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# taz.de -- WDR-Hörspiel „türken.feuer“: Ein lebendiges Denkmal
> Beim rechtsextremen Anschlag in Solingen sterben 1993 fünf Menschen.
> Özlem Dündar arbeitet das im fiktiven Hörspiel „türken.feuer“ einfüh…
> auf.
Bild: Nach dem Brandanschlag in Solingen 1993 kam es zu Ausschreitungen mit der…
Wie sollen wir umgehen mit dem Erinnern an schreckliche Erfahrungen? Das
Radio hat dafür in jüngster Zeit einige Antworten gefunden: „Rocky Dutschke
68“ von Christoph Schlingensief thematisiert das Holocaustgedenken der
68er-Generation, „Gespräche mit Lebenden und Toten“ von [1][Swetlana
Alexijewitsch] die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. In der
WDR-Produktion „türken.feuer“ beschäftigt sich Özlem Özgül Dündar mit…
rechtsextremen Brandanschlag auf ein von Menschen mit türkischer
Migrationsgeschichte [2][bewohntes Haus in Solingen 1993]: Fünf Menschen
sind damals im Mai ermordet worden. Es ist ein Hörstück nach einem
Bühnentext und es scheint, als seien die Dinge, die hier verhandelt werden,
akustisch besonders gut aufgehoben.
„Wie soll man das verstehen, ja versuchen Sie mal, sich das vorzustellen!“,
ruft eine akzentfrei deutsch sprechende Frauenstimme in den leeren Raum:
„Da springt die Mutter aus dem Fenster um das Leben ihres Kindes zu retten.
Das geht nicht in den Kopf, in diesen Kopf geht das nicht. Nein. Nein.“ Die
Stimme schraubt sich langsam hoch, und so unterstreicht Regisseurin Claudia
Johanna Leist das Anliegen der Autorin, mit allen Mitteln ihrer Kunst gegen
eine Festschreibung der Opfer zu Klischeefiguren einzutreten. „Heroisch!
Diese Frau, sie ist so unglaublich heroisch! Sie ist eine Heldin!“
Dagegen setzt Dündar die unheimliche Ruhe der Trauer. Die überlebende
Großmutter berichtet: „Meine Familie ist um zwei Frauen und drei Kinder
geschrumpft in dieser Nacht. In einer Nacht um fünf Personen geschrumpft.“
Wie alle Sprecherinnen in diesem Stück, wird sie ihren Text in minimalen
Variationen wiederholen, um das Geschehen in Annäherungen zu umkreisen.
Von Anfang an ist klar, dass hier ein fiktives, chorisch gestaffeltes
Gespräch stattfindet. Eines zwischen Lebenden und Toten, zwischen damals
und heute, zwischen den Beteiligten und uns. Dündar und Leist nutzen das
Medium Radio polyartistisch und multiperspektivisch: Je stärker wir in
dieses Hörspiel und seine dicht schwingenden Soundflächen eintauchen, desto
mehr riechen wir, spüren wir, hören wir Dinge auch im Raum zwischen den
Worten.
Die enorme Wirkung dieses Stücks entsteht durch die Wucht, mit der Dündars
Sprache in hoch verdichteter Zartheit auf die ungeheure Brutalität der
Bilder prallt, mit der die totale Vernichtung von fünf Leben vor Augen
geführt wird. Mit vorsichtiger Behutsamkeit gibt sie somit den Opfern eine
Würde zurück, die ihnen unter unvorstellbaren Schmerzen genommen wurde:
„Nicht mal ein Totengesicht ist uns, ist mir geblieben“, klagt die schwer
traumatisierte Überlebende. Sie ist es auch, die einen kleinen
Hoffnungsschimmer gegen den Rassismus setzt: „Wir sollten uns mehr
unterhalten. Wir sollten auch Small Talk führen ohne die Ohren, die uns
jetzt zuhören. Außerhalb dieses Stücks, außerhalb dieser Kunstblasen.“
Dündars Fähigkeit zur Einfühlung in die Menschen und ihr Schicksal ist für
sich genommen schon atemberaubend. Dass sie dazu noch in der Lage ist, dies
in eine feste, poetische Sprache zu fassen, die verdichtet, offen lässt und
die Leerstellen der Ermordeten mit äußerster Präzision zu fassen versucht,
ist umwerfend. So entsteht ein lebendiges Mahnmal. Nicht in Stein
gemeißelt, sondern eines aus Worten, Trauer und Mitgefühl. Angesichts des
aktuellen [3][Rechtsextremismus] ist das bitter nötig.
4 Jul 2020
## LINKS
[1] /Alexijewitsch-und-Harms-zu-Tschernobyl/!5297589
[2] /25-Jahre-Anschlag-von-Solingen/!5509689
[3] /Rechtsextreme-in-Sicherheitsbehoerden/!5666416
## AUTOREN
Gaby Hartel
## TAGS
Hörspiel
Solingen
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Rechter Terror
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Solingen
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