# taz.de -- Corona in Bosnien-Herzegowina: Tödlicher Schlendrian | |
> In Bosnien-Herzegowina nahmen viele das Coronavirus lange nicht ernst. | |
> Jetzt entlarvt die Pandemie den Bankrott der nationalistischen Eliten. | |
Bild: Sein Egoismus verhindert Hilfe gegen Corona: Milorad Dodik, Präsident de… | |
SPLIT taz | „Wer sagt, die Diaspora habe nichts für Bosnien beigetragen, | |
liegt falsch. Denn sie bringen jetzt Corona“, witzeln die für ihren | |
Galgenhumor bekannten Bewohner Sarajevos. Die Diaspora besteht aus jenen | |
Bosniern und ihren Nachfahren, die [1][während des Kriegs vor 30 Jahren] | |
ins Ausland geflohen waren, jedoch auch jetzt noch ihre Verwandten besuchen | |
wollen – und dabei auch das Virus eingeschleppt haben. | |
Mehr als 300 Infektionen und drei Tote sind bisher registriert. Einige der | |
ersten Erkrankten, die am 3. März in Banja Luka, der Hauptstadt der | |
serbischen Teilrepublik, bekannt wurden, waren Exilbosnier. Sie sind so zur | |
Zielscheibe des Spotts geworden. | |
Aber alles auf die anderen zu schieben, geht nicht mehr. Denn es sind | |
mehrere Fälle bekannt geworden, die ein Schlaglicht auf die Mentalität der | |
Alteingesessenen werfen. Ein Bosnier, der sich im Ausland aufgehalten | |
hatte, zeigte offensichtlich Covid-19-Symptome. Anstatt jedoch in | |
Quarantäne zu gehen, bestach er einen Arzt, der ihn schließlich in die | |
Abteilung für Lungenkranke im Krankenhaus von Mostar unterbrachte. Dort | |
bewegte er sich frei. Wie viel Kranke und Personal er dort angesteckt hat, | |
ist bisher unbekannt. | |
Ein Polizist in Brčko ließ gegen Geld drei Leute ohne Gesundheitscheck nach | |
Bosnien einreisen. Noch am 11. März feierte in der Kleinstadt Konjic, die | |
zwischen Mostar und Sarajevo liegt, eine Firma ihr Jubiläum und lud zur | |
Feier 400 Menschen ein. Da wurde musiziert und getanzt, Alkohol floss in | |
Strömen, man umarmte sich. Aber ein Besucher aus der serbischen Stadt Čačak | |
war mit dem Virus infiziert und hat damit Feiernde angesteckt. Nach der | |
Feier fuhren die meisten wieder nach Hause und verbreiteten so das Virus | |
weiter, bis hin nach Sarajevo. | |
## Niemand hinterfragt die allgegenwärtige Korruption | |
Es war extrem verantwortungslos, am 11. März, als alle schon über das Virus | |
sprachen und die Grenzen gesperrt wurden, diese Feier abzuhalten. Bei den | |
anderen Fällen zeigt sich jedoch noch ein weiteres Mentalitätsproblem. Für | |
den Polizisten und den Mann in Mostar war es ganz normal, sich so zu | |
verhalten. Drei Jahrzehnte lang haben die [2][nationalistischen Eliten in | |
Bosnien] ein zutiefst korruptes System geschaffen. Ebenso lange haben sich | |
die Leute psychisch und in ihrem Verhalten auf das korrupte System | |
eingestellt und empfinden es heute als normal. | |
Dem stehen Menschen in Sarajevo und anderen Orten gegenüber, die während | |
des Kriegs in den 90er Jahren dreieinhalb Jahre weder Strom, Heizung noch | |
Wasser, geschweige denn genug zu essen hatten und die dazu noch täglich von | |
der Artillerie beschossen wurden. Die haben viel Schlimmeres als die | |
aktuelle Krise durchgestanden. Deshalb reagieren vor allem in den Städten | |
viele gelassen auf die staatlichen Auflagen und tragen sie mit. | |
Diese Menschen überrascht es nicht, dass die nationalistischen Eliten der | |
Nachfolgestaaten das im jugoslawischen Sozialismus noch funktionierende | |
Gesundheitssystem und alle staatlichen Sozialeinrichtungen | |
kaputtgewirtschaftet haben. Sie sind dies seit Jahren gewohnt, allen ist | |
klar, dass dieses System angesichts von Corona kollabieren wird, falls | |
nicht scharf gegen das Virus vorgegangen wird. Die meisten Menschen trauen | |
den offiziellen Zahlen nicht. Sie fordern mehr Kontrollen. | |
Die Außengrenzen sind jetzt dichtgemacht. Seit Montag besteht in Sarajevo | |
ein Ausgehverbot von 18 Uhr bis 5.30 Uhr morgens. Menschen dürfen sich | |
nicht mehr in Gruppen treffen, der Verkehr ist eingeschränkt, Schulen, | |
Universitäten, Restaurants und Cafés sind geschlossen. Die Menschen sind | |
angehalten, in ihren Wohnungen zu bleiben. Wer gegen die Auflagen verstößt, | |
wird zur Kasse gebeten. | |
## Applaus für Sicherheitsminister Fahrudin Radončić | |
Wegen der scharfen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus erntet | |
Sicherheitsminister Fahrudin Radončić viel Applaus. Der 63-jährige | |
ehemalige Pressesprecher der bosnischen Armee, der nach dem Krieg zum | |
Medienmogul aufstieg – er besitzt die größte Tageszeitung, Dnevni Avaz, und | |
ist Vorsitzender der Partei Allianz für den Fortschritt –, wurde lange der | |
korrupten Nomenklatura zugerechnet. Doch Radončić mausert sich jetzt in der | |
Krise zu einem Mann mit Initiative und Verstand. | |
Es ist ihm gelungen, den Staatsapparat auf Trab zu bringen. Der Polizist | |
aus Brčko und der Mann aus Mostar müssen sich vor Gericht verantworten. Die | |
bürgerlichen und linken Kräfte, wie die Partei Naša Stranka, stehen hinter | |
den Maßnahmen. Das bekommen jetzt auch die bisher Mächtigen zu spüren. | |
Milorad Dodik, der starke Mann der serbischen Teilrepublik, boykottiert | |
trotz der Krise gemeinsam mit dem Kroatenführer Dragan Čović die | |
Institutionen des Gesamtstaats. Damit ist dessen Handlungsfähigkeit gerade | |
jetzt eingeschränkt. Nicht einmal die Spenden für Ausrüstung der | |
Krankenhäuser, Gesichtsmasken aus China und der Türkei sowie die 7 | |
Millionen Euro an Hilfe aus der EU können wegen des Boykotts der | |
Nationalisten ordnungsgemäß abgewickelt werden. | |
Als kroatische Nationalisten den Kanton 10 um Livno in der | |
bosniakisch-kroatischen Föderation, der mehrheitlich kroatisch-katholisch | |
besiedelt ist, für andere Volksgruppen absperren wollten, empörten sich | |
viele. Sicherheitsminister Radončić sorgte dafür, dass der Kantonspräsident | |
alle Maßnahmen zurücknehmen musste. Das Virus, so müssen alle Bewohner | |
erkennen, ist nicht an eine Nation oder Volksgruppe gebunden. Dodik und | |
Čović könnten so langfristig zu Verlierern der Krise werden. Dagegen hat | |
Fahrudin Radončić Sympathien gewonnen. | |
30 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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