# taz.de -- Bremer Kultursommer im Freien: Endlich mal wieder spielen | |
> Beim Bremer Kultursommer „Summarum“ laden Musiker*innen zum Wandelkonzert | |
> im Freien. Geboren wurde die Idee aus der Corona-Not. | |
Bild: Fünf Klanginseln bespielte das Netzwerk Klangpol in Bremen und Oldenburg | |
BREMEN taz | Soloselbstständig und in Sachen Live-Kunst unterwegs? Ganz | |
schlechter Lebensentwurf gerade. Keine Auftritte, keine Einnahmen, keine | |
Aufmerksamkeit. Immer nur proben, allein zu Hause. Corona-Tristesse. Sie | |
trieb Reinhart Hammerschmidt hinaus. In die Parks der Stadt. Er hatte viel | |
Zeit, denn seit Mitte März als Kontrabassist keinen Gig mehr gehabt, als | |
Konzertveranstalter gab es für ihn nichts zu organisieren und er bekam als | |
freiberuflicher Grafiker keinen einzigen Auftrag mehr für Tourplakate, | |
CD-Cover, Band-Flyer oder Theater-Programmhefte. Sich treiben zu lassen, | |
galt es als Bewegungsart der Stunde zu genießen. | |
Dabei entdeckte Hammerschmidt im Bremer Bürgerpark immer wieder | |
Kolleg*innen, die ihrer Isolation entfliehen und die quarantänisierte | |
Kreativität befreien, indem sie einfach mal drauflos konzertieren an den | |
Bummelwegen, auf den Grünflächen oder unter majestätischen Bäumen. Menschen | |
flanieren vorbei oder bleiben wie selbstverständlich im derzeit gebotenen | |
Abstand stehen. Kein Ordnungsamt, kein Polizist muss einschreiten. | |
Schon war Hammerschmidts kleine Festival-Idee geboren: Darbende Bremer | |
Stadtmusikanten sollen sich im Park verteilen und Solo-Konzerte geben. Für | |
den Bremer Kultursommer „Summarum“ und mit dem nordwestdeutschen | |
Kunstmusiknetzwerk Klangpol, dessen Sprecher Hammerschmidt ist, wurde die | |
Idee umgesetzt unter dem hübsch mehrdeutigen Titel „Soli für | |
Solo-Selbstständige“: Soli darbieten, aus Solidarität mitmachen, das | |
Publikum zu Soli-Spenden einladen und informieren über das finanziell | |
gerade dramatische Solo-Dasein der freien Musikszene. | |
„Das ist keine Protestaktion gegen die Kulturpolitik“, darauf legt | |
Hammerschmidt wert. Unzweifelhaft soll es eine schwellenlose, sozusagen | |
grasnarbenplane Möglichkeit sein, die Erwartung von klassischen | |
Songstrukturen fahren zu lassen und die ästhetische Gleichwertigkeit alles | |
Erklingenden zu erleben – ist Musik doch nur Spezialfall des Geräuschs und | |
hat längst Erweiterungen der traditionellen Tonalität bis hin zu ihrer | |
völligen Preisgabe abgehakt. | |
Da der Bürgerparkdirektor die Veranstaltung nicht wollte, fand sie | |
eintrittsfrei sowohl im Schlossgarten Oldenburg statt, wo locker bestuhlt | |
die Konzertareale definiert wurden und Musiker auch auf Booten | |
vorüberglitten, als auch unbestuhlt im Park des Klinikums Bremen-Ost, wo | |
sich Interessierte einfach neben die Künstler hockten. | |
Die Sonne im Nacken, knisternd, knarzend, scheppernd bratziges | |
E-Gitarren-Gefrickel von Jan van Hasselt im Ohr und anarcho-chorisch | |
dagegen anzwitschernde Nymphen- und Wellensittiche der Park-Voliere treiben | |
hinein ins Wandelkonzert und animieren zum Lustwandeln, um Hörgewohnheiten | |
verwandeln zu lassen von 15 Musizierenden. Man kann verlockenden Beats in | |
den Wald folgen oder per Smartphone via QR-Codes irgendwelchen Blauwalen | |
beim Singen zuhören. | |
Aus einem Ahornschatten heraus klarinettieren die von Benjamin Britten | |
vertonten „Sechs Metamorphosen nach Ovid“. Auf eine Wiese gefläzt klimpert | |
Christiane Abt, Klavierlehrerin an der Uni Oldenburg, mit der rechten Hand | |
auf einem Toy-Piano „Für Elise“ und nimmt die Beethoven-Melodie mit der | |
Linken auf einem weiteren dieser Spielzeuge auseinander. Fidele | |
Dekonstruktionskunst. Konstruktiv tritt Heiner Wörmann wie ein Geiger vors | |
Publikum, lächelnd führt er den Bogen, nur was er da streicht, ist keine | |
Stradivari, er spielt auf Plastikverpackungen und auf Styropor, entlockt | |
Joghurtbechern und elektrischen Zahnbürsten ihre Klänge und verzaubert so | |
Alltagsgegenstände in Musikinstrumente. | |
Das ist spannend und gleichzeitig nahbar, eine leise Lust zur Nachahmung | |
keimt wohl beim ein oder anderen auf: Wie mag wohl eine Eierverpackung | |
unterm Bratschenbogen klingen? Wohnt in allem ein Ton? Unter Wörmanns | |
fliegenden Händen scheint es jedenfalls so, und wenn er sich zum Abschluss | |
verbeugt, hat man den Eindruck, einem kleinen Konzert beigewohnt zu haben, | |
an dem lauter wundersame Instrumente beteiligt waren. | |
Doch zum Staunen bleibt wenig Zeit, an jeder der fünf Klanginseln sind | |
mehrere Künstler*innen zu erleben, die auf ganz unterschiedliche Weise um | |
Aufmerksamkeit buhlen. Klassisches Querflötenspiel von Isabelle Raphaelis, | |
Bremer HfK-Studentin, trifft in einer gartenarchitektonisch unberührten | |
Waldoase auf keckes Piccoloblockflötenspiel, dargeboten von der Verdener | |
Kreismusikschulleiterin Ulrike Petritzki, die daraufhin kontrastierend zur | |
menschenhohen Subbassblockflöte greift, die sie aufgrund ihres kantig | |
gebastelten Erscheinungsbildes einen „klingenden Kaninchenstall“ nennt. | |
Mit Hineinhauchen und Klappengeräuschen reagiert die Künstlerin in einer | |
zart wuchernden Ad-hoc-Komposition auf das Rauschen der Baumkronen und | |
Rascheln des Laubs zu ihren Füßen. Sie schätzt die „hohe | |
Aufmerksamkeitsenergie dabei“ und scheint mit John Cages Gedanken zu | |
flirten, dass, wenn wenig auf der Bühne passiere, sich der Fokus auf die | |
Umwelt richte – wobei es zur vollständigen Aufhebung des Unterschieds von | |
Ton und Geräusch in einem akustischen Kontinuum kommen kann. In diesem Fall | |
wehen Vogelgekrächz und heftig sich aufpumpende, feist wieder | |
zersplitternde Posaunentöne herbei. „Ich würde gern auf all das reagieren, | |
aber wir sollen ja für Soli spielen“, sagt Petritzki. | |
## Befreiung durch Improvisation | |
Schon hebt Tobias Hamann an, Metallgegenstände aneinander zu reiben und zu | |
schlagen. Ein frei schwebender Puls entsteht, den er mit Sticks auf seinen | |
Perkussionsmaterialien zu einem polyrhythmischen Klangbiotop ausformuliert. | |
Gefallen an offenen Strukturen gefunden haben fast alle auftretenden | |
Künstler, Echtzeit-Komposition ist zumeist ihr Thema. | |
Es gilt, sich im Improvisieren zugleich zu befreien und tief in die | |
Klangforschung am Instrument einzutauchen. Mal werden dabei musikalische | |
Ideen aneinandergereiht, so eine Art Stop-and-go-Musizieren, mal fließen | |
sie ineinander. Immer kredenzt als Appetithappen für akustische Erlebnisse | |
jenseits eingängiger Melodien, konventioneller Akkordwechsel und | |
instrumentaler Schulbuchtechnik. | |
## Kein Engagement in Sicht | |
Tobias Hamann erzählt, seit vier Monaten sei dies sein erster Auftritt. In | |
prä-coronösen Zeiten wurde er als Pauker für Barock-, Kammer- und | |
Kirchen-Konzerte gebucht, spielte Schlagzeug im Neue-Musik-Ensemble New | |
Babylon und ist Perkussionist der Latin-Pop-Band Yolanda Banda. 150 Euro | |
pro Probentag oder als Abendgage sei da zu verdienen, bis Ende 2020 aber | |
kein einziges Engagement in Sicht. „Ohne die knapp 2.000 Euro aus der | |
Corona-Soforthilfe hätte ich von der Hand in den Mund leben müssen“, sagt | |
Hamann. Zum seinem Glück startet wieder der Unterricht mit Privatschülern | |
per Skype wie auch mit dem Nachwuchs des Twistringer Blasorchesters. | |
Auch Indoor-Konzerte sind in Bremen ja wieder erlaubt. Aber für den Saal | |
der Musikerinitiative bedeute das etwa, so Hammerschmidt, „nur drei | |
Künstler dürfen auf der Bühne vor maximal zehn Zuhörern spielen“. Trotzdem | |
ist er optimistisch. Gerade wurden zehn Millionen Euro zur Belebung der | |
Bremer City vom Senat durchgewunken und Hammerschmidt & Co. sofort | |
beauftragt, ein Konzept zur Beteiligung Bremer Musiker zu entwickeln. | |
Leerstände sind zu bespielen, klingendes Leben ist zu implantieren. Die | |
Wiederauflage eines Wandelkonzertes ebenfalls geplant. Gilt das erste doch | |
als gelungen. 60 Gäste kamen in Bremen, 400 in Oldenburg. In den | |
aufgestellten Spendenboxen fanden sich 1.000 Euro, die an die teilnehmenden | |
Solo-Selbstständigen aufgeteilt werden. | |
29 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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