| # taz.de -- Geflüchtete auf dem Weg in die EU: Corona macht blind | |
| > In Bosnien-Herzegowina sind Tausende Geflüchtete gestrandet. Helfer haben | |
| > wegen der Corona-Krise das Land verlassen. Und niemand sieht mehr hin. | |
| Bild: Das Müllkippen-Camp Vucjak im Dezember 2019 kurz vor der Schließung | |
| Die Männer drängen sich verzweifelt um Zehida Bihorac, sie bitten um Essen, | |
| um Schuhe, um warme Kleidung. Die kleine Frau hebt abwehrend die Hände und | |
| sagt auf Englisch: „Ich komme wieder, ich komme wieder und bringe mehr.“ | |
| Dann dreht sie sich um und betritt eine alte Fabrikhalle, die sich aus | |
| einer Schneelandschaft erhebt. Zwischen hohen Betonsäulen reihen sich Zelte | |
| dicht an dicht, Dutzende sind es, dazwischen qualmen kleine Holzfeuer, um | |
| die sich Menschen drängen. Es ist ein Elendslager. | |
| All das ist auf einem Video zu sehen, das Bihorac am Donnerstagabend von | |
| ihrem Handy schickt. Dann folgen Bilder von Männern, die offene Wunden und | |
| gebrochene Finger in die Kamera zeigen. Ihre Gesichter sind ausgezehrt, | |
| ihre Blicke verzweifelt. Bihorac sagt, sie stehe vor einem illegalen | |
| Flüchtlingscamp in der Nähe von Velika Kladuša, einem Ort im Nordwesten von | |
| Bosnien-Herzegowina. Sie sagt: „Niemand will die Migranten haben. Das hier | |
| ist eine Katastrophe, und sie wird eskalieren.“ | |
| Ihre Aussagen lassen sich nicht überprüfen, die Bilder nicht verifizieren. | |
| Denn wegen der Corona-Krise hat auch der Staat Bosnien-Herzegowina seine | |
| Landesgrenzen geschlossen. Wer ins Land möchte, muss sich für zwei Wochen | |
| in Quarantäne begeben. Anders jedoch als in Griechenland sind kaum mehr | |
| ausländischen Journalisten vor Ort, viele Helfer haben bereits das Land | |
| verlassen. In der bosnischen Region Una-Sana, nur wenige Kilometer von der | |
| kroatischen Grenze entfernt, sind rund zehntausend geflüchtete Menschen | |
| gestrandet. | |
| Tag für Tag werden es mehr, Tag für Tag verschlimmert sich die Lage. | |
| Menschenrechtsorganisationen berichten von illegalen Pushbacks aus Kroatien | |
| und Slowenien, und aus Serbien, Bulgarien und Griechenland sollen trotz der | |
| geschlossenen Grenzen noch immer Menschen einreisen. | |
| Beinahe ungesehen von der Weltöffentlichkeit passiert dort eine menschliche | |
| Tragödie. Denn mit den geschlossenen Grenzen entstehen blinde Flecken auf | |
| der Weltkarte, Orte, an die niemand mehr reist, um zu berichten. Für die | |
| Menschen dort könnte das dramatische Auswirkungen haben. | |
| ## „Deutschland macht seine Grenzen dicht“ | |
| Vor gut einer Woche erhält der Deutsche Dirk Planert in der bosnischen | |
| Stadt Bihać einen Anruf, der ihn nicht schlafen lässt. Ein Freund ist am | |
| Telefon, er sagt: „Deutschland macht seine Grenze dicht.“ Zu diesem | |
| Zeitpunkt tobt das Coronavirus bereits in Europa, in Deutschland werden die | |
| ersten Todesfälle gemeldet, fast alle ausländischen Helfer haben | |
| Bosnien-Herzegowina bereits verlassen, Planert ist einer der Letzten. | |
| Am nächsten Morgen um sechs Uhr steigt er in sein Auto und verlässt das | |
| Land, so erzählt er es heute. „Es war eine rationale Entscheidung. Meine | |
| Mutter ist krank, meine Kinder leben in Deutschland. Wenn irgendetwas | |
| passiert, dann will ich für sie da sein.“ Aber er weiß auch: Zurück bleiben | |
| Menschen, die seine Hilfe ebenso dringend benötigen. | |
| Planert hat eine besondere Beziehung zur Stadt Bihać. Anfang der 90er Jahre | |
| hatte er als einer der wenigen Ausländer die mehrjährige Belagerung durch | |
| serbische Truppen miterlebt. Für seinen Hilfseinsatz damals wurde ihm die | |
| Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Als er im vergangenen Jahr | |
| zurückkehrte und das Elend der geflüchteten Menschen sah, beschloss er | |
| erneut zu bleiben. | |
| Fast täglich war er in den letzten neun Monaten im Morgengrauen | |
| aufgestanden, hatte Brandbriefe an Politiker geschickt, Facebook-Posts | |
| geschrieben und mit Journalisten telefoniert, dann hatte er sein Auto mit | |
| Hilfsgütern bepackt und war mit einigen Helfern raus ins Flüchtlingscamp | |
| Vucjak gefahren. Er hatte nicht nur Menschenleben gerettet, er hatte einen | |
| Hilfeschrei ausgesandt. | |
| ## Das Müllkippen-Camo Vucjak | |
| Als im Juni 2019 Šuhret Fazlić, der Bürgermeister, unweit der Stadt ein | |
| Zeltlager auf einer ehemaligen Müllkippe hatte errichten lassen, war | |
| Planert einer der Ersten vor Ort gewesen. Am Ende einer sandigen Straße, | |
| umgeben von Minenfeldern aus dem Krieg, hatte er Menschen gesehen, die mit | |
| offenen Wunden auf dem Boden hockten und sich über kleinen Feuern die Hände | |
| wärmten. | |
| Etwa 10.000 geflüchtete Menschen sollen sich laut bosnischen Behörden Ende | |
| 2019 in der Region Una-Sana aufgehalten haben, fast 1.000 von ihnen wurden | |
| im Müllkippen-Camp Vucjak untergebracht, ohne fließendes Wasser, ohne | |
| Strom. Damals hatte der Bürgermeister erklärt, die Stadt werde mit der | |
| Situation allein gelassen. Auch dank Planerts Engagement berichteten | |
| schließlich Medien aus ganz Europa über die Lage in Bihać. | |
| Im Dezember vergangenen Jahres wurde der internationale Druck so groß, dass | |
| das Camp geschlossen wurde, ein kleiner Sieg im Kampf gegen das Elend. Doch | |
| nun sitzt Planert in einer Hütte in einem Dortmunder Wald in | |
| Selbstquarantäne und sagt: „Emotional war die Rückkehr nach Deutschland für | |
| mich brutal, eine Vollbremsung.“ | |
| Es sind nicht nur ausländische Helfer, die vor Ort fehlen, es gelangen auch | |
| keine Hilfslieferungen mehr über die Grenze. Es mangelt an fast allem: An | |
| warmer Kleidung, an Nahrung, an Medikamenten. Vor wenigen Tagen erst hatte | |
| es in der Region Una-Sana wieder geschneit, die Temperaturen fallen nachts | |
| unter den Gefrierpunkt. | |
| ## Homöopatische Dosen gegen die Not | |
| Zehida Bihorac ist nun eine der wenigen lokalen Helferinnen, die sich noch | |
| um die gestrandeten Menschen kümmert. Eine 52-jährige Frau, die einen | |
| blauen Turban um den Kopf geschlungen trägt. Eigentlich arbeitet Bihorac | |
| als Hauptschullehrerin, doch seit fast drei Jahren kümmert sie sich | |
| hauptsächlich um die flüchtenden Menschen auf dem Weg in die EU. Nach | |
| Angabe der Vereinten Nationen können rund 3.000 von ihnen nicht in den | |
| offiziellen Camps untergebracht werden. | |
| Jeden Morgen steigt Bihorac deshalb in ihren Wagen und klappert die | |
| illegalen Camps ab, in denen die Geflüchteten Unterschlupf gefunden haben: | |
| halb zerfallene Fabrikgebäude, verlassene Häuser. Sie verteilt | |
| Essenspakete, Schuhe und Medizin, homöopathische Dosen gegen die Not. Sie | |
| sagt: „Vor dem Ausbruch von Corona war die Situation hier schon angespannt. | |
| Aber jetzt bekomme ich jeden Tag zehn Anrufe mit der Bitte um Hilfe. Die | |
| Menschen sind an der Grenze ihrer Kräfte.“ | |
| Anfang letzter Woche starb der erste Mensch in Bosnien-Herzegowina am | |
| Coronavirus, ausgerechnet in der Stadt Bihać. Es gibt dort keine | |
| Beatmungsgeräte und nur wenige Krankenhäuser, die Furcht vor einem | |
| unkontrollierten Ausbruch der Krankheit ist groß. | |
| Der Bürgermeister von Bihać macht die Geflüchteten für die Verbreitung des | |
| Virus mit verantwortlich. In einer Pressekonferenz sagt er: „Das Problem | |
| ist, dass zweitausend Migranten frei durch die Stadt laufen und die | |
| Anordnungen nicht ernst nehmen.“ Seit Anfang der Woche herrscht dort nach | |
| 18 Uhr eine strenge Ausgangssperre, auf den Straßen patrouillieren Polizei | |
| und Militär, das berichten Bewohner von Bihać. | |
| ## Angst zu helfen | |
| Für Helferinnen wie Bihorac bedeutet das: Eigentlich darf sie keinen | |
| Kontakt mehr zu den Geflüchteten haben, Hilfslieferungen sind untersagt. | |
| Sie macht trotzdem weiter, mit Mundschutz und Handschuhen, immer in Angst, | |
| von der Polizei erwischt zu werden. Sie sagt: „Der Druck auf uns steigt. | |
| Viele Leute haben bereits Angst zu helfen.“ | |
| Am Mittwochabend vergangener Woche meldet sich ein Mann namens Basher auf | |
| Facebook. Er schreibt, er sei 30 Jahre alt, aus Afghanistan. Er lebe im | |
| Flüchtlingscamp Bira, einige Kilometer außerhalb der Stadt Bihać. Es gebe | |
| dort nicht genug Nahrung für alle Bewohner, die Hygienesituation sei | |
| schlecht, es fehle an Seife und Shampoo. | |
| Sie seien eingesperrt, nur einmal am Tag werde die Unterkunft desinfiziert, | |
| die Bewohner müssten dann bei Minusgraden draußen warten. Diese | |
| Schilderungen lassen sich nicht belegen, die Internationale Organisation | |
| für Migration, die das Lager betreibt, äußert sich auf Anfrage nicht. | |
| Auf Facebook berichten Geflüchtete von gewaltsamen Übergriffen durch die | |
| Polizei. Sie erzählen von Anfeindungen, sogar von Angriffen mit Waffen | |
| durch die bosnische Bevölkerung. Sie schicken Fotos von Schildern, die nun | |
| an den Eingängen von Supermärkten kleben: „Immigrants unallowed“, keine | |
| Migranten erlaubt. | |
| ## „Die EU hat ihre Versprechen nicht eingehalten“ | |
| Es ist nicht nur die Gefahr durch das tödliche Virus, die die gestrandeten | |
| Menschen aus Afghanistan, Syrien oder dem Iran in Anspannung versetzt, es | |
| ist auch die Furcht davor, dass die Angst der bosnischen Bevölkerung | |
| endgültig in Wut umschlagen könnte. | |
| Vergangene Woche stellt der Bürgermeister von Bihać ein Video auf seine | |
| Facebook-Seite. Er trägt einen Mundschutz und erklärt ernst, man werde nun | |
| ein neues Camp für die Geflüchteten errichten. Er sagt: „Wir sollten Vucjak | |
| durch den Druck der EU schließen, doch die hat ihre Versprechen nicht | |
| eingehalten.“ | |
| Der neue Ort liegt etwa 30 Kilometer von Bihać entfernt, am Rande der | |
| serbischen Teilrepublik. Serbische Politiker hatten daraufhin erklärt, man | |
| werde dort keine Migranten dulden. Auch an diesem Ort soll es bisher weder | |
| fließendes Wasser noch Strom geben, berichten Flüchtlingshelfer. Sie haben | |
| Angst vor einem zweiten Vucjak. Mit dem Unterschied, dass dieses Mal | |
| niemand mehr hinschaut. | |
| 28 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Hildebrandt | |
| ## TAGS | |
| EU-Grenzpolitik | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Flüchtlinge | |
| Bosnien | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Syrische Flüchtlinge | |
| Bosnien und Herzegowina | |
| Geflüchtete | |
| Bosnien-Herzegowina | |
| Afghanische Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Bosnien und Herzegowina | |
| Kroatien | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Griechenland | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Geflüchtete in Bosnien und Herzegowina: Der Kälte schutzlos ausgeliefert | |
| Auch Wochen nach dem Brand im Lager Lipa verharren Hunderte Menschen in | |
| notdürftigen Zelten. Jetzt droht eine Kältewelle. | |
| Flüchtlinge an der EU-Außengrenze: Keine Hilfe mehr zu erwarten | |
| In der bosnischen Grenzregion zu Kroatien sind jetzt private | |
| Hilfsorganisationen verboten. Die Situation wird für die Geflüchteten immer | |
| auswegloser. | |
| Ostern in Kroatien während der Pandemie: Warten auf Corona und den Regen | |
| Kroatien weist eine vergleichsweise niedrige Infiziertenzahl auf. Dafür | |
| liegt der Tourismus darnieder. Ein Ortsbesuch an einer stillen Küste. | |
| Positionspapier zu EU-Flüchtlingspolitik: Für einen echten „Neustart“ | |
| Deutsche Expert*innen fordern schnelle Hilfe für die Flüchtlinge in | |
| Griechenland. Langfristig müsse endlich eine EU-weite und faire Lösung her. | |
| Corona in Bosnien-Herzegowina: Tödlicher Schlendrian | |
| In Bosnien-Herzegowina nahmen viele das Coronavirus lange nicht ernst. | |
| Jetzt entlarvt die Pandemie den Bankrott der nationalistischen Eliten. | |
| Coronakrise in Deutschland: Keine Lockerung in Sicht | |
| Die Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland steigt noch immer stark. Die | |
| Lage erfordere weiterhin Einschränkungen, sagt die Bundeskanzlerin. | |
| Das BMI äußert sich zur Grenzschließung: Asyl in Viruszeiten | |
| Das Bundesinnenministerium betont nach einem Medienbericht, am | |
| Asylverfahren habe sich nichts geändert. Die Linke widerspricht. | |
| Geflüchtete in Griechenland: Bei lebendigem Leib | |
| Das Leben im Camp Moria auf Lesbos ist unerträglich. Die Bedrohung durch | |
| das Virus wächst. Die Regierung setzt auf Eigenverantwortung der Menschen. | |
| EU-Beitrittsgespräche mit dem Westbalkan: Das politische Vakuum füllen | |
| Die EU muss sich auf dem Westbalkan stärker engagieren. Sonst tun es | |
| weiterhin Russland, China und die Türkei. |