# taz.de -- Corona-Katastrophe in den USA: Revolte als Selbstzweck | |
> Konservative Anarchisten sind für die 100.000 Pandemie-Opfer in den USA | |
> verantwortlich. Es ist an der Zeit, Donald Trump anders zu lesen. | |
Bild: Für Trump-Anhänger sind die Virologen Agenten des verhassten „Deep St… | |
Ein heimtückisches und fremdartiges Virus, ausgebrochen im Land des | |
geopolitischen Rivalen, einzudämmen nur mit der Einschränkung individueller | |
Freiheitsrechte durch einen starken Staat – welche Weltanschauung müsste | |
auf eine solche Bedrohung eigentlich am sensibelsten reagieren und mit dem | |
unweigerlich folgenden Disziplinierungsakt eigentlich die geringsten | |
Probleme haben? Natürlich: ein autoritärer Konservatismus. | |
Und doch sind es in den USA ausgerechnet die Republikanische Partei, | |
gemeinhin als „konservativ“ bezeichnet, sowie ihr Präsident, der stets als | |
„autoritär“ gilt, die seit Beginn der Coronapandemie den Ernst der Lage | |
entweder nicht erkannt haben oder aber nicht willens waren, das Notwendige | |
zu tun. So sind es vor allem die Beschwichtigungen und Unterlassungen des | |
amerikanischen Präsidenten gewesen, durch die anfangs wertvolle Zeit | |
verspielt wurde. Und Trumps Agieren hat dafür gesorgt, dass die USA mit | |
jetzt über [1][100.000 Covid-19-Opfern] im internationalen Vergleich einen | |
einsamen Rekord aufstellen. | |
Die Sache ist eben: Im Zentrum dessen, was wir amerikanischen | |
Konservatismus nennen, stehen schon lange Elemente, die sich in Wahrheit | |
konträr zu jeder konservativen Weltsicht verhalten. Die Partei, der Trump | |
heute vorsteht, ist in weltanschaulicher Hinsicht ein merkwürdiger Hybrid. | |
Seit den 1980er Jahren schon kreuzen sich innerhalb der Republikanischen | |
Partei ein „klassischer“, antimoderner und religiöser Konservatismus mit | |
einem radikalen, fast schon anarchisch interpretierten Libertarismus. | |
Eine Beziehung auf Augenhöhe war es gleichwohl nie. Am Ende gab fast immer | |
der libertäre Flügel mit seiner eifernden und glühenden Staats- und | |
Institutionenfeindlichkeit den Ton an. Für die Verfechter von „Small | |
Government“ konnte der Staat nie die Lösung, sondern immer nur das Problem | |
sein; ein Krebsgeschwür, das sich ausbreitete und auf seinem Weg alle | |
individuelle Freiheit zerstörte. | |
Doch in einer Erzählung, in der so viel Dunkelheit herrschte, da musste es | |
auch Licht geben. Das war der sogenannte freie Markt“ der als Assoziation | |
freier Individuen nicht nur ökonomische, sondern allein auch politische | |
Freiheit garantierte. Und es gab einen strahlenden Helden: den | |
amerikanischen Unternehmer, dem unverkennbar religiöse Züge zugeschrieben | |
wurden. „Der Mann, der eine Fabrik baut, baut einen Tempel, und der Mann, | |
der dort arbeitet, betet dort“, wie es Calvin Coolidge, der republikanische | |
Präsident der besonders turbokapitalistischen 1920er Jahre, ausdrückte. | |
## Eine heilige Sache, die Menschenleben rechtfertigt | |
Nur eine heilige Sache rechtfertigt nach dieser Erzählung auch Opfer und | |
den Einsatz von Menschenleben. So wie es in dieser Krise der Fall ist, da | |
die meisten Bundesstaaten, angefeuert vom Präsidenten höchstselbst, wieder | |
zur Normalität zurückkehren, obwohl sich die Zahl der Neuinfektionen noch | |
immer nicht wesentlich abgeschwächt hat und laut Meinungsumfragen eine | |
Mehrheit der Amerikaner eher zur Vorsicht neigt. An Trumps Basis aber hält | |
man die Zeit längst für gekommen, den ganzen Spuk zu beenden, koste es, was | |
es wolle. | |
In den Twitter-Feeds des linken Amerika zirkuliert seit einiger Zeit eine | |
giftige Analogie. Früher, so wird dort geätzt, seien politische oder | |
religiöse Fanatiker immerhin noch für den Fortbestand der Nation, für den | |
Sozialismus oder für ihren Gott gestorben – Trumps Anhänger aber seien | |
bereit, ihr Leben für Dow Jones zu geben, sich selbst also auf dem Altar | |
des Kapitalismus zu opfern. | |
Der Vergleich ist einprägsam, am Ende aber nicht wirklich treffend. Denn er | |
überschätzt die Bereitschaft der Lockdownkritiker, überhaupt irgendein | |
kollektives Gut über das Eigeninteresse zu stellen. In den USA existiert | |
tatsächlich die hemdsärmlige, massenkompatible Version eines | |
„Volks-Libertarismus“, für den man gar nicht Friedrich August von Hayek | |
oder Milton Friedman gelesen haben muss. Diese Form des Libertarismus ist | |
tief in den Lebenswelten vieler Amerikaner verwurzelt. Und er speist sich | |
aus einem mächtigen Mythos: Amerikas Erbe als Siedlernation und als Ort, an | |
dem man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich am Ende allein die | |
Starken und Wagemutigen durchsetzen. Das ist nicht nur Sozialdarwinismus | |
pur, sondern in seinem Glauben, jeder sei im Kapitalismus tatsächlich | |
seines eigenen Glückes Schmied, natürlich auch eine ziemliche Fiktion. | |
Doch der Mythos ist unmittelbar massenwirksam, anschlussfähig an die vielen | |
verschiedenen Gruppen, die sich unter dem Dach einer heterogenen Bewegung | |
tummeln: etwa die Waffennarren und Milizionäre, die von der Heidenangst | |
getrieben sind, die Regierung könnte ihnen ihr [2][verbrieftes Grundrecht | |
auf Waffenbesitz] nehmen, und die im Lockdown lediglich den neuesten | |
perfiden Trick erkennen. „Live free or die“ – in diesem nun tausendfach a… | |
Plakate und T-Shirts gedruckten Credo, stolz auch getragen von jenen | |
Menschen, die, schwer bewaffnet, in diversen Landesparlamenten | |
amerikanischer Bundesstaaten „protestieren“, manifestiert sich dieser | |
militante und maskuline Hyperindividualismus. Wer dagegen eine | |
Gesichtsmaske trägt, bei dem kann es sich folglich nur – so heißt es | |
tatsächlich in diesen Kreisen – um eine „Liberal Pussy“ handeln. | |
Aber im Widerstand gegen die Eindämmung der Pandemie kulminieren natürlich | |
auch noch andere Strömungen innerhalb der Partei, die erst mit Trump | |
wirklich dominant geworden sind – die aber den | |
„Leave-me-alone-Libertarianism“ kongenial ergänzen. | |
So schießen zwar derzeit überall auf der Welt die | |
[3][Verschwörungstheorien] ins Kraut. Eines aber ist in den USA anders als | |
etwa in Deutschland, wo Rechtsextremisten und Rechtspopulisten noch immer | |
mit dem Anschluss an den politisch diffusen Teil der Paranoiker zu kämpfen | |
haben. In Trumps Amerika vagabundiert der Verschwörungsglaube politisch | |
nicht frei herum, sondern ist an die bereits existierenden Konfliktlinien | |
angebunden – und deswegen auch viel gefährlicher und wirkmächtiger. | |
Vielen Trump-Anhängern galten die Experten der eigenen | |
Anti-Infektions-Behörde – allen voran deren Leiter Anthony Fauci – von | |
Beginn an als Agenten des verhassten „Deep State“, Protagonisten einer | |
vermeintlichen Kabale der Regierungsbürokratie gegen den legitim ins Amt | |
gewählten Präsidenten. Für die Feinde der staatlichen Autorität hat diese | |
eben viele Gesichter. Und da ist nichts, was das Misstrauen mindern könnte, | |
schon gar nicht ein Vertrauen in wissenschaftliche Expertise. | |
## Beißender Antiintellektualismus | |
Dafür wiederum hat ein beißender Antiintellektualismus gesorgt. Historisch | |
hatte dieser noch einen bedenkenswerten Kern, spielte er doch abstraktes | |
Wissen gegen praktische Alltagserfahrungen aus, die Theorien der Experten | |
gegen den „gesunden Menschenverstand“. Zwar erwies sich eine solche | |
Anschauung immer schon als anfällig für groteske Verwirrungen, aber als | |
grundsätzliche Mahnung gegen technokratische Anmaßungen hatte sie doch | |
zumindest einen legitimen Kern. | |
Der Antiintellektualismus 2.0 aber hat nichts mehr von dieser | |
grundskeptischen, eben konservativen Einsicht in die Begrenztheit aller | |
menschlichen Erkenntnis. Er ist aggressiver, zerstörerischer, zynischer, | |
lässt schon lange nichts mehr gelten, was außerhalb der eigenen gefühlten | |
Wirklichkeit liegt – und arbeitet aktiv daran, alle zentralen Autoritäten | |
zu demontieren. | |
Im Zusammenspiel mit der anarcholibertären DNA der rechten Bewegung ergibt | |
dies eine gefährliche Mischung, die jedes Vertrauen in Institutionen oder | |
Personen längst untergraben hat und in eine falsch verstandene, weil | |
entgrenzte und damit pervertierte Idee der Selbstermächtigung mündet. Gäbe | |
es jenseits der roten „Make America Great Again“-Basecaps“ ein offizielles | |
Erkennungszeichen der Bewegung: Es wäre nicht der Hitlergruß, sondern der | |
ausgestreckte Mittelfinger. | |
## Trump, der neurotisch Getriebene | |
Deswegen ist es an der Zeit, Donald Trump endlich anders zu lesen. Er ist | |
eben nicht der eiserne autoritäre Anführer, der mit seinen Tweets eine | |
ganze Bewegung dirigiert, sondern ein neurotisch Getriebener, der äußerst | |
sensibel auf den Sack Flöhe reagiert, den er täglich bei Laune zu halten | |
hat. Wie auch in dieser Krise: Nach einer ersten Phase der Verharmlosung | |
und nachdem ihm – wohl mit kognitiver Verspätung – die Dimension des | |
Problems bewusst wurde, unterschieden sich die Aussagen und Handlungen | |
Trumps und seiner Regierung für eine Weile nicht mehr wesentlich von dem, | |
was auch andernorts getan und gesagt wurde. | |
Doch als schließlich ein Teil seiner Basis immer unverblümter die Maßnahmen | |
infrage stellte, begann Trump mit einem zynischen und scheinbar | |
schizophrenen Doppelspiel: Einerseits trug er den Lockdown offiziell mit, | |
anderseits aber feuert er die Proteste noch an. Hatte er im Konflikt mit | |
den Bundesstaaten zunächst verlauten lassen: „The president has complete | |
authority!“, vollzog er nur wenige Tage später eine seiner vielen | |
bemerkenswerten Volten: „I take no responsibility at all!“ | |
Wie so vieles bei ihm scheint auch dies keinen Sinn zu ergeben – es sei | |
denn, man versteht es als das, was es ist: als infantile Pose des Führers | |
einer infantilen Bewegung, die die Revolte zum Selbstzweck erhoben hat. | |
31 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Torben Lütjen | |
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