| # taz.de -- Kommentar Nationalismus in Bosnien: In der Zwangsjacke am Abgrund | |
| > In Bosnien und Herzegowina gewinnen nationalistische Strömungen an | |
| > Einfluss. Und die internationalen Institutionen lassen das zu. | |
| Bild: Kennt sich mit Abgründen aus: Brückenspringer in Mostar, Bosnien-Herzeg… | |
| Als am vergangenen Montag die Nachricht kam, dass Bosnien und Herzegowina | |
| nicht einmal in der Lage war, eine Delegation zum Europarat zu senden, war | |
| wieder einmal ein Schlaglicht auf einen Staat gesetzt, der so nicht | |
| funktionieren kann. „Jeder, der nur ein Gramm Gehirn hat, ist in diesem | |
| Land verzweifelt und hoffnungslos“, schrieb der Dichter und Schauspieler | |
| Darko Cvijetić aus Prijedor am Dienstag in Facebook. | |
| Über 30.000 Menschen haben dieses Jahr 2019 das Land schon in Richtung | |
| Europa verlassen – qualifizierte Arbeitskräfte die von deutschen | |
| Krankenhäusern, von der Altenpflege bis hin zum IT Sektor mit Kusshand | |
| genommen werden. Ihr Motiv ist nicht nur ökonomisch – auch politisch. | |
| Niemand aus den herrschenden Parteien habe ein Interesse, über die Probleme | |
| und die Zukunft der Gesellschaft zu diskutieren, klagte die Abgeordnete und | |
| Vizepräsidentin der linksliberalen nichtnationalistischen Partei Naša | |
| stranka, Sabina Djudić: „Es gibt wohl kein Parlament der Welt, das nur alle | |
| vier Wochen zusammentritt und dann nichts entscheidet.“ Bei einfachen | |
| Leuten und den hochpolitischen Taxifahrern in Sarajevo hört sich das noch | |
| drastischer an: „Nationalistische Kriminelle beherrschen uns in diesem | |
| Staat.“ | |
| Diese Einschätzung reflektiert durchaus realistisch die Zwangsjacke, in der | |
| das Land steckt. Mit dem Friedensvertrag von Dayton 1995 wurde eine | |
| Verfassung geschaffen, die das Land in nationalistischen Einflusszonen | |
| aufteilte, was zu einer Fragmentierung des Landes geführt hat und den | |
| serbischen und kroatischen Nationalisten entgegenkam. Deren Kriegsziel war | |
| es ja gewesen, die multinationale, multireligiöse bosnische Gesellschaft zu | |
| zerschlagen. Ihnen wurde nach dem Krieg die Gelegenheit gegeben, ihre Macht | |
| zu erhalten und sie sogar formaldemokratisch zu legitimieren. | |
| Dabei hätten die internationalen Institutionen das Land in eine positive | |
| Richtung lenken können. Die Kriegsparteien waren 1996 durch die | |
| internationalen Friedenstruppen entwaffnet, ein „Büro des Hohen | |
| Repräsentanten“ geschaffen, die EU, OSZE, der Europarat, die UNO und viele | |
| internationale Organisationen waren und sind präsent. Man hätte dem Land | |
| eine Atempause geben, zivile und unbelastete Personen in die Verwaltungen | |
| bringen können. Man hätte die alten Kriegsparteien verbieten und nach und | |
| nach Lizenzen für neue Parteien ausgeben können. | |
| ## Gegen die Interessen des Landes | |
| Doch das Gegenteil geschah. Mit den viel zu frühen Wahlen wurden die | |
| Nationalparteien „demokratisch“ legitimiert. Mit dem vor allem von der | |
| European Security Initiative (ESI) propagierten „Ownership“-Prinzip sollte | |
| die Macht in einheimische Hände gegeben werden. So konnten die totalitären, | |
| kriminellen und religiösen Strukturen der nationalistischen Extremisten | |
| ihre Positionen nach und nach wieder ausbauen. | |
| In der serbischen Teilrepublik wird jetzt diktatorisch regiert, die | |
| Opposition ist ausgeschaltet. Russische Berater werkeln am Aufbau einer | |
| neuen „Polizeitruppe“, der starke Mann der serbischen Nationalisten, | |
| Milorad Dodik baut nach und nach sein Herrschaftsgebiet zu einem | |
| „unabhängigen“ Gebilde aus. Beharrlich verfolgt er das Ziel, die durch das | |
| Verbrechen der ethnischen Säuberungen entstandene serbische Teilrepublik | |
| mit Serbien zu vereinigen. | |
| Als Repräsentant der Serben in das höchste Amt des Gesamtstaates Bosnien | |
| und Herzegowina, in die dreiköpfige Präsidentschaft gewählt, hat er in den | |
| letzten Monaten als Vorsitzender dieses Gremiums keine Gelegenheit | |
| ausgelassen, gegen die Interessen des Landes zu handeln. Die systematische | |
| Obstruktionspolitik des „Präsidenten“ schwächt die ohnehin schwachen | |
| gesamtstaatlichen Strukturen. | |
| Auf der kroatischen Seite von Bosnien und Herzogowina versucht deren | |
| starker Mann Dragan Cović die Kroatengebiete mithilfe Zagrebs zu einem | |
| eigenständigen Gebilde zu formen, die er zu Kroatien schlagen möchte. Nur | |
| in den bosniakischen Gebieten mit den Großstädten Sarajevo, Tuzla und | |
| Zenica gibt es noch Multikulturalität, Pressefreiheit und einen politischen | |
| Pluralismus. Bei den Wahlen 2018 gewannen linksliberale Bürgerparteien dort | |
| die Mehrheit. | |
| ## Klein-Klein-Politik der EU | |
| [1][Die Ownership-Theorie] ist krachend gescheitert. Seit 25 Jahren kommen | |
| die internationalen Institutionen Schritt für Schritt den | |
| totalitär-nationalistischen Parteien der Serben und Kroaten entgegen. Eine | |
| Aufarbeitung der Geschichte gibt es nicht, verurteilte Kriegsverbrecher | |
| werden straflos als Helden gefeiert. | |
| Entgegen ihrem Auftrag, die Demokratisierung des Landes zu fördern, das | |
| Rechtssystem zu modernisieren, Menschenrechte durchzusetzen, das Land für | |
| die Integration in die EU zu befähigen, weichen die Repräsentanten der | |
| westlichen Demokratie jedem auch nur kleinen Konflikt mit den Nationalisten | |
| aus. Der seit zehn Jahren „regierende“ Hohe Repräsentant, der Österreicher | |
| Valentin Inzko, hätte eigentlich die Machtmittel in der Hand, dem Spuk ein | |
| Ende zu setzen und den totalitären Kräften ein klares Zeichen zu geben. | |
| Doch er tut nichts. | |
| Die EU-Mission selbst hat sich mit ihrer windelweichen Klein-Klein-Politik | |
| in den Augen der Führungen der Nationalisten sogar lächerlich gemacht. | |
| Leuten wie Dodik und Cović könnte man nur kraftvoll und mit klaren Worten | |
| und Taten entgegentreten. Nur diese Sprache verstehen sie. Man kann nur | |
| hoffen, dass mit der neuen EU-Kommission und dem neuen EU-Parlament eine | |
| Revision der Balkanpolitik beginnt. Denn es ist ein politische Vakuum | |
| entstanden. | |
| Dass Putin, Trump und auch Erdoğan im Einklang mit den europäischen | |
| nationalistischen und rechtsradikalen Kräften das Europa der EU zerstören | |
| wollen, ist ja keine neue Erkenntnis. Dass der Balkan, präziser der | |
| Westbalkan und da vor allem Bosnien und Herzegowina, ein Hebel für die | |
| weitere Schwächung Europas sein kann, wird leider bisher nur von wenigen | |
| Politikern gesehen. | |
| 30 Jun 2019 | |
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| [1] http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54780/… | |
| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
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