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# taz.de -- Hörspiel zu Henry David Thoreau: Kollektiv einsam im Wald
> Im April ging der WDR mit dem „Walden“-Projekt online. Das Ergebnis ist
> ein Hörspiel, bei dem 500 Menschen einen Klassiker des Philosophen lesen.
Bild: Die nachgebaute Hütte Thoreaus mit seiner Statue, nahe Walden Pond
Vogelzwitschern, Wellenplätschern, der Wind geht durch die Bäume: Es ist
ein frischer Morgen, irgendwann zwischen 1845 und 1847. Ein Mann steht im
Garten seiner selbstgebauten Hütte, lehnt sich auf seine Harke und
betrachtet seine selbstgesetzten Bohnensprösslinge.
Was er von dem Gemüse lernen könne, fragt er sich – und es von ihm. Dann
bläst er zum Angriff gegen das Unkraut und nennt es das Heer der
feindlichen Trojaner, womit er sich auf Homers Ilias bezieht. Im hohen Ton
des uralten Gesangs beklagt der Harvard-Absolvent den „Tod“ einer
Bohnenpflanze, die er „in ihrem Blute“ liegend vorfindet. Gleichzeitig
scheint er gegen die Klassiker zu rebellieren, dort, wo er etwa trotzig
konstatiert, die Stubenfliege klinge für ihn schöner „als die Ilias und
Odyssee zusammen“, und was er in seinem roten Boden ausgrabe, sei
archäologischen Großfunden in Griechenland ebenbürtig.
Der Mann blickt ganz genau auf Erde, Luft, Gewächs und Wasser und bemerkt,
wie das Licht deren Farbe, selbst den Geruch und die Beschaffenheit
verändert. Auch lauscht er auf die Geräusche der Welt und versucht so, das
ureigene Wesen der Natur zu fassen.
Der Mann führt Buch über alle Erscheinungen. Akribisch. Und manchmal
interpretiert er in sie eine Moral hinein, die er als Argument ins Feld
führt gegen die verderbte, überschnelle, profitbestimmte nordamerikanische
Gesellschaft seiner Zeit.
## Verlachter Außenseiter
Immer wieder mischt sich in die Naturwahrnehmung das Erlernte von [1][Henry
David Thoreau], unseren Mann im Garten, der aber vor allem erkunden möchte,
wie es ist, gut zwei Jahre in selbstgewählter Einfachheit autark von der
eigenen Hände Arbeit zu leben. Dabei stellt er, der Mitglieder der
Antisklavereibewegung bei sich im Wald empfängt, auch heute relevante
Fragen, wie etwa die, was das Wesen Amerikas ausmache. Die Antwort: „Das,
was kein Luxus ist. Das, was nicht auf die Sklaverei bauen muss.“
Seine Erfahrungen fasste Thoreau in der Schrift „Walden“ (1854) zusammen,
und die machte den vorher verlachten Außenseiter zur Legende. Er verstand
den Text als Antwort auf den ebenfalls legendären „Kosmos“ Alexander von
Humboldts, in dem der damals berühmteste Naturwissenschaftler nichts
weniger versuchte als eine „physische Weltbeschreibung“ (1847). Thoreau
hatte lange um eine passende Sprache für sein Werk gerungen, und Humboldts
Stil gab ihm das Selbstbewusstsein, dichterisches Denken mit präziser
Naturbeobachtung zu verbinden.
Dabei klingt immer wieder auch der Ton des Erziehungsbeauftragten an, der
vom Katheder aus die Zeitgenossen eines Besseren belehrt. Rückzug,
Beobachtung, Selbstbefragung und als Anregung ein Jahrhunderttext, der
unter Mitarbeit von Hunderten entstanden ist: Aus alldem machte der WDR zu
Beginn des Lockdowns das Onlinehörspiel der Stunde. Zu einer Zeit, als wir
alle ausgebremst waren, brachte das Radio zahlreiche isolierte Menschen zu
einem Gemeinschaftsprojekt zusammen. Mithilfe einer App, die schon für das
Schwarmhörspiel „Unendlicher Spaß“ entwickelt worden war, lasen 500
TeilnehmerInnen von zu Hause aus jeweils eine Seite des gesamten Werks. Das
16-stündige Resultat ging im April online und nun wird eine kondensierte
Radioversion als vierteilige Miniserie ausgestrahlt.
Es ist faszinierend und sehr anrührend, wie die TeilnehmerInnen mit
unterschiedlichem Stimmtimbre und Vortragsgusto aus ihren Privaträumen
sprechen. Das alles wird getragen von ständig sich verändernden
Klangflächen und taufrischen Naturaufnahmen aus einem mecklenburgischen
Wald im Lockdown (Musik: Driftmachine und Acid Pauli). Der Gesamteindruck
ist so hypnotisch, dass die diversen Stimmen schon nach ein paar Minuten
klingen wie Wellenschauer, die im Wind über den Walden-Teich laufen, der
dargestellt wird durch die Soundebene.
„Zusammen Walden“ ist ein kollektives Werk, das von Andreas Ammer – mit
Hörspielchefin Martina Müller-Wallraf auch Erfinder dieses Genres –
zusammen mit den Musikern geschaffen wurde. So geht es auch ästhetisch weit
über eine bloße Mitmachkunst hinaus. Konzentriert gestaltet durch einen
mehrfach ausgezeichneten Autor in Zusammenarbeit mit seinen Künstlerteam,
entsteht ein beglückendes Hörspiel, das auch methodisch in eine gute
Richtung geht.
27 Jul 2020
## LINKS
[1] /Schriftsteller-Henry-David-Thoreau/!5423891
## AUTOREN
Gaby Hartel
## TAGS
Hörspiel
WDR
Philosophie
Hörspiel
Hörbuch
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