| # taz.de -- Abtreibungsdebatte in den USA: Evangelikale unter Druck | |
| > Der Kampf gegen das Abtreibungsrecht ist keineswegs das wichtigste Thema | |
| > radikaler Christen in den USA. Sie fürchten den säkularen Staat. | |
| Der durchgesickerte [1][Urteilsentwurf des Supreme Court der USA], der | |
| Abtreibungen wieder illegal machen würde, hat den weißen evangelikalen | |
| Aktivismus ins Rampenlicht gerückt. Dabei glauben viele, dass die Ablehnung | |
| des Schwangerschaftsabbruchs die Wahlentscheidungen dieser | |
| Bevölkerungsgruppe maßgeblich bestimmt. | |
| Aber dem ist nicht so. Die Wirtschaftslage und die nationale Sicherheit | |
| waren bei der Präsidentschaftswahl von 2016 für diese Gruppe von | |
| Wähler:innen [2][wesentlich wichtigere Themen] (62 und 51 Prozent | |
| Zustimmung). Viel weniger (36 Prozent) hielten Abtreibung für das | |
| entscheidende Thema, nur rund ein Viertel LGBTQI*-Rechte. Zwar lehnen weiße | |
| Evangelikale Abtreibungen vehement ab, aber in deren Liste politischer | |
| Prioritäten liegt sie nur in der Mitte. | |
| Allerdings ist die Unterstützung weißer evangelikaler Christen – sie machen | |
| 25 Prozent der Wähler:innen in den USA aus – für den eindeutig | |
| unchristlichen Donald Trump zwischen 2016 und 2020 von 81 auf 84 Prozent | |
| gestiegen. | |
| Warum? Wenn die Frage der Abtreibung für sie nur eine untergeordnete Rolle | |
| spielt, warum erscheint der Populismus à la Trump für diese religiöse | |
| Gruppe als ethisch geboten? Übrigens: Selbstverständlich gibt es auch | |
| Evangelikale anderer Hautfarben, aber für den Rechtspopulismus, um den es | |
| hier geht, spielen sie keine wesentliche Rolle. | |
| Reden wir zunächst über Populismus. Er ist eine Reaktion auf Veränderungen | |
| des Way of Life, auf Statusverluste und ökonomische Härten, indem er | |
| Zuflucht in einer Weltsicht des „Wir gegen die“ anbietet. Diese Sicht baut | |
| auf lange eingeübte Ansichten über die Gesellschaft (wer sind „wir“ und w… | |
| sind „die“) und den Staat (welche Rolle soll er spielen?) auf. Es hängt | |
| stark von regionalen Traditionen ab, wie das „wir“ und das „die“ abgegr… | |
| wird. Letztere sind häufig bestimmte Gruppen von Minderheiten oder | |
| Migrant:innen. | |
| ## Härten für Gläubige | |
| Viele der Härten, denen sich weiße Evangelikale ausgesetzt fühlen, erleben | |
| die übrigen US-Bürger:innen genauso: schwindende wirtschaftliche | |
| Perspektiven, sich ändernde Geschlechterrollen, technischer und | |
| demographischer Wandel oder die Angst, den gesicherten Platz in der | |
| Gesellschaft einzubüßen. Manche Härten betreffen sie in besonderem Maße: | |
| Die Abwendung vieler Gläubigen von der Kirche – über zwei Millionen haben | |
| seit 2006 die Southern Baptist Convention, die mit 13 Millionen Mitgliedern | |
| größte protestantische Konfession in den USA, verlassen. Die Angst, dass | |
| ihr religiöses Leben von einer säkularen Regierung in einer immer | |
| liberaleren Gesellschaft erstickt wird. Der Gedanke an | |
| gleichgeschlechtliche Ehen. | |
| Unter Druck verändert sich das Selbstverständnis der eigenen | |
| gesellschaftlichen Gruppe und konstruiert ein Gegenüber, das als Ursache | |
| der Schwierigkeiten dargestellt wird – es ist ein typischer | |
| Selbstverteidigungsreflex. „Je stressiger die Lage erscheint“, [3][schreibt | |
| der Psychiater Vamik Volkan], „desto mehr schauen benachbarte | |
| Bevölkerungsgruppen kritisch aufeinander.“ Je nach Gesellschafts- und | |
| Staatsverständnis erscheinen unterschiedliche Gruppen als unerwünschtes | |
| Gegenüber. Es ist tief in der Vergangenheit verankert, dass diese | |
| Einteilung in „wir“ und „die“ als natürlich und richtig erscheint. | |
| Das amerikanische Verständnis von Gesellschaft und von der Rolle des Staats | |
| hat seinen Ursprung in der aus dem Alten Testament übernommenen | |
| [4][politischen Theorie des Bundes] (Covenant), den die Puritaner und | |
| andere „Dissidenten“, die sich den Staatskirchen in Europa nicht länger | |
| unterordnen wollten, über den Atlantik brachten. | |
| Sie begriffen Gesellschaft als Bund, auf den sich die Menschen miteinander | |
| und mit Gott verständigt hatten. Sollte ein Herrscher diesen Bund | |
| verletzen, konnte er aus dem Amt geworfen werden. Von Beginn an blickten | |
| diese durch den Bund Geeinten argwöhnisch auf Kirchenobere und Fremdlinge, | |
| die sich in ihre Lebensweise einmischen wollten. | |
| Auch Aristoteles’ Begriff der Republik betonte die Gemeinschaft, die polis, | |
| und die Beteiligung der Bürger an ihrer Führung. Vor Tyrannen hütete man | |
| sich auch dort. Der neuzeitliche Liberalismus legt großen Wert auf die | |
| Freiheit des Individuums und lehnt Autoritäten ab. Dies galt besonders in | |
| den USA, da viele der Eingewanderten unterdrückerischen politischen | |
| Systemen entkommen waren. | |
| ## Skepsis gegenüber Autoritäten | |
| Auch auf dem großen Treck westwärts war es ratsam, auf sich selbst gestellt | |
| zu überleben, sich in den neuen Siedlungen auf die Gemeinschaft verlassen | |
| zu können und sich vor Autoritäten und Fremden zu hüten (diese kollektive | |
| historische Erfahrung ist übrigens eine der historischen Wurzeln für das | |
| von außen befremdlich anmutende Beharren auf das Recht auf Waffenbesitz). | |
| Die Vorfahren der heutigen Evangelikalen verließen Europa mit dieser | |
| Weltsicht. Sie waren auch überzeugt, dass Regierungen fehlbar waren und die | |
| Menschen selbst eine moralische Verantwortung für ihr Verhalten trugen. Sie | |
| misstrauten Autoritäten und Fremden – nicht nur, wie viele Menschen in den | |
| USA es tun, aus politischen Gründen, sondern auch aus ihrem Glauben heraus. | |
| Auf dieser doppelten Grundlage waren sie die Erbauer:innen ihrer auf | |
| Eigenverantwortung begründeten Republik in der Neuen Welt. 1850 | |
| beschäftigten die evangelikalen Kirchen doppelt so viele Angestellte, | |
| verfügten über doppelt so viele Einrichtungen und dreimal so hohe Einkünfte | |
| wie das damals größte staatliche Unternehmen – die Post. | |
| Im späten 19. Jahrhundert gerieten die weißen Evangelikalen allerdings | |
| gesellschaftlich unter Druck. Es begann mit der Industrialisierung, der | |
| Urbanisierung, sich wandelnden sozialen Normen und der wissenschaftlichen | |
| deutschen historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung. Sie drohte, die | |
| in den USA bis dahin übliche, eher volkstümliche Interpretation der | |
| Heiligen Schrift zu verdrängen. 1925 wurde im Verfahren Scopes vs. | |
| Tennessee gerichtlich geprüft, ob Darwins Evolutionstheorie anstelle der | |
| biblischen Schöpfungsgeschichte an öffentlichen Schulen gelehrt werden | |
| solle. | |
| 1962 entschied der Supreme Court, dass das öffentliche Schulgebet gegen die | |
| Verfassung verstoße. Dann folgten [5][1964 die Bürgerrechtsgesetze] und die | |
| Sozialreformen Lyndon B. Johnsons, die die Kompetenzen der Bundesregierung | |
| ausweiteten. In den Jahren danach erlebten die USA die sexuelle Revolution, | |
| die Frauen- und die Homosexuellenbewegung. 1973 wurde der | |
| Schwangerschaftsabbruch legalisiert. 2015 ließ der Supreme Court | |
| gleichgeschlechtliche Ehen zu. Heute [6][befürworten] 79 Prozent der | |
| US-Bürger:innen und 65 Prozent der Republikaner:innen | |
| gesetzlichen Schutz von LGBTQI* gegen Diskriminierung. | |
| Dies schürt die Befürchtungen der Evangelikalen, durch einen säkularen | |
| Staat und eine liberale Gesellschaft weiter marginalisiert zu werden. Aus | |
| dem Bekenntnis zur Gemeinschaft wurde Abgrenzung gegen Nichtzugehörige, aus | |
| der Distanz zu Staat und Eliten wurde offene Gegnerschaft. Zusammenhalt und | |
| gegenseitige Unterstützung als Gebote ethischen Verhaltens, die die | |
| Gesellschaft zu einem lebendigen Organismus machten, wandelten sich zu | |
| einer Abwehrhaltung gegen Minderheiten und Immigrant:innen. | |
| Die republikanische „Neue Rechte“ der 1980er Jahre versprach Abhilfe: | |
| [7][Der Staat sollte schrumpfen, sie propagierte gesellschaftlichen | |
| Konservatismus] und verwahrte sich gegen jede Kritik regionaler | |
| Gewohnheiten von außen. Politische Forderungen der weißen Evangelikalen | |
| vermischten sich mit religiösen Streitfragen wie der Homo-Ehe. | |
| Seit 1980 stimmen deshalb weiße Evangelikale überdurchschnittlich häufig | |
| für republikanische Kandidaten. Zwei Drittel gaben Ronald Reagan ihre | |
| Stimme, weil er den Staat durch Steuersenkungen zurückstutzen und | |
| Vorschriften für Unternehmen streichen wollte und weil er die atheistische | |
| Sowjetunion tot rüstete, in der der Staat alles kontrollierte. Im Jahr 2000 | |
| stimmten 79 Prozent für George W. Bush, der die Steuersenkungen und die | |
| Deregulierung noch weiter trieb. | |
| ## Priorität Steuersenkungen | |
| Es ging den weißen Evangelikalen nicht primär um ein Votum gegen | |
| Abtreibungen und den Staatsabbau bloß als Zugabe. Sie trafen eine | |
| politische und wirtschaftliche Entscheidung für einen Staat mit möglichst | |
| kleinem Einfluss auf ihr Leben. Die evangelikale Christian Coalition machte | |
| es zur Priorität, Bushs Steuersenkungen als unumkehrbar festzuschreiben. | |
| Die evangelikale Unterstützung für Bush wuchs zwischen 2000 und 2004 um | |
| zehn Punkte, ohne dass die Republikaner, die das Weiße Haus und den | |
| Kongress kontrollierten, irgendein Gesetz gegen Abtreibungen auf den Weg | |
| brachten. | |
| Die Ablehnung des Staats und als „fremd“ empfundener Gruppen verschärfte | |
| sich mit den Krisen des beginnenden neuen Jahrtausends und durch die Wahl | |
| des ersten schwarzen Präsidenten. Barack Obama weitete öffentliche | |
| Dienstleistungen und staatliche Kontrolle über Unternehmen wieder aus. | |
| People of Color rückten in hohe Regierungsämter und wichtige Positionen in | |
| Medien, Universitäten und anderen Institutionen. Der evangelikale | |
| Radiomoderator Eric Metaxas reagierte mit der üblichen Kritik an | |
| Washington: „Die Eliten in der Hauptstadt und in Manhattan verfolgen einen | |
| neuen und akzeptierten Tribalismus und Xenophobie gegenüber weißen | |
| europäischen christlichen Bevölkerungsgruppen.“ | |
| Weiße Evangelikale waren auch [8][am 6. Januar 2021 am Sturm auf das | |
| Kapitol] beteiligt und verbreiteten die Lüge von der gestohlenen Wiederwahl | |
| Trumps. Schilder wie „Jesus ist mein Retter, Trump ist mein Präsident“ | |
| ließen christliche Gläubigkeit mit der Überzeugung verschmelzen, Trump | |
| kämpfe an ihrer Seite gegen einen schattenhaften, tyrannischen „tiefen | |
| Staat“. | |
| Dabei sind weiße Evangelikale kein monolithischer Block. 1995 bat die | |
| Southern Baptist Convention um [9][Vergebung für ihren lange ausgeübten | |
| Rassismus]. 2010 [10][forderte sie] mit der National Association of | |
| Evangelicals eine Einwanderungsreform und einen Weg auch für papierlose | |
| Immigrant:innen zur Einbürgerung. Eine bedeutende Minderheit unter den | |
| weißen Evangelikalen lehnt die Politik der Rechten insgesamt ab. Doch noch | |
| 2021 hielten 66 Prozent der weißen Evangelikalen Einwander:innen für | |
| „Invasoren“. 57 Prozent möchten lieber in einem mehrheitlich christlichen | |
| Land leben. | |
| Furcht zu schüren und sich um des politischen Erfolgs willen gegen | |
| vermeintliche „Außenseiter“ abzugrenzen – wie Trump es tat –, bringt am | |
| Ende häufig keine Lösung der Probleme. Denn sie basieren auf einer | |
| verzerrten Wahrnehmung ihrer Ursachen. Wer die Gemeinschaft gegen den | |
| Ausschluss alles Fremden tauscht und Ablehnung von Unterdrückung durch | |
| Ablehnung des Staats ersetzt, findet keine guten Lösungen. | |
| Die alten Probleme haben Bestand, gesellschaftliche Gruppen leiden weiter, | |
| und eine neue Runde des „wir“ gegen „die“ folgt. Aber falls der Populis… | |
| wie der Politikwissenschaftler [11][John McCormick] schreibt, zunächst ein | |
| „Schmerzensschrei“ ist, könnte eine Reaktion auf diesen Schrei vielleicht | |
| helfen, die Welt weniger oft als eine des „wir“ gegen „die“ zu sehen. | |
| Aus dem Englischen: Stefan Schaaf | |
| Marcia Pally ist Publizistin und Professorin in New York und Berlin. Sie | |
| schreibt und forscht über Religion, Politik und Kultur. Öffentliche | |
| Gastvorlesung zum Thema am 30.05.: „White Evangelicals & Right-wing | |
| Populism: HOW DID WE GET HERE?“, 18-20 Uhr in Berlin, Humboldt-Universität, | |
| Burgstr. 26, Raum 117 oder online über [email protected] | |
| 28 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Abtreibungsrecht-in-den-USA/!5851890 | |
| [2] http://research.lifeway.com/wp-content/uploads/2018/10/Voting-and-Views-of-… | |
| [3] https://www.worldcat.org/title/bloodlines-from-ethnic-pride-to-ethnic-terro… | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Bund_(Bibel) | |
| [5] /Tod-von-US-Buergerrechtler-John-Lewis/!5695949 | |
| [6] https://www.prri.org/research/americans-support-for-key-lgbtq-rights-contin… | |
| [7] /Corona-Katastrophe-in-den-USA/!5686811 | |
| [8] /Ein-Jahr-nach-dem-Sturm-aufs-US-Kapitol/!5823833 | |
| [9] https://www.sbc.net/resource-library/resolutions/resolution-on-racial-recon… | |
| [10] https://www.nae.org/nae-ad-urges-bipartisan-immigration-reform | |
| [11] https://www.academia.edu/22225287/Democracy_Plutocracy_and_the_Populist_Cr… | |
| ## AUTOREN | |
| Marcia Pally | |
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