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# taz.de -- Nationalismus in Bosnien: Geschichte über Verrat
> Die noch junge Regierung der bosnischen Hauptstadt wird gestürzt – zum
> Entsetzen der Bürger. Denn die fürchtet einen Rückfall in alte Zeiten.
Bild: Blick auf Sarajevo: Die Regierung der bosnischen Hauptstadt wurde vor kur…
Sarajevo taz | Vielen Künstlern, die die bosnische Hauptstadt Sarajevo
verlassen haben, fehle etwas sehr Wichtiges für ihr Inspiration, sagte
einmal der berühmte Musiker Goran Bregović. „Das sind die Kommentare der
Taxifahrer.“
Enes ist so einer, der den Künstlern und Schriftstellern helfen kann. Er
hat studiert – was, weiß er selbst nicht mehr so recht oder will es nicht
sagen. Enes ist wie viele seiner Kollegen einer, der sich mit Musik, Kunst
und Politik in der Stadt gut auskennt.
Die Frage nach den Gründen, warum die erst vor wenigen Monaten gebildete
Regierung des Kantons Sarajevo unter Führung der nichtnationalistischen
linksliberalen [1][Partei Naša Stranka] (Unsere Partei) am Montag gestürzt
worden ist, lässt seine Halsadern anschwellen. Er schnappt nach Luft. „Das
ist die schlechteste Nachricht der vergangenen Jahre. Die hatten gerade
angefangen, den Saustall der alten Regierung auszumisten, und wurden gleich
gestürzt.“
Diese alte Kantonsregierung war von der muslimischen Nationalpartei, der
Partei der Demokratischen Aktion (SDA), geführt worden. Unterstützt von der
Islamischen Gemeinschaft und dem konservativen muslimisch-nationalen
Kleinbürgertum, sorgte sie dafür, dass vor allem Parteigänger auf die
Posten der Stadtverwaltung gehievt wurden.
## Nicht mal Putzfrau
Wer die SDA unterstützte, konnte sich Chancen auf einen Job ausrechnen.
„Nach Qualifikationen wurde nicht gefragt, nur nach dem Parteibuch. Wenn du
nicht in der SDA-Partei warst, konntest du nicht einmal Putzfrau im
Ministerium werden“, ereifert sich Enes. „Hier in Sarajevo sind die meisten
Menschen aber gegen den kleingeistigen Nationalismus.“
[2][Die Korruption] erboste sogar manche Mitglieder der muslimischen
Nationalpartei, sodass sie eigene Parteien gründeten. Weil gleichzeitig die
modern und westlich auftretende nichtnationalistische Partei Nasa Stranka
bei den letzten Wahlen stärkste Partei in Sarajevo geworden war, konnte sie
mit anderen kleineren Parteien die Kantonsregierung übernehmen.
„Jetzt hatte die neue Kantonsregierung gerade angefangen, alle
Qualifikationen der Angestellten der Stadt und des Kantons zu überprüfen.
Das war gut“, sagt Enes. Die religiösen Konservativen aber waren
aufgeschreckt und fürchteten um ihre Jobs. „Die SDA-Politiker haben
mithilfe aller möglichen Tricks Naša Stranka gestürzt.“
Dževada hat einen Obststand auf dem Ciglane-Markt. Als die 35-Jährige, die
Oköprodukte verkauft, vom Sturz der Kantonsregierung hörte, reagierte sie
sofort. „Ich ließ alles stehen und liegen und bin zum
Präsidentschaftsgebäude gelaufen.“ Tausende protestierten dort bereits.
Gegen Željko Komšić, den Vorsitzenden der Partei Patriotische Front und
kroatischen Vertreter im Staatspräsidium.
## Tiefe Enttäuschung
Er half dabei, die neue Kantonsregierung zu kippen, indem er seine Partei
anwies, aus der Koalition mit Naša Stranka auszusteigen. Weil Komšić stets
gegen die religiösen Nationalisten aufgetreten war, enttäuschte der
„Verrat“ Dzevada zutiefst.
Nach einer Veranstaltung im Philosophischen Institut der Universität
Sarajevo über den Schriftsteller Peter Handke waren sich viele Studenten
und Professoren einig. „Wir hatten Hoffnung, dass jetzt Qualifikationen und
nicht Parteibücher bei Neueinstellungen entscheiden, wir wollen unser Land
nicht verlassen, sondern hierbleiben. Aber jetzt?“, sagt einer.
Der 84-jährige Historiker, Deutschlehrer und Exkommunist Meho schwärmt von
den jungen Frauen in der Politik. Sie repräsentierten eine neue Generation
unbelasteter Politiker. Für die Riege der etablierten konservativen Männer
seien vor allem sie eine Provokation. Auch dass Naša Stranka mit dem Serben
Predrag Kojević und der Bosniakin Irma Baralija äußerst populäres
Spitzenpersonal hat.
Irma Baralija, die an englischen Eliteuniversitäten studiert hat,
organisierte Demonstrationen gegen die Müllmafia in Mostar und setzte mit
einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof durch, dass nach zehn Jahren
Kommunalwahlen in Mostar durchgeführt werden müssen. „Die haben Angst, dass
der Funke auf andere Städte überspringt“, sagt Mejo. „Wer Sarajevo
beherrscht, kann auch den Ton in anderen Regionen angeben.“
21 Dec 2019
## LINKS
[1] /Stadtverunstaltung-in-Bosnien/!5600302
[2] /Korruption-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5596554
## AUTOREN
Erich Rathfelder
## TAGS
Bosnien und Herzegowina
Nasa Stranka
Sarajevo
Kolumne Stadtgespräch
Bosnien und Herzegowina
Gesundheit
Bosnien und Herzegowina
EU-Grenzpolitik
Balkan
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