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# taz.de -- Proteste gegen Polizeigewalt: Über Gewalt und Sicherheit
> Was die Morde von Solingen, die Proteste gegen Polizeigewalt in den USA
> und die Sehnsucht nach Sicherheit miteinander zu tun haben.
Bild: Vor das Gefängnis von Pittsburg haben sich Demonstranten auf die Straße…
Vor 27 Jahren fuhr ich nach Solingen, wo bei einem rechtsradikalen
Brandanschlag fünf Angehörige einer türkischstämmigen Familie getötet
wurden. Es war ein großer Schock, wie jedes dieser Pogrome und der Morde,
die in diesen Jahren stattfanden – Solingen reihte sich ja ein in
Geschehnisse wie den gewalttätigen Mob von [1][Hoyerswerda und
Rostock-Lichtenhagen, aber auch die Morde von Mölln].
Wenn ich mich nicht völlig täusche, dann war Solingen der allererste Fall,
bei dem es zu gewalttätigen Krawallen der jungen Einwanderergeneration in
Deutschland kam. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals mit jungen
Migrantinnen und Migranten durch die Stadt lief, wie Scheiben klirrten, wie
wir später in einem alevitischen Restaurant zusammen saßen und ich mit der
Tochter des Betreibers sprach. Ich kann mich mehr an meine Emotionen als an
die konkreten Vorkommnisse oder gar an die genauen Gespräche erinnern.
Aber ich weiß, dass ich diesen militanten Aufstand der jungen Migrantinnen
und Migranten gut und richtig fand, und zwar gerade den der normalen, nicht
politisch besonders artikulierten. Die Hauptemotion war einfach die
normaler junger Leute, die Jahre von Diskriminierungserfahrungen und Morden
erlebt hatten und die jetzt ausdrückten: Wir lassen uns nicht mehr alles
gefallen.
Ich fühlte mich ihnen zugetan.
Ich muss daran immer wieder denken, wenn die [2][Bilder brennender
Häuserzeilen und geplünderter Geschäfte aus den USA] zu sehen sind.
Natürlich bin ich ein Gegner von Gewalt. Und noch mehr bin ich ein Gegner
von Politaktivisten, die glauben, mit gewalttätiger Straßenmilitanz
irgendein „System“ herausfordern zu können. Das ist blöde
Klassenkriegs-Romantik.
## Friedrich Engels
Über diesen Unsinn hat schon der alte Friedrich Engels 1895 alles gesagt,
was zu sagen ist, nämlich dass wir Radikalen bei den gesetzlichen Mitteln
besser gedeihen als mit den revolutionären Mitteln (ja, auf seine alten
Tage machte der greise Engels selbst die „reformistische Revision“, und
zwar in einer Schärfe und Klarheit, die nichts zu wünschen übrig ließ).
Aber die [3][spontanen Wutausbrüche] derer, die von Chancenlosigkeit,
Diskriminierung und alltäglicher Polizeigewalt gepeinigt sind, sind etwas
ganz anderes. Sie sind absolut verständlich. Lachhaft sind die Fürsprecher
gewaltsamer Verhältnisse, die den Opfern Friedfertigkeit predigen.
Der Moderator und Comedian Trevor Noah („The Daily Show“) hat das so
formuliert: In einer Gesellschaft gehen wir davon aus, dass wir einen
wechselseitigen Vertrag über die Normen und Prinzipien unseres
Zusammenlebens haben. Chronische Polizeigewalt und Diskriminierung zeigen
aber den Unterprivilegierten, die sich an diese Normen halten, dass der
Staat selbst täglich den Vertrag bricht. Die Wut darüber ist die Quelle der
Gewalt.
## Race Riots
Natürlich schadet diese mehr, als sie nützt. Erstens ist Gewalt nie gut,
zweitens gibt sie den Herrschenden die Legitimation, Proteste gewaltsam
niederzuschlagen und im Extremfall sogar ein autoritäres Regime zu
errichten.
In unseren Fernsehberichten ist jetzt auch oft von „Rassenunruhen“ zu
hören, was ein blödes Wort ist, allein, weil es einfach auf der wörtlichen
Übersetzung von „race riots“ beruht, aber race im amerikanischen Kontext
das meint, was wir hier „Ethnizität“ nennen würden.
Aber es ist auch noch aus einem zweiten Grund falsch. Ich finde, das ist ja
das Schönste an den Bildern aus den USA: dass hier eine bunte junge
Generation auf den Straßen ist, Schwarze, Weiße, Hispanics, alle zusammen.
Es sind eben keine primär „ethnischen“ Unruhen. Es ist ein demokratischer
Aufstand jener, die einen Wandel wollen.
Was Linke aber meist nicht so gut verstehen, ist, dass die Menschen
einerseits ein Bedürfnis nach Veränderung haben, aber auch ein Bedürfnis
nach Sicherheit. Gerade die Verwundbarsten schätzen den Wandel nicht
automatisch, da sie Unsicherheit fürchten, und zwar durchaus aus
verständlichen Gründen.
## Paradoxien
Wenn es gesellschaftliche Sicherheit gibt, dann wird der Wandel bevorzugt,
wenn sich aber vielfältige Bedrohungen ins Leben fressen, dann eher die
Sicherheit. Das ist vielleicht eine der großen Paradoxien der Geschichte:
wenn Unsicherheit wächst, es also objektiv viele Gründe für radikalen
Wandel gibt, wird die Sicherheit bevorzugt und nicht die Veränderung. Ich
glaube, dass die großen Wellen des politischen Auf und Ab in höchstem Maße
von dieser Tatsache bestimmt sind.
Wir sollten das im Kopf behalten, gerade weil wir auf die schwerste
ökonomische und soziale Krise seit langer Zeit zusteuern: Wir brauchen zwar
Erneuerung, aber die Menschen werden sich Sicherheit wünschen.
8 Jun 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Robert Misik
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