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# taz.de -- Klage vor dem Bundesverfassungsgericht: Gefährliches Schweigen
> Minister Seehofer und die AfD warnten vor der „Herrschaft des Unrechts“ �…
> wegen offener Grenzen für Flüchtlinge. Karlsruhe hätte widersprechen
> können.
Bild: Verfassungsrichter schweigen
Freiburg taz | Begeht die Regierung seit 2015 Rechtsbruch, weil sie
Geflüchtete nicht an der Grenze zurückweist? Die AfD behauptet das bis
heute. Auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) erhebt den Vorwurf immer
wieder. Eine juristische Klärung hat bisher nicht stattgefunden – weil das
Bundesverfassungsgericht im entscheidenden Moment versagt hat.
Allein 2015 kamen eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Die Grenzen
wurden für sie zwar nicht geöffnet, da in der EU die Binnengrenzen
grundsätzlich offen sind. Die entscheidende Frage war, ob die Grenzen
hätten geschlossen werden müssen.
Die Flüchtlingsgegner beriefen sich auf Paragraf 18 des Asylgesetzes.
Danach müssen Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden,
wenn sie über einen sicheren Drittstaat einreisen.
Dieser Paragraf steht zwar noch im Gesetz, ist aber längst durch
vorrangiges EU-Recht überlagert. Nach der Dublin-III-Verordnung der EU
müssen Flüchtlinge, die an der Grenze Asyl beantragen, zunächst einreisen
können, damit in einem geordneten Verfahren das Land festgestellt wird, das
für das Asylverfahren zuständig ist.
## Abriegelung der Grenze
In der Bundesregierung musste der damalige Innenminister Thomas de Mazière
(CDU) entscheiden, ob die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen werden oder
offen bleiben. In seinem Haus wurden beide Positionen vertreten. Dieter
Romann, Chef der Bundespolizei, hatte bereits ein Konzept zur Abriegelung
der Grenze nach Österreich ausgearbeitet. Doch de Maizière folgte den
Hausjuristen Hans-Heinrich von Knobloch (Leiter der Abteilung Staats-,
Verfassungs- und Verwaltungsrecht) und Christian Klos (Leiter des Referats
für Ausländerrecht). Vor allem Letzterer hatte auf das vorrangige EU-Recht
hingewiesen.
Faktisch kamen die Flüchtlinge dann nicht nur zur Klärung des zuständigen
Dublin-Staates nach Deutschland, sondern erhielten in der Regel auch ihr
Asylverfahren in Deutschland. Obwohl nach der Dublin-III-Verordnung in der
Regel der Staat der Einreise (etwa Italien) zuständig gewesen wäre,
übernahm Deutschland meist die Verfahren. Für die Flüchtlingsgegner war
dies ein weiterer Beleg für ihre Rechtsbruch-These.
Die Dublin-Regeln gelten inzwischen als grob ungerecht und es wird seit
Jahren über eine Reform verhandelt. Indem Deutschland also doch einen
fairen Anteil der Flüchtlinge aufnahm, wurde das Land nicht übermäßig,
sondern angemessen belastet. So gab es 2017 in der EU rund 647.000
Asylverfahren, davon 198.000 in Deutschland, also knapp ein Drittel. Ein
derartiger Anteil wird wohl auch am Ende der Neuaushandlung der
Dublin-Regeln herauskommmen.
Deutschland hat die Dublin-Regeln auch nicht verletzt, als es die
Möglichkeit zur Überstellung der Flüchtlinge an den Einreisestaat nur
begrenzt wahrnahm. Entweder machte Deutschland von seinem
Selbsteintrittsrecht Gebrauch oder man verpasste Dublin-Fristen für die
Überstellung in den zuständigen Staat, was ebenfalls zu einer deutschen
Zuständigkeit führte. Überstellungen nach Griechenland waren wegen der
desolaten Zustände dort ohnehin gerichtlich verboten.
Für die AfD wurde der Vorwurf des Rechtsbruchs schnell zu einem zentralen
Agitationsinhalt, der auch gut zur Parteigeschichte passte. Schon bei ihrer
Gründung 2013 stand für die AfD ein anderer vermeintlicher Rechtsbruch im
Mittelpunkt: die Euro-Rettung durch die Europäische Zentralbank unter
vermeintlichem Bruch des Verbots der Staatsfinanzierung.
## Neuer Aufschwung für die AfD
Das Thema war im Sommer 2015 allerdings nicht mehr prominent, die AfD stand
in Umfragen nur noch bei drei Prozent. Nachdem sie begann, die massenhafte
Flüchtlingszuwanderung anzuprangern, erlebte sie einen neuen Aufschwung,
der sie bei der Bundestagswahl 2017 mit 12,6 Prozent der Stimmen zur
stärksten Oppositionsfraktion machte. Die These vom Rechtsbruch
erleichterte auch das Zusammengehen von national-bürgerlichen Milieus, die
eigentlich zu verfassungswidrigen Positionen Abstand halten wollten, mit
offen rassistischen Kreisen. Es ging ja um die vermeintliche Verteidigung
des deutschen Rechts.
Und die AfD stand nicht allein. Horst [1][Seehofer], damals CSU-Chef und
bayerischer Ministerpräsident, drohte der Bundesregierung Ende 2015 mit
einer Verfassungsklage. Im Februar 2016 sprach er mit Blick auf die
deutsche Flüchtlingspolitik sogar von einer „Herrschaft des Unrechts“. Er
hat sich nie von dieser Formulierung distanziert.
Zur Wirkmächtigkeit der Rechtsbruchthese trug auch bei, dass sie sogar von
einzelnen ehemaligen Verfassungsrichtern vertreten wurde. Udo Di Fabio
fertigte ein entsprechendes Gutachten für die bayerische Staatsregierung
an. Auch Hans-Jürgen Papier, Expräsident des Bundesverfassungsgerichts,
hielt in Interviews und in einem Gutachten für die FDP-Fraktion, die
sofortige Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze für obligatorisch.
Nicht einmal die Bundesregierung bekannte sich klar zum Vorrang des
Europarechts, um sich spätere Zurückweisungen an der Grenze offenzuhalten.
So sagte Innenminister de Maizière in einem Interview Ende 2015, der
Verzicht auf Zurückweisungen sei „bisher“ eine politische Entscheidung
gewesen. Damit hatte er die Wahrnehmung befeuert, die Regierung kümmere
sich nicht um die Rechtslage.
Auch die politischen Verteidiger der deutschen Flüchtlingspolitik beriefen
sich oft nicht auf das Europarecht, sondern auf das deutsche Grundrecht auf
Asyl, obwohl dieses 1993 von CDU/CSU und SPD weitgehend abgeschafft worden
war. Doch wer aus Inkompetenz oder Kalkül lieber mit dem Grundgesetz
argumentierte als mit dem vorrangigen EU-Recht, lieferte nur den Rechten
eine Vorlage. Denn im Grundgesetz-Artikel 16a stand seit 1993 die
AfD/Seehofer-Position: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, kann
sich nicht auf das deutsche Asyl-Grundrecht berufen.
Im Sommer 2018 hatte sich die Debatte einigermaßen beruhigt. Die
Flüchtlingszahlen waren stark zurückgegangen. Da propagierte Horst Seehofer
wie aus dem Nichts die „Asylwende“. In einem „Masterplan Migration“ wol…
er sofortige Zurückweisungen an der Grenze einführen und wärmte damit den
alten Topos wieder auf. Dies führte zu einem erbitterten Streit mit
Kanzlerin Angela Merkel und fast zum Platzen der Fraktionsgemeinschaft von
CDU und CSU.
## Die Rechte des Bundestages
Vermutlich hätte wohl nur das Bundesverfassungsgericht dem Gerede von der
angeblichen „Herrschaft des Unrechts“ wirkungsvoll die Legitimation
entziehen können. Karlsruhe kam aber zunächst nicht zum Zuge, weil Bayern
im Frühjahr 2016 auf die angedrohte Verfassungsklage verzichtete. Eine
Chance ergab sich erst, als die neue AfD-Bundestagsfraktion im Mai 2018
eine Organklage einreichte. Die Rechte des Bundestags seien verletzt, so
die AfD, weil die Bundesregierung jahrelang die Zurückweisungspflicht aus
Paragraf 18 Asylgesetz missachtete, ohne dies durch ein neues Gesetz zu
legalisieren.
Eigentlich musste man der AfD fast schon dankbar sein für diese Klage, da
sie den Verfassungsrichtern endlich die Gelegenheit zur autoritativen
Klarstellung der Rechtslage gab. Doch das Gericht hat die Chance ungenutzt
verstreichen lassen. Im Dezember 2018 teilten die Richter nur mit, die
Klage sei unzulässig. Die AfD-Fraktion könne sich hier nicht auf Rechte des
Bundestags berufen. Kein Wort zur Sache. Die AfD wurde inhaltlich mit ihrer
Rechtsauffassung in keiner Weise korrigiert.
Nun muss das Bundesverfassungsgericht nicht zwingend etwas zur
Begründetheit von unzulässigen Klagen sagen. Aber es hätte dies durchaus
tun können. Es gibt auch genügend Beispiele, bei denen die Karlsruher
Richter ihre Rechtsmeinung trotz Unzulässigkeit der Klage mitteilten – weil
es ihnen wichtig war.
Hier aber war es den Verfassungsrichtern offensichtlich nicht wichtig,
obwohl die AfD von „Hochverrat“ und „Widerstandsrecht“ sprach und obwohl
die Demokratie bei einem Teil der Bevölkerung in eine ernsthafte
Legitimationskrise geraten war.
7 Aug 2020
## LINKS
[1] /Seehofers-Kritik-an-Bundesregierung/!5273200/
## AUTOREN
Christian Rath
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