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# taz.de -- Das Berliner Ensemble Zeitkratzer: Respektvolle Verneigung
> Immer wieder neugierig: Das eigentlich der Neuen Musik zugeordnete
> Berliner Ensemble Zeitkratzer stellt sich dem Jazz auf ihrem neuen Album.
Bild: Mariam Wallentin beim Konzert mit dem Ensemble Zeitkratzer
Jetzt also Jazz. Es gehört ja zum Markenkern des Berliner Ensembles
Zeitkratzer, dass man nicht einmal erahnen kann, welches musikalische
Material es sich [1][als Nächstes einverleiben wird]. Stockhausen und John
Cage haben sich die MusikerInnen bereits gewidmet, aber auch den für ein
Ensemble aus dem Bereich der Neuen Musik nicht ganz so nahe liegenden
Power-Electronics der Band Whitehouse. Das als eher randständig betrachtete
Werk „Metal Machine Music“ von Lou Reed haben sie neu eingespielt, und auf
ihrem bislang letzten Album drehte sich alles um Kraftwerk.
Aber auch hier ging es Zeitkratzer-typisch nicht um deren Hits, das
Ensemble will schließlich mehr sein als eine Coverband, die dann auch mal
„Autobahn“ in origineller Instrumentierung nachspielt, sondern um das
Frühwerk der Düsseldorfer Band, das nur ein paar eingeweihten Krautrockfans
etwas sagt.
Aber nun, auf ihrem ersten Album, das sich um Jazz dreht, machen die
MusikerInnen es doch. Sie spielen tatsächlich ein paar alte Gassenhauer
nach, bereits zigfach neu interpretierte Klassiker wie „Cry Me a River“,
[2][„Strange Fruit“] und „My Funny Valentine“. Die Frage, die man sich …
Hören ihrer ganzen Platte mit dem Titel „The Shape of Jazz to Come“ stellt,
lautet natürlich: Spielen Zeitkratzer Jazz oder machen sie Jazz? Und man
muss sagen: Ja, sie machen Jazz. Es darf frei improvisiert werden, und wenn
eine Dixieland-Nummer wie „Struttin’ with Some Barbecue“ von Lil Hardin
Armstrong intoniert wird, hört sich das tatsächlich auch ein Stück weit an
wie Dixieland-Jazz.
Entstanden sind die Aufnahmen, die nun auf „The Shape of Jazz to Come“ zu
hören sind, bereits vor zwei Jahren. Zeitkratzer, ein aktuell neunköpfiges
Ensemble unter der Leitung des Pianisten Reinhold Friedl, taten sich für
einen Festivalauftritt in Krakau mit Mariam Wallentin zusammen, einer
schwedischen Jazzsängerin, die aber auch bekannt ist als Teil des
Avant-Folk-Duos Wildbirds & Peacedrums. Die nun vorliegende Platte ist ein
Mitschnitt dieses Konzerts. Dass man es mit einer Liveaufnahme zu tun hat,
ist jedoch kaum zu hören, bis zum Ende des Albums, als Mariam Wallentin in
„My Funny Valentine“ einsteigt, was ein begeisterter Zuhörer mit einem
Ausruf quittiert.
## Spiele mit versteckten Verweisen
Die Platte von Zeitkratzer ist eindeutig eine Hommage, eine respektvolle
Verneigung vor einer Kunstform in all ihren Facetten und
Entwicklungsstufen. Das geht schon los mit dem Titel: „The Shape of Jazz to
Come“, so hieß auch ein Album von [3][Ornette Coleman aus dem Jahr 1959.]
Dann die Besetzung: Unter anderem sind Altsaxofon und Bassklarinette zu
hören, dazu gleich zwei Kontrabassspieler. So wie es Coleman auf seinem
bahnbrechenden Album „Free Jazz“ machte, ein Jahr nach „The Shape of Jazz
to Come“.
Zeitkratzer lieben derartige Spiele mit versteckten Verweisen und Codes.
Dass von Coleman selbst gar keine Komposition auf dem Album nachgespielt
wird, passt da nur ins Bild.
Mit Coleman wird ein Musiker gewürdigt, der dem Jazz alle Türen öffnete.
Nach ihm war alles möglich, die Formalitäten des Bebop wurden aufgelöst,
der Free Jazz brachte unendliche Freiheiten. Die dann auch jemand wie Muhal
Richard Abrams zu nutzen wusste, Gründer der Musikervereinigung Association
for the Advancement of Creative Musicians in Chicago. Mit einer
Interpretation dessen Komposition „Bird Song“ steigen Zeitkrater ein in ihr
Album. In dem fast 15 Minuten langen Stück entfaltet das Ensemble bald
herrlichen Krach, versteigt sich wie im Original in eine
Kollektivimprovisation und Mariam Wallentin lässt dazu ihr Stimmorgan warm
laufen.
Mit Abrams erweist der Zeitkratzer-Leiter Friedl außerdem einem Komponisten
Reverenz, den er außerordentlich zu schätzen scheint. Eben erst hat er eine
Platte mit dessen Arbeiten im Bereich der elektronischen Musik
zusammengestellt.
## Aus der Feder von Frauen
Jazz ist längst ein globales Musikidiom. Zeitkratzer aber nähern sich ihm
als Ausdruck der afroamerikanischen Kultur. Sämtliche der Kompositionen
stammen aus den USA. Seit mehr als hundert Jahren gibt es diese Musik.
Entstanden ist sie in den Juke Joints im Südosten der USA, was mit dem
„Jelly Roll Blues“ von Sweet Emma Barrett nochmals aufgezeigt wird, wo die
Klarinette jubilieren darf, die im modernen Jazz so gut wie ausgestorben
ist.
Und sie wurde zum auch politischen Ausdruck des Kampfes Schwarzer Menschen
gegen Unterdrückung. Daran erinnert vor allem „Strange Fruit“, am
bekanntesten in der Gänsehaut-Version von Billie Holiday, wo von den
Früchten gesungen wird, die von den Bäumen hängen, womit nichts anderes
gemeint ist als gelynchte Afroamerikaner, die aufgehängt wurden.
Interessant ist, dass beinahe die Hälfte der von Zeitkratzer
interpretierten Stücke aus der Feder von Frauen stammen, was in Anbetracht
der anhaltenden männlichen Dominanz im Jazz auch eine Aussage oder fast
schon eine Korrektur der offiziellen Jazzgeschichtsschreibung ist.
26 Jul 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Andreas Hartmann
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Musik
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