# taz.de -- Debatte um kostenlosen Nahverkehr: Voll abgefahrene Ideen | |
> Die rot-rot-grüne Koalition hat untersuchen lassen, wie ein billigerer | |
> oder kostenloser ÖPNV finanzierbar wäre. Jetzt geht die Debatte richtig | |
> los. | |
Bild: Braucht es das in Zukunft noch? Ticketentwerter in Berlin | |
BERLIN taz | In der Diskussion um die Zukunft der Städte spielt der | |
Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) weltweit eine zentrale Rolle. Wien | |
hat, um Menschen den Umstieg vom Auto zu erleichtern, [1][ein | |
365-Euro-Ticket eingeführt], London eine City-Maut umgesetzt. Für Berlin | |
legte die damalige Piraten-Fraktion in der vergangenen Legislatur [2][eine | |
Untersuchung vor], wie ein kostenloser Nahverkehr funktionieren könnte. | |
Auch der aktuelle rot-rot-grüne Senat wollte es genauer wissen und | |
vereinbarte im Koalitionsvertrag eine Machbarkeitsstudie. Am Mittwochabend | |
wurde sie einem kleinen Kreis vorgestellt – und sorgt schon für heftige | |
Debatten. | |
CDU-Chef Kai Wegner sprach in einer Mitteilung bereits von einem | |
„ÖPNV-Zwangsticket“ und erklärte: „Weil der Senat seine Finanzen nicht … | |
Griff hat, will er sich nun am Portemonnaie der Berliner vergreifen.“ Und | |
auch vom Unternehmerverband kam harsche Kritik: „Ausgerechnet in der | |
tiefsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten denkt Rot-Rot-Grün darüber nach, | |
Unternehmen und Verbraucher noch stärker zu belasten. Die Koalition setzt | |
damit einmal mehr falsche Prioritäten“, sagte UVB-Hauptgeschäftsführer | |
Christian Amsinck. | |
Rot-rot-grüne Abgeordnete beeilten sich am Donnerstag zu versichern, dass | |
noch lange nichts entschieden sei und die Studie nur die Grundlage für die | |
anstehende Diskussion sei. „Ich verstehe die Aufgeregtheit“, sagte Tino | |
Schopf, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion der taz, „aber wir | |
unterhalten uns erst in der Fraktion und der Koalition darüber.“ Weder | |
werde es „schon morgen“ eine City-Maut geben noch eine etwaige ÖPNV-Abgabe. | |
## Mehrere Modelle verglichen | |
In der Studie werden mehrere Modelle untersucht, wie ein für die Fahrgäste | |
deutlich billigerer Nahverkehr in Berlin finanziert werden könnte – | |
zusätzlich zu den bisherigen Säulen staatliche Subventionierung und | |
Ticketverkauf. Dazu gehören die Erhöhung der Parkgebühren genauso wie eine | |
Maut für das Gebiet innerhalb des S-Bahn-Rings, besondere Beiträge für | |
Gewerbebetriebe in der Stadt und eine Umlage für alle BerlinerInnen. | |
Größere Vorbehalte äußert die bislang nicht öffentlich zugängliche Studie | |
der Consultingfirma Ramboll, die der taz vorliegt, vor allem gegen eine | |
sogenannte „Nutznießerfinanzierung“. Dabei zahlen jene, die von dem Angebot | |
profitieren – etwa Unternehmen, deren MitarbeiterInnen mit dem ÖPNV zu | |
ihnen kommen – extra Beiträge. Hier sei von einem „erheblichen | |
Verwaltungsaufwand“ auszugehen, der sich kaum rechne, schreiben die | |
AutorInnen. | |
Anders sieht es für das Modell eines BürgerInnentickets aus – ähnlich dem | |
bereits existierenden Studierendenticket finanziert aus einem Beitrag aller | |
BerlinerInnen, und zwar unabhängig davon, ob diese den ÖPNV überhaupt | |
nutzen. Auch eine City-Maut „könnte in der Lage sein, eine maßgebliche | |
ergänzende Finanzierungssäule“ für den Nahverkehr zu werden, heißt es in | |
der Studie. Gleiches gelte für eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung | |
bei maßvoller Anhebung der Parkgebühren. | |
Einig ist sich Rot-Rot-Grün darin, dass der öffentliche Nahverkehr | |
ausgebaut werden muss, wie die Koalition in einer gemeinsamen | |
Pressemitteilung am Mittwochabend erklärte. „Wir brauchen einen attraktiven | |
und bezahlbaren Nahverkehr in den Innen- und Außenbezirken, um immer mehr | |
Menschen eine Alternative zum eigenen Auto zu bieten“, sagte etwa der Grüne | |
Harald Moritz. | |
Allerdings dürften in der nun aufkommenden Debatte durchaus Differenzen | |
innerhalb der Koalition sichtbar werden. Für Kristian Ronneburg (Linke) | |
würde eine neue Finanzierungssäule den Weg zu einer „Öffi-Flat“ ebnen, a… | |
einem kostenlosen Nahverkehr. Ein 365-Euro-Ticket, bei dem die NutzerInnen | |
also noch etwas zuzahlen, hält er kaum mehr für umsetzbar. | |
## Von Wien lernen? | |
Anders die SPD. Ihr Parteitag hat sich für ein solches Modell | |
ausgesprochen, auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller setzt sich | |
öffentlich dafür ein. Für den SPD-Verkehrsexperten Tino Schopf bleibt ein | |
solches Ticket darum auch weiterhin das „erklärte Ziel“. „Wir wollten | |
wissen, wie die Österreicher das machen und ob das übertragbar ist“, sagte | |
er der taz. In Wien zahlen ArbeitgeberInnen eine Abgabe pro MitarbeiterIn, | |
auch „U-Bahn-Steuer“ genannt (obwohl sie keine Steuer ist). Für Berlin mit | |
seinem viel größeren Gebiet sei laut der Studie ein solches Modell | |
rechtlich problematisch. | |
Immerhin könne sich die Koalition laut Schopf nun im Detail unterhalten und | |
fragen, was umsetzbar wäre. „Welches Instrument tatsächlich angewandt wird, | |
ist offen“, betont er. | |
Linkspartei-Politiker Ronneburg wiederum hält eine Maut für den falschen | |
Weg. „Das produziert Ausweicheffekte entlang der Grenzen der Maut-Zone“, | |
sagte er am Donnerstag der taz. Großflächige Park-and-Ride-Plätze halte er | |
angesichts der Konkurrenz um die Grundstücke in der Stadt für illusorisch. | |
Letztlich muss es auch nicht auf ein Modell hinauslaufen: Es könnte eine | |
Kombination mehrerer Maßnahmen geben, um einen deutlich billigeren und | |
gleichzeitig erweiterten ÖPNV in Berlin zu finanzieren. Ende Juli soll die | |
Studie veröffentlicht werden, dann will Rot-Rot-Grün dazu „mit der | |
Stadtgesellschaft in den Austausch gehen“, wie es in der Mitteilung vom | |
Mittwoch heißt. Klingt alles nach einem Projekt für die nächste | |
Legislaturperiode. Schließlich sind bereits im September 2021 Wahlen. Und | |
dann können ja die BürgerInnen mitentscheiden, was kommen soll. | |
11 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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