# taz.de -- Jazz am Berliner Kaisersteg: Die erste Runde | |
> An fünf Samstagen präsentieren sich in Berlin-Oberschöneweide | |
> Jazz-Formationen live. Die Veranstaltungsreihe geht bis Anfang September. | |
Bild: Jazz live mit Publikum. Nur das Wetter sollte noch mitspielen | |
Endlich, endlich, endlich mal wieder ein Jazzkonzert live. Nicht via | |
nervigem Stream, sondern so richtig mit Bühne vor einem und Menschen um | |
einen herum, die man anfassen könnte, wenn man es denn dürfte. So gut wie | |
alle Festivals fallen diese Saison aus den nur allzu bekannten Gründen ins | |
Wasser, Jazz am Kaisersteg in Oberschöneweide aber darf durchgezogen | |
werden. | |
An insgesamt fünf Samstagen bis Anfang September präsentieren sich hier | |
Formationen der umtriebigen Berliner Jazzszene und an diesem Wochenende | |
ging es in die erste Runde. | |
Jazz der etwas avantgardistischeren Sorte kann ja oft eine anstrengende | |
Sache sein. Musikalisch sowieso, aber auch vom Ambiente her. Vorne | |
quietschen und hupen ein paar Improvisationskünstler und man sitzt auf | |
einem harten Stuhl und denkt sich, eigentlich würde man jetzt viel lieber | |
etwas auf Netflix schauen. | |
Jazz am Kaisersteg dagegen ist wie ein Ausflug ins Grüne mit musikalischer | |
Untermalung. Kinder turnen auf dem weitläufigen Gelände herum, nur ein paar | |
Meter, und man ist direkt an der Spree. Es gibt Bratwurst mit kaltem | |
Toastbrot und eine dünne Brühe, die sie hier Kaffee nennen, dafür aber nur | |
einen Euro kostet – einfach herrlich. | |
## Umsonst und draußen | |
Dazu ist der Eintritt frei, was dazu führt, dass nicht nur die Jazzfreaks | |
vorbeischauen, die bei derartigen Veranstaltungen immer zugegen sind, | |
sondern auch Leute aus der Nachbarschaft, die es sonst vielleicht eher mit | |
Helene Fischer halten. Ungefähr zwei Drittel der Besucher kenne er aus den | |
Jazzclubs, erzählte Wolf-P. Glöde, den alle nur „Assi“ nennen und der mit | |
seinem Verein Jazzkeller 69 den Umsonst&Draußen-Event in Oberschöneweide | |
veranstaltet, über das Publikum am ersten Festivaltag. | |
Ein Drittel seien demnach wohl Interessierte aus dem Kiez gewesen, | |
Jazznovizen vielleicht, die sich das seltsame Treiben hier einmal ansehen | |
wollten. Und darum solle es insgesamt auch gehen, so Wolf-P. „Assi“ Glöde, | |
darum, „sich komische Musik in entspannter Atmosphäre anzuhören.“ Als | |
„Werbeveranstaltung für den Jazz in Berlin“ verstehe er das ganze Festival. | |
Nicht nur die Eingeweihten, sondern auch Neueinsteiger sollen | |
niedrigschwellig abgeholt werden. Und im besten Fall ein Interesse für den | |
Jazz in der Hauptstadt entwickeln. | |
Denn der nächste Herbst, der nächste Winter, komme bald und damit auch die | |
Zeit, in der die bis dahin hoffentlich wieder geöffneten Jazzclubs unter | |
Corona-Bedingungen unbedingt ein möglichst zahlreiches Publikum benötigten. | |
Die Lust auf Live-Jazz scheint jedenfalls prinzipiell vorhanden zu sein | |
nach der langen Corona-Dürre. Mehr als 250 Besucher seien am ersten | |
Festivaltag gekommen, so Assi. Mehr als doppelt so viele wie | |
durchschnittlich im letzten Jahr. | |
Und vielleicht konnte bei so manchem Jazzanfänger auch tatsächlich die | |
Neugierde geweckt werden. Das erste Konzert am Kaisersteg war vielleicht | |
noch etwas sperrig. Das Quartett Blythill, das sich als eine Art | |
Tribut-Band der beiden großen, aber nicht übermäßig bekannten | |
Altsaxophonisten Arthur Blythe und Julius Hemphill versteht, performte eine | |
Hommage an diese bereits verstorbenen Musiker. | |
## Mit Tuba und Cello, dazu Altsaxofon und Drums | |
Dazu gehörte auch eine spezielle Besetzung: Man trat mit Tuba auf, die bei | |
Blythe meist mit dazu gehörte und mit Cello, ohne das bei Hemphill kaum | |
etwas lief. Dazu, logisch, ein Altsaxofon und Drums. Das ergab einen | |
originellen Zugang zum Werk zweier viel zu selten gewürdigten | |
Jazzkomponisten. | |
Aber nicht nur den beiden Damen in ihren Leggins, die neben einem standen | |
und die wahrscheinlich auch nur vorbeigekommen waren, weil sie wissen | |
wollten, was hier Kurioses vor sich ging, erschloss sich der wohl nur | |
bedingt. Schon eher etwas für die ganze Familie war da der Auftritt von | |
Klub Demboh & Guests, einer elfköpfigen Combo, die Werke von Sun Ra | |
spielte. | |
Die Musik von Sun Ra ist so eigenwillig wie es der Mann selbst war. Der kam | |
bekanntlich vom Saturn und trat immer im Outfit eines reinkarnierten | |
Pharaos auf, sein Cosmic-Jazz samt außerplanetarisch klingendem | |
Moog-Gezwitscher fasziniert bis heute. Klub Demboh und Gäste machten aus | |
dem Mann und seinem Werk eine humoristische Revue samt Showeinlagen und | |
Fluxus-Schabernack. Da fiel schon mal der Cellist samt seinem Instrument | |
von der Bühne, ein Alien tauchte auf, eine auch nicht vom Planeten Erde zu | |
kommen scheinende Frau schleppte eine Klappleiter über das halbe Gelände. | |
Und dazu spielte die schräge Bigband die größten Hits von Sun Ra. Free Jazz | |
als kurzweilige Spaßveranstaltung war das, so etwas erlebt man auch nicht | |
alle Tage. In zwei Wochen geht es dann weiter mit Jazz am Kaisersteg. Vor | |
dem Besuch möglichst nichts essen, dann schmeckt die Bratwurst zum | |
Toastbrot, das noch halb tiefgefroren ist, noch besser. | |
12 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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