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# taz.de -- Fehlende Diversität im Theater: Sehnsucht nach der Platte
> Der Kulturbetrieb lechzt nach Geschichten aus der Arbeiterklasse. Doch
> Förderungen gibt es kaum. Wie gehen Kulturschaffende mit diesem
> Widerspruch um?
Bild: Die Herkunft prägt: Hochhaussiedlung in Bremen
Mit einem Vorsprechen bewarb sich der Nachwuchs einer renommierten
Schauspielschule für ein Praxisjahr an einem großen Stadttheater. Bei der
anschließenden Analyse der „Performance“ sagte die Leiterin des Theaters,
mit dem Finger auf ein Schauspielerfoto zeigend: „Er hier braucht noch
Zeit, um zu den anderen aufzuschließen. Er hat aber auch eine interessante
Biografie.“
Die anderen Teammitglieder schauten auf. „Er ist in einer Platte
aufgewachsen.“ Mit einer Arbeiter*innenbiografie im Kulturbetrieb
anzuknüpfen, oder gar erfolgreich zu sein, ist eben nicht nur mühselig,
sondern auch selten. Begleitet wird dieser sogenannte „Aufstieg“ in die
hehren Gefilde des Bürgertums von Stigmatisierung und Diskriminierung.
Gleichzeitig besteht in Theater und Literatur die Nachfrage nach freshem
Content, nach der „interessanten Plattenbiografie“, nach Plots mit Haltung.
Was ist aber der Preis dieser Sehnsucht und wie gehen
Working-Class-Kulturschaffende mit dem Widerspruch um, dass das Bürgertum
sie braucht und gleichzeitig ausschließt?
[1][Beim Open Mike], einem der wichtigsten Preise für Jungautor*innen,
haben vier der letzten sechs Prosagewinner*innen sich am Deutschen
Literaturinstitut (DLL) in Leipzig oder am Kulturcampus in Hildesheim ihre
Sporen verdient.
„Kreatives Schreiben studiert habe ich mit Lehrerkindern und Ärztekindern
und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern“, schrieb der
Hildesheim-Absolvent Florian Kessler schon vor sechs Jahren in der Zeit.
„In jeder Saison der letzten Jahre wurde mehr als die Hälfte aller bis in
die Feuilletons vordringenden Romandebütanten an einem dieser beiden
Institute ausgebildet“, so Kessler.
## Behaupteter Realismus
Wie äußert sich das? Elegisches Selbstmitleid und Selbstreferentialität
sind nur zwei der Elemente, die etwa in „Allegro Pastell“, [2][dem jüngsten
Roman des Managersohns] und Hildesheim-Absolventen Leif Randt,
hervortreten. Protagonistin Tanja schreibt an ihrem zweiten Roman in
Berlin, Protagonist Jerome ist Webentwickler und haust mietfrei im
elterlichen Bungalow. „Ihre Sorge ist ihr Selbst“, hieß es in der taz.
„Allegro Pastell“ ist der erste Randt-Roman, der in der sogenannten
Wirklichkeit spielt. Und der damit, stellvertretend für eine ganze Kohorte
Autor*innen, einen Realismus behauptet, der kaum bis gar nicht den eigenen
Klassenstandpunkt reflektiert. Stattdessen dann doch lieber die letzte
Therapie oder das Befinden der Monsterapflanze. Natürlich ganz ironisch und
leidlich depressiv.
Doch nicht alle Millennials haben die finanziellen Möglichkeiten, um vier
Mal in der Woche auf der Couch ihrer Therapeut*innen zu liegen, nicht alle
Schreibenden mit drei Nebenjobs die Zeit, ihre Familienissues zu
reflektieren. Die Geschichten der anderen Millennials sind selten zu lesen,
kaum auf den Großen Bühnen der Stadttheater zu sehen.
Dabei hat manch einer durchaus genug vom erschöpften Einheitsbrei der
Generation Bürgikids. „Mensch, ein Glück, es gibt noch andere wie mich“,
kommentiert der Berliner Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier die
Lektüre des von ihm inszenierten „Rückkehr nach Reims“. [3][Am Buch Didier
Eribons] interessierte ihn vor allem das Milieu der Arbeiterklasse, „die
soziale Gewalt der konkreten Ausbeutungsverhältnisse“. Es gibt ihn also –
den Wunsch, soziale Realitäten sichtbar zu machen.
Auch das Theater hält die soziale Frage von Bühne und Haus fern.
Entscheidend für diese milieuspezifische Contentarmut ist die Bezahlung.
Wer es im Theater zu etwas, nämlich einer 60-Stunden-Woche mit 2.000 Euro
Bruttoverdienst, bringen will, der muss erst mal unbezahlt oder unter der
Armutsgrenze klotzen, also in Vorleistung treten: unbezahlte Hospitanzen,
unbezahlte Wochenendarbeit, vorsorgende Ferienjobs und strafende Blicke,
wenn der alles finanzierende „Nebenjob“ den Proben in die Quere kommt.
## Förderung ist nur Rinnsal
Theater ist Sozialleben, fehlendes Kleingeld für das Abhängen nach der
Probe rächt sich in Form sozialer Missachtung oder im ausbleibenden
Jobangebot. Wie sehr die Startpositionen der kulturschaffenden zwanzig- bis
vierzigjährigen Millennials auseinanderklaffen, zeigt sich in der
gegenwärtigen Krise wie unter einem Brennglas.
Im Angesicht von Covid-19 werden die ohnehin beschaulichen Geldflüsschen im
Kulturbetrieb zum Rinnsal. Theater und Zeitungen führen reihenweise
Kurzarbeit ein, Konzerte, Lesungen und Performances fallen bis auf Weiteres
aus. Ein Ausfallhonorar einfordern fällt schwer, wenn man für den nächsten
Gig als unkomplizierte*r Auftragnehmer*in rüberkommen muss, über
nennenswerte Rücklagen oder gar eine Altersvorsorge verfügen die
allerwenigsten.
Zugleich steigt der Hunger der Institutionen nach freshen Inhalten, nach
innovativen Ideen, um die eiligst ausgerufene Online-Sphäre zu bespielen.
„Jetzt passiert, was ich mir schon lange gewünscht habe“, schwärmt
Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Spiegel-Interview. „Der Bereich
Kultur blüht in der digitalen Welt richtig auf.“
Diesen digitalen Content sollen nun die Millennials liefern, da sie als
Digital Natives das nötige Know-how mitbringen. Dabei leiden die prekär
Aufgestellten unter ihnen besonders an den krisenhaften Verhältnissen und
den bislang spärlichen digitalen Vergütungsmodellen. Überhaupt noch Kunst
und Kultur zu produzieren, könnte so zum Privileg derjenigen werden, deren
Familie mit privater Soforthilfe einspringt. Das hat System.
Bis in die Nullerjahre hinein wuchs eine Generation heran, der versprochen
wurde, sie könnte alles sein, solange sie sich nur richtig viel Mühe gab: A
fantastic Barbie girl oder a big brother, Anne Will oder Christian Kracht.
So drängten die Bildungsaufsteiger*innen der 90er zuhauf in ein Feld, das
sie nur halbherzig wollte. „Du hast noch keinen Erfolg? Selbst schuld!“,
geißelten sie sich.
Einen ersten heftigen Dämpfer erfuhr diese neoliberale Mär im Zuge der
Finanzkrise 2008; und nun steht laut IWF die heftigste Wirtschaftskrise
seit der Großen Depression der 1930er-Jahre bevor. Umso mehr drängt sich
die Frage auf, mit welchem Selbstverständnis Künstler*innen und
Kulturschaffende in die nächsten Jahre gehen wollen.
## Warum gibt es keinen Hilfsfond?
Klar ist: Während Kulturinstitutionen sich für eine Plattenbau-Biografie
und für digitale Innovationskompetzenz interessieren, nützt das herzlich
wenig, wenn davon nicht die Miete bezahlt werden kann. Wie also etwas
leisten, wenn von der eigenen Arbeit viele andere profitieren, nur nicht
diejenigen, die von ihrer Kunst leben müssen? Wie sollen sie Anerkennung
und Entlohnung rausschlagen?
Deutschlands Vorzeigeintellektuelle Carolin Emcke spricht davon, dass sie
nach Corona knutschen, raven und klassische Konzerte besuchen möchte. Warum
lanciert sie mit ihrem breiten Netzwerk keinen Hilfsfonds, der die Freiheit
vieler Schreibender in einem „Danach“ annähernd denkbar machen würde?
Individuelle Gesten der Solidarität könnten eine Debatte über die
Notwendigkeit struktureller Veränderungen im Kulturbetrieb anstoßen.
Entscheidungsträger*innen dazu zu zwingen, Verteilungsgerechtigkeit in
ihren Institutionen zu etablieren, ist aber unausweichlich. Und das hieße,
Förderungsmittel an soziale (und ökologische) Kriterien zu koppeln. Wenn
Kulturinstitutionen konkret nachweisen müssen, wie sie Diversität und
Inklusion fördern, wären symbolische Gesten kultureller Teilhabe passé.
Zugleich gilt es, Klassenbewusstsein außerhalb der etablierten
Institutionen zu praktizieren. Ein ermutigendes Beispiel ist das von einem
Autor*innenkollektiv [4][herausgegebene Magazin nous – konfrontative
literatur].
In der neuesten Ausgabe fordert Mesut Bayraktar, „Kulturindustrie und
falschem Frieden Gegenkultur und Gegengeschichte“ entgegenzusetzen – etwa
den zerschundenen Körper seines Vaters nach jahrzehntelanger
Fließbandarbeit: „Konkrete Utopie ist nicht utopistisch.“ Lasst sie uns
Stück für Stück in die Gesellschaft weben!
12 Jun 2020
## LINKS
[1] /27-Open-Mike-in-Berlin/!5636952
[2] /Leif-Randts-Roman-Allegro-Pastell/!5667929
[3] /Theoriegehalt-schwuler-Romane/!5627067&s=Didier+Eribon/
[4] https://nous-online.net/
## AUTOREN
Lynn Takeo Musiol
Eva Tepest
## TAGS
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