus wieder zusammen“, sagt Christa Hartmann. „Ich finde es | |
Wahnsinn, was hier aus der Not entstanden ist!“ In der Wohli leben Bewohner | |
aus acht Jahrzehnten. Freiberufler, Lebenskünstler, Rentner, Familien, WGs. | |
Seitdem der Brief der Asum kam, trifft sich [3][die Kreuzberger Mischung] | |
der Wohli regelmäßig, auch im Madonna. Es gibt viel zu besprechen. Ein | |
neuer Brief kam – von der neuen Hausverwaltung. Man solle sich keine Sorgen | |
machen, steht dort sinngemäß. Gern stelle man sich vor – zumindest | |
schriftlich. Auf eine persönliche Einladung der Bewohner wurde hingegen | |
nicht reagiert. | |
Dafür ist an diesem Montag der Großteil der Haushalte ins Madonna gekommen | |
und sitzt im Stuhlkreis zusammen, teils auf Barhockern. Darüber an der | |
Decke prangt das Madonnengemälde unter einer gelblich-braunen | |
Nikotinpatina. An einigen kleinen Stellen hat Kirmse damit begonnen, die | |
einst leuchtenden Farben freizulegen. Zu seinem 25-jährigen Jubiläum als | |
Barbesitzer sollte es wieder in altem Glanz erstrahlen. Dann kam Corona. | |
Und der Verkauf des Hauses. | |
Auch Christa Hartmann ist da. Bevor sie im Juli den Brief über den | |
Hausverkauf erhielt, war sie nie im Madonna gewesen. Auch nicht in den | |
Vorgänger-Etablissements. Fast 60 Jahre lang. Nun sitzt sie unauffällig mit | |
dem Rücken zur holzvertäfelten Wand, direkt unter einer Madonna-Figur, die | |
Hände artig gefaltet. Ihr Vater, sagt sie, habe ihr als Kind eingebläut, | |
dass sie nur zu sprechen habe, wenn sie gefragt werde. Das stecke noch in | |
ihr, auch wenn sie sich darüber ärgert. Denn still sein möchte sie nicht | |
mehr. „Ich war eigentlich nie ein Kämpfertyp. Jetzt muss ich“, sagt sie. | |
## Die Zeit läuft | |
Denn der Kampf ist noch nicht vorbei. Bis zum 31. August wollen sie selbst | |
Tatsachen schaffen und den Deal mit der Genossenschaft anstoßen. „Das Beste | |
ist“, sagt Kirmse mitten in der Sitzung der Hausgemeinschaft, „dass wir es | |
geschafft haben, uns alle in diesem Raum zu versammeln.“ | |
Am Ende der Zusammenkunft der Wohli, anderthalb Stunden später, hat fast | |
jeder im Raum eine Aufgabe. Schlussspurt. Mail an die und die. Den und den | |
anrufen. „Micha, du schreibst einen Brief“, ruft jemand durch das Madonna. | |
„Und nicht so viel Sozialromantik!“ Es geht schließlich ums Ganze. Um | |
Geschichten und Schicksale. Das wissen sie. Und die Zeit läuft. Für 17 | |
Mietparteien. Für ein Haus namens Wohli. Und vielleicht läuft sie schon | |
viel länger – für eine ganze Stadt. | |
6 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Schlodder | |
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