# taz.de -- Wie die Rechten Gesellschaft verändern: „Ja, am 20. April“ | |
> Beim Smalltalk mit Fremden ist die Unschuldsvermutung dahin. Schnell | |
> checken wir ab, wo diese politisch stehen. | |
Bild: Erstmal abchecken, mit wem man sich auf dieser Bank unterhält | |
Neulich auf einer sonnenbeschienenen Parkbank vor dem Rathaus eines Dorfes | |
im Schwarzwald: Eine Frau setzt sich dazu. Die Knie tun ihr weh. Eigentlich | |
stehe eine OP an, sie will aber nicht, abnehmen müsste sie und die Jüngste | |
sei sie nicht mehr. Welcher Jahrgang sie ist, frage ich. 1954. „Dann werden | |
Sie siebzig.“ Sie: „Ja, am 20. April.“ Ich sofort: „An Hitlers Geburtst… | |
Sie: „Lassen Sie mich in Ruhe, mit dem habe ich nichts zu tun.“ Ich lasse | |
nicht locker. „Immer mehr wollen wieder was damit zu tun haben.“ „Schlimm | |
ist das“, sagt sie, „aber ich kann nichts für den Tag, an dem ich geboren | |
bin.“ | |
Ich habe ihr Geburtsdatum absichtlich benutzt, um abzuchecken, wo sie | |
politisch steht. Erst dann kann ich unbefangen mit ihr reden. Ich bin | |
öfters im Dorf und werde ihr vermutlich wieder über den Weg laufen. | |
Wenn fünf Leute zusammenstehen, wählt statistisch [1][einer oder eine AfD], | |
in Sachsen und Sachsen-Anhalt Umfragen zufolge sogar einer von dreien. Das | |
ist die Ausgangslage. Im Gespräch mit Fremden will ich wissen, mit wem ich | |
es zu tun habe. Denn das beeinflusst den Fortgang der Unterhaltung. Und da | |
liegt die Krux, denn [2][Alltagsgespräche] sind eigentlich spontan und | |
hierarchiefrei. Neuerdings jedoch nicht mehr. Denn wer erst herausfinden | |
will (oder muss), wo das Gegenüber politisch steht, sprengt die | |
stillschweigend eingegangenen Regeln des Smalltalks. | |
Eine andere Situation: Bei einem Spaziergang mit meiner Freundin kommen wir | |
ins Gespräch mit einem Mann, der Baumstämme an seinen Traktor anhängt und | |
aus dem Wald zieht. Ob es Sturmschäden seien? „Nein, der Borkenkäfer“, sa… | |
er. „Die sehen doch ganz gesund aus“, interveniere ich. Er deutet auf die | |
Stämme der noch stehenden Tannen, „Sehen Sie, überall fehlt die Rinde.“ U… | |
nach einer Pause, in der er uns mustert: „Es ist der Klimawandel.“ | |
[3][Zu lange Pausen] sind eine Wegscheide in Alltagsgesprächen, sagen | |
Kommunikationsforscher. Dadurch entstehe eine ungleichgewichtige Situation. | |
Uns war sofort klar: Der Mann checkt uns. Aber wir sind d’accord. Leugnen | |
nicht, dass es immer wärmer wird. | |
Wie wäre das Gespräch verlaufen, frage ich meine Freundin, als wir | |
weitergehen, wenn wir geantwortet hätten: „Früher gab es den Borkenkäfer | |
doch auch, was hat das mit Klimawandel zu tun? Der Klimawandel ist eine | |
Lüge der Grünen“? | |
## Beide Seiten der sich radikalisierenden Gesellschaft | |
Die beiden Episoden sind nicht die einzigen, bei denen mir, aber auch den | |
Kolleg*innen, mit denen ich darüber gesprochen habe, auffällt, dass ein | |
Gespräch mit Fremden mitunter auf Themen gelenkt wird, an denen sich die | |
beiden Seiten der [4][sich radikalisierenden Gesellschaft] manifestieren. | |
Weil man wissen will, wo der andere steht, um die Gesprächsstrategien | |
anzupassen. | |
Wenn es einen Indikator braucht, um zu zeigen, dass sich die Gesellschaft | |
verändert, dass sie in Lager zerfällt, zwischen denen die Kommunikation | |
unterbrochen, wenn nicht gar vergiftet ist, dass sich Gräben zwischen den | |
Lagern auftun, die unüberbrückbar sind, hier also ist einer. | |
Dies aber verändert, wie wir miteinander umgehen. Als wäre die | |
Unschuldsvermutung bei einer Begegnung mit Fremden dahin. Und mit ihr die | |
Leichtigkeit, die Unbefangenheit, die Selbstverständlichkeit. | |
Etwas hat sich verändert, es ist unbemerkt in unser Alltagsverhalten | |
geschlichen, wie ein Dieb, der nachts einbricht. Und der Verlust, der | |
droht, kündigt sich schon an. Wie kürzlich auf einer Demo gegen rechts in | |
Neuruppin: Eine Freundin, die wir dort begleiten, verteilt Aufkleber, auf | |
denen [5][Erich Kästner zitiert] wird, der mahnt, dass Diktaturen nur | |
bekämpft werden können, solange sie nicht an der Macht sind. „Darf ich | |
Ihnen das geben?“, fragt meine Freundin eine Zuschauerin. „Ach, lassen Sie | |
mich in Ruhe mit Ihrer Demokratie“, antwortet diese. Waltraud Schwab | |
19 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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