| # taz.de -- Flüchtlinge in Moria: Unwürdiges Geschacher | |
| > Bundesinnenminister Horst Seehofer hat Berlins Angebot, mehr Geflüchtete | |
| > aufzunehmen, eine Absage erteilt. Bei Initiativen kocht die Wut hoch. | |
| Bild: Er kann auch anders: Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) | |
| Mit seiner Antwort ließ sich Horst Seehofer (CSU) [1][mehrere Wochen Zeit]. | |
| So lange, dass Berlins Innnensenator Andreas Geisel (SPD) sicherheitshalber | |
| Mitte Juni noch mal nachhakte. Nun ist klar: Seehofer lässt nicht zu, dass | |
| Berlin rund 300 Geflüchtete aus den Lagern auf den griechischen Inseln über | |
| ein eigenes Programm aufnimmt. Der Brief, in dem er dies dem Innensenator | |
| mitteilt, beginnt mit dem Wort „bedauerlicherweise“: Bedauerlicherweise | |
| könne er kein Einvernehmen erklären, er sehe weder die rechtlichen | |
| Voraussetzungen dafür erfüllt noch die Bundeseinheitlichkeit gewahrt, | |
| schreibt Seehofer. | |
| Eine deutliche Absage, die in Berlin auf deutliche Kritik stößt. | |
| Innensenator Geisel sagte dazu am Rande eines Pressetermins am Donnerstag, | |
| Seehofers Antwort sei „unterlassene Hilfeleistung“. Der Regierende | |
| Bürgermeister Michael Müller (SPD) nannte die Entscheidung des | |
| Bundesinnenministers in einem Interview mit dem RBB und auf Twitter einen | |
| „politischen Skandal“ und sagte, diese mache „alle im Senat sehr wütend�… | |
| Bettina Jarasch, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im | |
| Abgeordnetenhaus, fordert nun eine gemeinsame Antwort des Senats, | |
| möglicherweise auch eine Klage gegen die Absage des Innenministeriums | |
| (BMI). „Ich halte die rechtliche Argumentation von Seehofer für sehr | |
| fragwürdig“, sagt sie. „Mit seiner Auslegung des einschlägigen Paragrafen | |
| 23.1 schränkt er die Handlungsmöglichkeiten der Länder sehr stark ein.“ Der | |
| Paragraf regelt, inwieweit Länder aus völkerrechtlichen oder humanitären | |
| Gründen Flüchtlinge aufnehmen können. | |
| ## Offener Rechtsbruch | |
| „Diese Absage ist ein fatales Signal für die Zivilgesellschaft, die nun | |
| weiter hingehalten wird“, sagt Berenice Böhlo, Rechtsanwältin und | |
| Vorstandsmitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein RAV. | |
| „Wir haben mit der Situation in den Lagern einen offenen Rechtsbruch, aber | |
| es passiert einfach nichts, es ist unwürdig und deprimierend – und es nimmt | |
| Bewegungen die Kraft“, so Böhlo. „Das Innenministerium nimmt wissentlich | |
| und willentlich die humanitäre, von den Staaten der EU verursachte | |
| Katastrophe hin.“ Böhlo kritisiert dabei auch den Senat: Geisel habe | |
| [2][erst nach Drängen] das Landesaufnahmeprogramm auf den Weg gebracht. | |
| Seehofers Begründung hält Rechtsanwältin Böhlo für vorgeschoben, die | |
| rechtliche Einschätzung des BMI sei nicht haltbar. „Aufnahmeprogramme der | |
| Länder können von einzelnen Ländern verabschiedet werden, von denen, die | |
| eben wollen. Genauso sagt es das Gesetz“, sagt sie der taz. Doch hier fehle | |
| wohl der politische Wille, denn das BMI könnte dem Landesaufnahmeprogramm | |
| angesichts der humanitären Situation oder angesichts der Pandemie natürlich | |
| zustimmen. „Wenn das Land Berlin es ernst meint, sollte es schnell gegen | |
| Seehofers Absage klagen“, sagte sie. | |
| ## Schulstipendien für junge Flüchtlinge | |
| Für den Flüchtlingsrat kommt die Entscheidung von Seehofer nicht | |
| unerwartet. „Wir müssen nun weiter Druck machen, damit auch alle Plätze, | |
| die die Länder gemeldet haben, ausgefüllt werden“, sagte Sprecherin Nora | |
| Brezger. „Berlin muss nun außerdem kreativ denken und sich andere | |
| Möglichkeiten einfallen lassen, um Menschen aus den Lagern zu holen, etwa | |
| mit Schulstipendien, über die Jugendliche geholt werden könnten“, fordert | |
| sie. | |
| Bei [3][Initiativen und Hilfsorganisationen] traf die Nachricht von | |
| Seehofers Absage auf Wut. „Seehofer reicht die Verantwortung weiter, um | |
| seine eigene Inaktivität zu verdecken“, sagt Andreas Tölke vom Verein Be an | |
| Angel. „Wir streiten uns hier über die Aufnahme von Geflüchteten in einer | |
| Größenordnung, die wirklich eine Lappalie ist.“ Seit Jahren würden | |
| Initiativen Menschen darin unterstützen, ihre einfachsten Grundrechte | |
| durchzusetzen. „Diese Graswurzelbewegung wird von Politik und Verwaltung | |
| einfach nicht beachtet“, sagte er. Dass Europa nicht in der Lage sei, für | |
| 30.000 Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln eine Lösung zu | |
| finden, sei eine Bankrott-Erklärung der Politik. | |
| ## Berlin will weiterhin aufnehmen | |
| Die Innenverwaltung betonte währenddessen, dass Berlin weiterhin bereit | |
| sei, zusätzlich Flüchtlinge aus den Lagern aufzunehmen, egal ob dies über | |
| ein Landesaufnahmeprogramm, den Bund oder die Europäische Kommission | |
| geschehe. „Wichtig ist, dass den Menschen in Griechenland schnell geholfen | |
| wird“, sagte ein Sprecher des Innensenators. „Wir hoffen, dass es nun | |
| schnell auf Bundesebene zu zahlenmäßig nennenswerten Hilfsaktionen kommt.“ | |
| Die bisher zugesagten Plätze seien in Berlin noch längst nicht | |
| ausgeschöpft, teilte die Senatskanzlei mit. Und selbst wenn die Zahl von | |
| 300 Menschen erreicht sei, werde das Land sich weitere Schritte zur | |
| humanitären Hilfe für diese Menschen überlegen, hieß es. Zusätzlich zu den | |
| rund 300 bereits über das Landesaufnahmeprogramm zugesagten Plätzen könnte | |
| Berlin laut Senatskanzlei außerdem 70 minderjährige unbegleitete | |
| Flüchtlinge in Obhut nehmen – die Zahl könnte falls erforderlich ebenfalls | |
| noch erhöht werden. | |
| Bundesinnenminister Horst Seehofer beharrt bei der Aufnahme von | |
| Flüchtlingen auf europäischen Lösungen. „Für nationale Alleingänge stehe | |
| ich nicht zur Verfügung“, erklärte er am Donnerstag in Berlin – und in | |
| Reaktion auf den Ärger in der Berliner Landesregierung. „Kein Land der Welt | |
| kann die Migration allein bewältigen“, betonte Seehofer. „Umso wichtiger | |
| ist es, dass wir bei der europäischen Asylpolitik endlich sichtbar | |
| vorankommen.“ | |
| Die besondere Aufnahmebereitschaft der Länder Berlin und Thüringen sei bei | |
| der Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands berücksichtigt | |
| worden, hieß es aus dem Innenministerium. Für Seehofer ist das auch ein | |
| Grund für seine Absage, da ja Berlin Menschen über den Bund aufnähme. | |
| [4][142 Menschen sollen darüber in den kommenden Wochen nach Berlin | |
| kommen]. Er sei „zuversichtlich, dass das Land Berlin in diesem Rahmen | |
| einen großen Beitrag zur Besserung der Situation auf den griechischen | |
| Inseln leisten könne“, schrieb er in seiner Absage. Auf die Situation in | |
| den Lagern – zu einem hohen Maße [5][von der Bundespolitik mitverursacht] – | |
| hat er offenbar nie geguckt. | |
| 30 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gefluechtete-aus-Moria-in-Berlin/!5679816 | |
| [2] /Lager-auf-den-griechischen-Inseln/!5675169 | |
| [3] /Offener-Brief-an-Berliner-Senat/!5678248 | |
| [4] /Gefluechtete-aus-Moria-in-Berlin/!5691272 | |
| [5] /Kommentar-Umgang-mit-dem-Fall-Yuecel/!5388819 | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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