# taz.de -- Rechtsruck und Familie: „Mama, es reicht!“ | |
> Seine Mutter schickt ihm rassistische Whatsapp-Nachrichten, seit Jahren | |
> hetzt sie gegen Einwanderer. Wie soll Tom Vesterhold damit umgehen? | |
Bild: Was tun, wenn Eltern einem rechte Fake News schicken? | |
Ein Montag, viele Wochen bevor das Coronavirus das Land lahmlegt. Noch ist | |
es ein guter Tag. Tom Vesterhold sitzt an seinem Schreibtisch in der | |
taz-Redaktion, durch die Scheiben scheint die Sonne. Vesterhold, der in | |
Wirklichkeit anders heißt, hat ein schönes Wochenende mit seiner Frau und | |
den beiden Kindern verbracht, jetzt redigiert er einen Text, an dem es | |
nicht viel zu tun gibt. Dann macht es „ping“, das Handy zeigt eine neue | |
WhatsApp-Nachricht an. Von „Mama“, ist auf dem Gerät zu lesen. Vesterhold | |
zuckt zusammen. | |
Es ist ein Video des Bloggers Peter Weber. „Mir langen die deutschen | |
Straftäter, ich brauche da nicht noch jemand, der bei uns Schutz sucht, und | |
wir müssen vor denen Schutz suchen“, sagt der graumelierte Bauunternehmer | |
aus der Nähe von Nürnberg. Er hält einen angeblichen Leistungsbescheid in | |
die Kamera: eine Flüchtlingsfamilie mit sieben Kindern, „die noch nie in | |
das System eingezahlt hat“. Sie bekomme monatlich 3.916,83 Euro netto, sagt | |
Weber und grient. Dazu kämen noch Krankenversicherung und Miete. | |
„Wie soll ich das meinen Mitarbeitern vermitteln?“, fragt Weber. Die würden | |
trotz harter Arbeit viel weniger bekommen. Er halte „diese Toleranz für | |
krankhaft“. Und: „Wenn mich dann jemand als Rassist oder ausländerfeindlich | |
bezeichnet, dann muss ich sagen: Damit kann ich gut leben.“ Tom Vesterholds | |
Mutter hat nur den Link zu dem Film geschickt, ohne Kommentar. | |
Schon wieder, denkt ihr Sohn. Der Vorwurf, die deutschen Behörden zahlten | |
Flüchtlingen mehr als Hartz-IV-Empfängern, ist uralt und voller Fehler, | |
wenn nicht faustdicker Lügen. Vesterhold schaut sich die Facebook-Seite des | |
Bauunternehmers an: 110.000 Follower haben den Post gesehen. Wie kann es | |
sein, dass nun auch er seine Zeit mit dieser Hetze verbringen muss, fragt | |
sich Tom Vesterhold. Dass seine Mutter – und so viele andere – das alles | |
nicht nur glauben, sondern auch noch weiterverbreiten? | |
Er ruft eine Kollegin an, die hauptsächlich über Rechtspopulismus schreibt: | |
Was macht man mit solchen Posts? Wie reagiert man darauf, wenn man sie von | |
der eigenen Mutter bekommt? Wie ändert man das? | |
Gemeinsam entscheiden sie sich für ein Experiment. Vesterhold sucht sich | |
Hilfe in der Auseinandersetzung mit seiner Mutter, die Kollegin begleitet | |
ihn dabei. So entsteht dieser Text, eine Mischung aus journalistischer | |
Beobachtung und den Schilderungen und Gedanken Vesterholds. Weil diese sehr | |
persönlich sind, bleibt sein echter Name anonym, genau wie der seiner | |
Mutter. So soll die Familie geschützt werden. | |
Es ist ja nicht das erste Mal, dass Margarete Vesterhold ihrem Sohn | |
Nachrichten zukommen lässt, die direkt von der AfD stammen könnten. Seit | |
mindestens drei Jahren geht das so. Mal ist es ein Post über libanesische | |
Familienclans, mal ein Video über den angeblichen „Selbstmord Europas“ | |
durch zu viele Einwanderer oder eine Meldung von einer „Gruppe der | |
informierten Bürger“: „Ungarischer Geheimdienst: Tausende Migranten | |
bereiten Bürgerkrieg in Deutschland vor.“ | |
Dazwischen schickt Margarete Vesterhold ihrem Sohn, Fotos der Enkel oder | |
Tierbilder, um sie den Kindern zu zeigen. Dann kommt wieder ein Fake-Zitat | |
von Aydan Özoğuz (SPD), der ehemaligen Migrationsbeauftragten der | |
Bundesregierung: „Dass Asylbewerber kriminell werden, das ist einzig und | |
allein die Schuld der Deutschen, weil deren Spendenbereitschaft sehr zu | |
wünschen übrig lässt.“ Oder ein angeblicher Spruch von Sieglinde Frieß, | |
einer grünen Bundestagsabgeordneten: „Ich wollte, dass Frankreich bis zur | |
Elbe reicht und Polen direkt an Frankreich grenzt.“ | |
## Gibt sie den Hass an die Enkel weiter? | |
Ist doch alles Quatsch, Mama, könnte ich sagen. Fake News, Mama, | |
rassistischer Quark. Es ist doch anders, als es diese Posts vermitteln | |
wollen, alles gut gegangen bei dir – und auch in Deutschland. Jemand | |
versucht, dich zu manipulieren. Du bist jetzt 72 Jahre alt – und es geht | |
dir und uns verdammt gut, trotz angeblicher „Flüchtlingsschwemme“ oder | |
„Asylantenhorden“. Diese Menschen fliehen vor Krieg und Verfolgung, Terror | |
und bitterster Armut nach Europa, Mama. Viele haben ein Recht auf Asyl. All | |
das könnte ich sagen. Will ich aber nicht mehr. | |
„Das kannst du doch nicht einfach so durchgehen lassen“, sagt Vesterholds | |
Frau, wenn so eine Nachricht kommt. „Du musst mit ihr reden! Das geht so | |
nicht.“ Sie sorgt sich, dass Margarete Vesterhold zur AfD abdriftet. Und | |
was, wenn sie den ganzen Hass und die Verachtung an die Enkelkinder | |
weitergibt? | |
Was weiß ich, was Aydan Özoğuz wirklich gesagt hat? Und was Sieglinde | |
Frieß? Ich habe anderes zu tun, als diese absurden Pöbeleien zu widerlegen. | |
Und ich habe Mama schon so oft gesagt, dass sie mich mit dem rechten Murks | |
nicht behelligen soll. Wir haben uns schon so oft über Ausländer oder | |
Flüchtlinge gezofft. Über ihr Menschenbild. Ihre sinnlose Angst vor dem | |
Fremden. Knallharte Streite – und total sinnlose dazu. Die Frau ist | |
unbelehrbar. Ich will das nicht schon wieder. Und ich habe auch Angst vor | |
dem Krach. Das bringt doch nix. Die ändert sich eh nicht mehr. | |
Widerspricht Vesterhold, ist der Streit da. Ohne dass seine Mutter einen | |
Millimeter von ihrem Standpunkt abrückt. Am Ende bleibt nichts als | |
Geschrei. Wenn er sich nicht zu den „Nazi-Parolen“ – so nennt es | |
Vesterholds Frau – äußert, ist Ruhe. Deshalb hat er zuletzt immer weniger | |
dazu gesagt. Die Parolen seiner Mutter ärgerten ihn dann zwar, verhallten | |
aber im Nichts. | |
Die Vesterholds sind mit diesem Konflikt nicht allein. Ein rassistischer | |
Spruch von Opa beim Spaziergang, ein homophober Witz bei Mutters | |
Geburtstag, das gehört in vielen Familien zum Alltag. Und dazu die Fragen | |
mancher Angehörigen: Sag ich was oder gehe ich darüber hinweg? Ist das noch | |
eine Meinung, die mir nicht gefällt, die ich aber aushalten muss? Oder muss | |
ich jetzt widersprechen – und die Stimmung killen? | |
In den vergangenen Jahren hat sich der gesellschaftliche Diskurs verändert. | |
Oft schleichend, manchmal aber auch mit einem Paukenschlag. Einer davon war | |
Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, der vor zehn | |
Jahren auf den Markt kam. Schnell wurde die muslimfeindliche Schrift zu | |
einem der meistverkauften Sachbücher der bundesdeutschen Geschichte. Dinge, | |
die hierzulande im öffentlichen Diskurs marginalisiert schienen, sind nach | |
und nach wieder offen sagbar geworden. Und laut. [1][Rassistische, | |
antisemitische Einlassungen, homophobe und sexistische Sprüche, | |
menschenfeindliche Äußerungen.] | |
Die AfD hat eifrig daran mitgewirkt – und spaltet die Gesellschaft weiter. | |
Der Riss geht durch viele Familien. Das hat selbst Alexander Gauland, | |
Fraktionschef der AfD im Bundestag, zu spüren bekommen. In einem Interview | |
berichtete er vor einigen Monaten, ein Teil der Familie habe mit ihm | |
gebrochen. „Fast die ganze Verwandtschaft meiner Frau lehnt die AfD | |
vollständig ab. Das Haus wird nicht mehr betreten.“ | |
Den klaren Bruch kann man im Fall von Gaulands Verwandtschaft für die | |
richtige Konsequenz halten. Aber Margarete Vesterhold ist nicht Alexander | |
Gauland. Sie ist noch nicht einmal in der AfD, auch wenn die Sprüche dazu | |
passen würden. Und Tom Vesterhold will keinen Bruch mit seiner Mutter, | |
schon wegen seiner Kinder nicht, denen er die Oma nicht nehmen will. | |
Als Vesterhold nach Unterstützung sucht, stößt er auf den Verein | |
„[2][Kleiner Fünf]“. Dessen Ziel: Menschen zu motivieren, gegen | |
Rechtspopulismus aktiv zu werden, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Das | |
Konzept von „Kleiner Fünf“, gerade für den privaten Bereich, heißt | |
„radikale Höflichkeit“. Es ist der Versuch, mit Familie und FreundInnen im | |
Austausch zu bleiben – auch über heikle Themen. Klar zu sprechen, aber so, | |
dass man sich nachher noch in die Augen schauen kann. Könnte passen, denkt | |
Vesterhold. | |
Doch es braucht noch einige weitere rechtspopulistische Nachrichten seiner | |
Mutter, bis er per Mail bei dem Verein um einen Termin bittet. | |
Wenig später sitzt er in einer ehemaligen Fabriketage in Berlin-Kreuzberg, | |
zweiter Hinterhof, erster Stock. Ein weiß getünchter, karger | |
Besprechungsraum in einem Co-Working-Space. Hier hat sich „Kleiner Fünf“ | |
eingemietet. Auf dem Tisch stehen Kaffee und Wasser. Gegenüber von | |
Vesterhold haben zwei TeamerInnen des Vereins Platz genommen. | |
„Wichtig ist: Es gibt nicht die eine Strategie“, sagt Philipp Steffan, | |
Anfang 30, wuschelige Kurzhaarfrisur und Dreitagebart. „Wir wollen | |
herausfinden, was dir wichtig ist. Wo sind deine Grenzen, die überschritten | |
werden? Und dann überlegen wir gemeinsam, wie man vorgehen kann.“ | |
„Kleiner Fünf“ ist ein spendenfinanzierter Verein, zu dem sich vor vier | |
Jahren einige AktivistInnen, die meisten von ihnen in den Zwanzigern, | |
zusammengetan haben, um gegen Rechtspopulismus vorzugehen. Sie waren | |
geschockt darüber, wie AfD- oder Pegida-Parolen den gesellschaftlichen | |
Diskurs zunehmend bestimmten – und fühlten sich machtlos. „Unsere Erfahrung | |
war, dass wir mit unserer Sprache und unseren Handlungen nicht | |
weiterkamen“, sagt Paulina Fröhlich, die neben Steffan sitzt. „Wir merkten: | |
Wir brauchen eine Kommunikation, die nicht an der Oberfläche bleibt, die | |
uns tiefer trägt. Sonst bleibt es bei Schlagabtauschen, die nichts ändern.“ | |
Das ursprüngliche Ziel steckt im Namen des Vereins: Die AktivistInnen | |
wollten die AfD bei der Bundestagswahl 2017 unter fünf Prozent halten – und | |
damit aus dem Bundestag heraus. Das ist gescheitert. Doch „Kleiner Fünf“ | |
entschied, weiterzumachen, unter anderem mit Workshops zur radikalen | |
Höflichkeit. Hauptsächlich, so Fröhlich, stelle der Verein Tipps für | |
Menschen bereit, deren GesprächspartnerInnen kein verfestigtes rechtes | |
Weltbild haben. Sondern bei denen eine Chance auf Gemeinsamkeiten, Ruhe und | |
Respekt besteht. | |
Sie wollen verhindern, dass sich alle in ihre Blasen zurückziehen, ihre | |
Ansichten nicht mehr in Frage stellen. Denn das führe zu immer radikaleren | |
Meinungen, Gespräche mit Andersdenkenden würden immer schwieriger. Das | |
schade nicht nur Familien und Freundeskreisen, sondern auch der Demokratie. | |
So steht es in einem kleinen Buch mit dem Titel „Sag was!“, das der Verein | |
herausgeben hat. Einzelberatung bietet das Team normalerweise nicht an, die | |
Gespräche mit dem Journalisten Vesterhold sind eine Ausnahme – weil daraus | |
dieser Text entstehen soll. | |
„Wir haben uns schon immer viel gestritten, erbittert gestritten“, erzählt | |
Vesterhold jetzt. „Über Geld, über meine Frauen, meine Jobs, über viel | |
Fundamentales.“ Auch früher, als er noch ein Teenager war, ging es schon um | |
„Ausländer“, die seine Mutter auch gern „Asylanten“, „Schwatte“ od… | |
nennt. Es gab jahrelange Kontaktsperren zwischen Mutter und Sohn. Vieles | |
änderte sich, als die Enkel kamen. Sie sind jetzt vier und sechs. Die | |
Kinder, sagt Vesterhold, seien für ihn die Chance für einen Neuanfang mit | |
seiner Mutter gewesen. | |
Sie kümmert sich toll um sie, nimmt sie auch mal eine ganze Woche zu sich – | |
und wir können freimachen. Das ist eine Hilfe, die ich ihr hoch anrechne, | |
das hat viel dazu beigetragen, sie wieder mehr schätzen zu lernen. Wir | |
hatten ja Jahrzehnte nur Dauerkrach. Soll ich das alles aufs Spiel setzen, | |
damit sie mir keinen rechten Kram mehr schickt? Da schweige ich lieber. | |
Das dachte ich lange. Mama sollte Oma sein. Mich in Ruhe lassen. Und gut. | |
Bekehren kann ich sie sowieso nicht. Eine Mutter, die keine rechten Parolen | |
schwingt, würde alles natürlich viel einfacher machen, unser Verhältnis | |
noch mehr entspannen. Ich wage aber gar nicht, mir eine tolerante Mutter zu | |
wünschen. Das ist, so viel ist nach all dem Geschrei klar, völlig | |
ausgeschlossen. | |
Die Mutter radikalisiert sich | |
Mit dem [3][Flüchtlingssommer 2015] aber wurden die Konflikte zwischen | |
Mutter und Sohn schlimmer. Schon wenn sie ihn bei einem Besuch mit dem Auto | |
vom Bahnhof abholte, ging es los. Spätestens, wenn sie sich auf ihrer | |
Terrasse zum Kuchen hinsetzten, krachte es. | |
„Diese Araber wollten mich vom Bürgersteig auf die Straße drängen“, habe | |
seine Mutter mal erzählt, sie sei voll mit Wut gewesen, erzählt Vesterhold | |
bei „Kleiner Fünf“. „Die hatten so hässliche Gesichter und rochen fies.… | |
„Aber Mama, vielleicht haben sie dich einfach nicht gesehen.“ – „Die wo… | |
hier die Chefs werden, die passen einfach nicht hierhin.“ Das habe er so | |
nicht stehenlassen können: „Wir gifteten uns an.“ Irgendwann wollte sie | |
mitbekommen haben, dass in Sichtweite ihres Hauses im Fränkischen | |
Flüchtlinge untergebracht werden sollten. „Ich geb mir die Kugel“, | |
schimpfte sie. | |
Margarete Vesterhold hat nach Volksschulabschluss und Hotelfachlehre in | |
gutbürgerlichen Restaurants gekellnert, die sie gemeinsam mit Vesterholds | |
Vater, einem Koch, betrieb. Dann machte sie den Realschulabschluss per | |
Telekolleg nach. Und sattelte eine Ausbildung drauf: Die letzten drei | |
Jahrzehnte bis zur Rente arbeitete sie als Steuerfachgehilfin. Heute | |
besitzt sie zwei Häuser in einer kleinen Stadt in der Nähe einer | |
fränkischen Großstadt. | |
Es ist eine klassisch westdeutsche Aufstiegsstory der 70er, 80er, 90er. | |
Wohlstand und Maloche, sie hat es geschafft. Ihre Mutter starb früh, die | |
Stiefmutter war gar nicht nett zu ihr, die Trennung von meinem Vater Anfang | |
der nuller Jahre hat Mama bis heute nicht richtig verwunden. Das waren die | |
Tiefschläge. Aber sonst? Finanziell hat sie ausgesorgt. Mamas große | |
Erzählung: „Ich hatte nichts. Deine Oma hat uns nur Plastikschüsseln zur | |
Hochzeit geschenkt, darin habe ich dich gebadet.“ Und: „Ich wollte immer, | |
dass du es mal besser hast als ich.“ | |
Margarete Vesterhold hält heute den Staat, das ganze System, das ihr den | |
Aufstieg ermöglicht hat, für marode, als stehe alles kurz vor dem Kollaps – | |
und das bereits lange bevor das Coronavirus das Land tatsächlich lahmgelegt | |
hat. Die Grünen, meint sie, dominierten alles, und die CDU „mit der Frau | |
Merkel“, wie sie verächtlich sagt, eifere ihnen nach. | |
Das Absurde: Die Mutter, die das alles mit aufgebaut hat, empfindet das | |
System heute als morbid, der früher staatskritische Sohn ist mittlerweile | |
auch mal einer Meinung mit der Regierung. Etwa beim Offenhalten der Grenzen | |
2015. | |
„Das geht vielleicht noch für mich gut, aber nicht mehr für die Kinder“, | |
sage seine Mutter, erzählt Tom Vesterhold in der Kreuzberger Fabriketage. | |
Und: „Mit diesen Schwatten, die jetzt hier auf dem Rathausplatz rumlungern, | |
kann das nicht lang gut gehen in Deutschland.“ | |
„Woher kommt das?“, fragt Paulina Fröhlich. „Woher kommt bei deiner Mutt… | |
diese Wut?“ | |
Vesterhold stutzt kurz, er überlegt. „Sie hat das Gefühl, die nehmen ihr | |
etwas weg. Und dass das ungerecht ist, weil sie so für ihr Geld schuften | |
musste. Sie hat sich alles erarbeitet und die Migranten werden mit | |
Sozialleistungen gepampert – das ist ihre Erzählung.“ | |
Vielleicht, schlägt Fröhlich vor, sei es gut, sich zu überlegen, wann Tom | |
Vesterholds eigenes Gerechtigkeitsgefühl mal so richtig in Frage stand. | |
Vesterhold guckt sie fragend an. „Wir versuchen, in Gesprächen an das | |
Kerngefühl heranzukommen“, erklärt Fröhlich. „Solange wir bei einem | |
politischen Thema wie Sozialleistungen bleiben, hauen wir uns Argumente um | |
die Ohren, docken aber nicht wirklich aneinander an. Wir hören einander | |
nicht richtig zu, lassen uns nicht ein. Woher kommt das?, könnte auch ein | |
Ausgangspunkt für ein Gespräch mit deiner Mutter sein. Aber die Frage darf | |
nicht vorwurfsvoll sein.“ | |
Vesterhold ist skeptisch. Da sei man, sagt er, doch schnell bei | |
Küchenpsychologie. „Dann landen wir gleich dabei, dass schon der Vater | |
ihren Bruder bevorzugt hat. Das ist ihr Grundgefühl. Sie ist immer | |
benachteiligt worden.“ | |
„Dann fangen wir noch mal anders an“, sagt Steffan. „Was willst du mit dem | |
Gespräch erreichen? Willst du, dass sie dich hört? Willst du, dass sie | |
einverstanden ist? Willst du, dass sie etwas umsetzt?“ Es sei ganz wichtig, | |
sich das klarzumachen. | |
„Spontan würde ich sagen, sie soll den Mund halten“, platzt es aus | |
Vesterhold heraus. Und etwas später: „Aber überlegt würde ich sagen, dass | |
es darum geht, wie wir miteinander umgehen können. Sie soll mich und meine | |
Meinung akzeptieren – und mich nicht mit dem rechten Zeug verpesten.“ | |
Das ist etwas anderes als Fröhlichs Vorschlag, mit der Frage „Woher kommt | |
das?“ den Dingen auf den Grund zu gehen. Fröhlich betont noch einmal, wie | |
wichtig es sei, dass die Logik der rechtspopulistischen Kommunikation von | |
Feindbild und Bedrohung gebrochen werden muss. „Man wird kein Verständnis | |
gewinnen, wenn man nicht bereit ist, dieses Modell zu hinterfragen. Woher | |
kommt das? Diese Frage ist unserer Erfahrung nach extrem nützlich. Wir | |
raten ja fast ab von inhaltlichen Diskussionen. Sonst sind wir wieder beim | |
Schlagabtausch.“ Vesterhold nickt zögerlich. Ganz überzeugt scheint er | |
nicht zu sein. | |
Steffan gibt noch ganz praktische Tipps: „Rede mit ihr allein, mit Zeit, | |
nicht am Telefon und nicht bei ihr oder dir, und am besten in Bewegung.“ | |
Die Mitte verliert ihre demokratische Orientierung | |
Andreas Zick ist Sozialpsychologe und Konfliktforscher an der Universität | |
Bielefeld. „Solche Konflikte dürften häufig vorkommen“, sagt er am Telefo… | |
„Man muss davon ausgehen, dass der Riss quer durch viele Familien geht.“ | |
Zick gehört zu einer Forschungsgruppe, die seit 2002 bundesweit die | |
Einstellungen zu „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ abfragt. „Bei | |
allen Faktoren – Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus – liegen | |
die Werte bei den Alten höher“, sagt Zick. Dabei gehe es oft um | |
„Etabliertenrechte“, also eine Art Besitzstandswahrung. Die alte These von | |
der größeren Radikalität der Jugend hält er für falsch, sie stimme nur bei | |
den Straftaten. „Deshalb muss es in den Familien haufenweise Konflikte | |
geben“, sagt Zick. Konkrete Studien dazu aber gebe es nicht. | |
Neue Daten zeigten allerdings, dass es zwischen Frauen und Männern keine | |
gravierenden Unterschiede mehr bei menschenfeindlichen Einstellungen gebe, | |
so Zick. Lange Zeit waren Frauen laut Studien rassistischer eingestellt. | |
Auch mit Blick auf rechtspopulistische Vorstellungen gleichen sich Frauen | |
und Männer. In den Untersuchungen, die Zick durchgeführt hat, sind diese | |
seit 2016 stabil. Das heißt aus Sicht der ForscherInnen aber auch: Sie sind | |
in der Mitte normaler geworden. | |
Deshalb hieß die Studie, die 2016 noch den Titel „Gespaltene Mitte“ trug, | |
zuletzt bereits „Verlorene Mitte“. Das Resümee der WissenschaftlerInnen: | |
„Die Mitte verliert ihren festen Boden und ihre demokratische | |
Orientierung.“ | |
Die Vesterholds haben, erzählt der Sohn in der Kreuzberger Fabriketage, | |
eine Woche in einem Familienhotel in der Rhön geplant. Mit Kinderbetreuung. | |
Mutter, Sohn, Enkelkinder. „Perfekt“, sagt Steffan. „Und was machst du | |
dann?“ | |
„Dann sag ich: Willst du wirklich, dass die Ungerechtigkeit, die dir damals | |
widerfahren ist, jetzt andere trifft?“ | |
„Das ist eine vorwurfsvolle und nicht besonders offene Frage“, sagt | |
Steffan. Vielleicht sei es besser, er sage: „Wir streiten seit Jahren | |
heftig und wir merken, dass wir grundsätzlich eine andere Vorstellung von | |
der Welt und von Gerechtigkeit haben. Das irritiert mich. Ich wüsste gern: | |
Wie kommst du dazu?“ Fröhlich schlägt vor, sich auf ein paar Regeln zu | |
einigen. Zum Beispiel, dass die Mutter keine Posts mehr schickt, sondern | |
stattdessen zum Telefon greift und mit ihrem Sohn spricht. | |
Dann wird das Gespräch in dem Besprechungsraum einmal durchgespielt. | |
Fröhlich verteilt die Rollen: Tom Vesterhold soll seine Mutter spielen, | |
Fröhlichs Kollege den Sohn. | |
In dem Rollenspiel bleibt der gespielte Sohn eng an seinen Fragen, wieder | |
und immer wieder hakt er nach. „Woher kommt das?“ – „Warum ist das so?�… | |
„Ich verstehe den Zusammenhang nicht.“ – „Lass uns noch mal auf meine | |
Ausgangsfrage zurückkommen.“ Tom Vesterhold, in der Rolle seiner Mutter, | |
grantelt, lässt rechtspopulistische Sprüche los, irgendwann weiß er nicht | |
mehr weiter. Als er später bei der Auswertung über seine Rolle spricht, | |
sagt er: „Du hast versucht, mich festzunageln, ich wollte nicht antworten, | |
ich bin in Rechtfertigungsdruck gekommen.“ | |
Sechs Wochen später fährt Vesterhold mit seiner Mutter und den Kindern zum | |
Urlaub in die Rhön. Dort macht er sich Notizen. | |
Mama und ich spazieren durch den Wald. Wir haben drei Stunden Zeit. Die | |
Kinder werden im Hotel betreut, sonst ist niemand in der Nähe – und ich | |
nehme mein Herz in die Hand. | |
„Mama, ich wollte dir noch mal sagen, dass ich nicht mehr diese | |
ausländerfeindlichen Nachrichten von dir bekommen will. Lass uns bitte | |
nicht darüber streiten, lass uns darüber ganz in Ruhe reden.“ | |
„Wieso?“ | |
Ich-Aussagen, eigene Wünsche formulieren, nüchtern sprechen, denke ich. „Es | |
schockt mich jedes Mal, dass du den Geflüchteten nicht das zugestehen | |
willst, was ihnen laut Grundgesetz zusteht. Also: Was ist eigentlich das | |
Problem?“ | |
Sie antwortet ganz ruhig, das überrascht mich: „Mir macht das einfach Angst | |
mit den Ausländern. Das sind einfach zu viele. Ich will hier raus, ich | |
halte das nicht mehr aus“, sagt sie. Sie denke gerade übers Auswandern | |
nach, vielleicht nach Rumänien, denn die Schweiz könne sie sich nicht | |
leisten. | |
„Ich ertrage das einfach nicht mit der deutschen Politik. Wenn wenigstens | |
nur Menschen aus Asien hier einwandern würden, wäre es nicht so schlimm. | |
Die sind fleißig, die packen an. Aber diese Araber, die hier die Hand | |
aufhalten. Daran geht das Land zugrunde. Bald gibt es keine Deutschen mehr, | |
nur noch diese Viecher.“ | |
Früher hätte ich mich über das Wort „Viecher“ aufgeregt. Jetzt versuche | |
ich, sachlich zu bleiben. Erzähle von einer Untersuchung der Bundesanstalt | |
für Arbeit, laut der vergleichsweise viele der vor fünf Jahren nach | |
Deutschland Geflüchteten inzwischen hier eine Beschäftigung gefunden haben. | |
Sie spricht von ihrer türkischstämmigen Friseurin: „Die hat mir die Haare | |
schief geschnitten, seitdem sie mit einem Mann verheiratet ist, der nur | |
Türkisch kann.“ | |
Hilft das Konzept „radikale Höflichkeit“? | |
Sechs Wochen später sitzt Vesterhold wieder bei „Kleiner Fünf“ in der | |
Kreuzberger Fabriketage. „Eure Tipps sind super, legendär“, beginnt er. | |
„Zunächst hat alles wie am Schnürchen geklappt. Wir in der Rhön, die Kinder | |
im Kinderprogramm, Mama und ich im Wald. Mehrmals. Es kam ein ruhiges und | |
gesittetes Gespräch zustande.“ | |
Dann erzählt er aber auch, dass seine Mutter wieder von den „Schwatten“ | |
gesprochen habe. Dass sie sich weiter abfällig über Migranten geäußert | |
habe. Dass kurze Zeit nach dem Urlaub neue Posts gekommen sind. | |
Steffan und Fröhlich gucken skeptisch. „Du hast gesagt, die Tipps seien | |
legendär. Aber was außer einer guten Gesprächsbasis war da noch?“, fragt | |
Steffan vorsichtig. „Sie schickt dir weiterhin diese Nachrichten?“ | |
„Nicht mehr so viele, aber schon noch“, antwortet Vesterhold. „Für mich | |
besteht der Fortschritt darin, dass wir überhaupt ruhig miteinander reden | |
konnten. Es gab ein Gespräch über Zuwanderung, aber wir sind nicht laut | |
geworden. Für mich ist das was. Ich wollte sie schließlich nicht bekehren.“ | |
Dass er vorher als Ziel formuliert hatte, keine dieser Nachrichten mehr zu | |
bekommen, ficht ihn nicht an. Bei dem Gespräch jetzt lenkt er ab, immer | |
wieder. Will über die AfD sprechen und die Auseinandersetzung mit der | |
Partei. Fragt, ob man so auch Gauland, Höcke und Co beikomme. Und ob man | |
gegen die nicht endlich etwas Schlagkräftiges unternehmen müsse. Die | |
Demokratie sei schließlich in Gefahr. Doch die beiden Teamer machen klar: | |
Die Auseinandersetzung mit Funktionären ist etwas völlig anderes. Hier, bei | |
ihrer Methode der radikalen Höflichkeit, gehe es um private Kontakte. | |
„Vielleicht“, sagt Steffan schließlich, „könntest du trotzdem nochmal | |
sagen, dass du diese Nachrichten nicht mehr willst. Etwa so: ‚Ich finde es | |
toll, dass wir jetzt darüber reden, aber ich will diese Posts nicht mehr | |
bekommen.‘“ Oder vielleicht könne man sich auf Regeln verständigen, dass | |
etwa das N-Wort nicht fällt, fügt Fröhlich an. Dann fragt sie, ob die | |
Mutter zugehört habe, ihn habe ausreden lassen, wie das Gespräch geendet | |
sei. Perfekt sei es nicht gewesen, sagt Vesterhold, aber ein Anfang. Ein | |
guter Anfang. | |
Immerhin hat meine Mutter noch nie AfD gewählt, sagt sie, sondern meistens | |
CDU oder in Bayern eben CSU. Die Begründung fand ich gut. Sie sagte: „Ich | |
bin mir da nicht so sicher mit der AfD. Da sind auch ganz schön viele | |
Proleten dabei.“ Das hat mich erleichtert. Auch wenn es ihr nicht um die | |
Inhalte, sondern nur um die Specknacken in der AfD ging. | |
„Vielleicht hat sich dein Ziel auch verändert“, sagt Fröhlich jetzt. | |
Vesterhold denkt kurz nach. „Ja, vielleicht stimmt das.“ | |
Ich bin froh, dass ich jetzt überhaupt mit ihr reden kann. Dass sie mich | |
als Gesprächspartner akzeptiert. Dass wir nicht gleich brüllen. Das ist | |
auch schon was. Vielleicht wird daraus ja mehr. | |
Und dann kam Corona: Ein Enkelbesuch im März wird abgebrochen, als klar | |
wird, dass die Ansteckungsgefahr gerade für Ältere zu hoch und das Virus | |
für sie besonders gefährlich ist. Es gibt Telefonate und Videochats | |
zwischen Großmutter, Sohn und Enkeln. Aber es gibt kaum noch Konflikte. Die | |
Pandemie, die Einsamkeit der Alten, der Stress mit ihrem Lebensgefährten, | |
die Probleme der Familie mit geschlossener Kita und viel Arbeit dominieren | |
die Gespräche. Margarete Vesterhold hat andere Prioritäten. [4][Auf die | |
Corona-Verschwörungstheorien der Rechten springt sie nicht an.] Sie fühlt | |
sich einsam. Die AfD-Posts per WhatsApp versiegen. | |
Ein Erfolg unserer Gespräche ist das wahrscheinlich nicht. Ich habe Mama | |
nicht bekehrt. Und ich fürchte, sie kommt irgendwann wieder mit ihrer | |
Hetze. Aber immerhin schreien wir uns deshalb nicht mehr an. Ich versuche, | |
„radikal höflich“ zu sein, die Schlagabtausche zwischen uns sind selten | |
geworden. Atmosphärisch hat das viel verbessert. Grundsätzlich geändert hat | |
es nichts. Oder doch? | |
„Wisst ihr was? Ich vermisse euch“, sagt Margarete Vesterhold zu ihren | |
Enkeln am Telefon. Sie und die Kinder sind eigentlich unzertrennlich, aber | |
da antworten sie nicht. Kinder sind manchmal eben so. Doch ihr Schweigen | |
tut Vesterhold leid. Er würde seine Mutter, die sonst selten über ihre | |
Gefühle spricht, jetzt gerne in den Arm nehmen. Das ist, wie er später | |
erzählen wird, eine ungewohnte Reaktion von ihm. Wie lange sie wohl noch | |
lebt, fragt er sich. Die Pandemie hat die Auseinandersetzungen der | |
Vesterholds in den Hintergrund gerückt. Plötzlich gibt es Wichtigeres, als | |
das, was die Beziehung zwischen Mutter und Sohn über Jahre so schwierig | |
gemacht hat. Corona wird vergehen. Ob die Annäherung bleiben wird? Tom | |
Vesterhold wünscht es sich. Nicht nur wegen der Kinder. | |
13 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Ueber-alltaeglichen-Rassismus/!5676807&s=alltagsrassismus/ | |
[2] https://www.kleinerfuenf.de/de | |
[3] /Onlineangebote-fuer-Fluechtlinge/!5324148 | |
[4] /Verschwoerungstheorien-und-Corona/!5685699&s=verschw%C3%B6rung/ | |
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