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# taz.de -- Hanau-Anschlag und Coronavirus: Was trennt, verbindet
> Ein Monat ist seit Hanau vergangen. Und Deutschland befindet sich schon
> mitten in der nächsten Krise. Was wäre, würde man Krisen zusammendenken?
Bild: Am 4. März wurde in Hanau der Opfer des rassistischen Anschlags gedacht
BERLIN taz | Ein Monat ist seit Hanau schon vergangen. Am 19. Februar 2020
hat dort ein wahnhafter Rassist [1][neun Menschen getötet, weil sie nicht
in sein regressives Weltbild gepasst haben]. Für die einen mag es sich so
anfühlen, als sei der rassistische Anschlag gestern passiert. Ihnen kommt
das vielleicht so vor, weil ihr Schmerz so frisch ist und weil sie
vielleicht Angst haben, dass er für immer frisch bleibt.
Oder ist seit Hanau erst ein Monat vergangen? Denn anderen mag dieser Monat
vorkommen wie ein ganzes Jahr. Wir befinden uns schließlich schon in der
nächsten Krise.
Oder besser gesagt: Wir hangeln uns von einer Krise zur nächsten. Hanau, so
wie auch der NSU, ist Manifestation einer Dauerkrise in Deutschland, der
rassistischen Krise. Corona wiederum ist eine medizinische Krise, die sich
zu einer Wirtschaftskrise wie 2008 ff. entfalten könnte. Dann gibt es ja
noch die Migrationskrise – auch wenn es vielen jetzt schwer fällt, die
Verhältnisse auf den griechischen Inseln im Blick zu behalten.
Die Krisen folgen nicht nur aufeinander, sie überlappen sich. Es geht immer
um Leben und Tod. Um Angst und Unsicherheit. In Krisenzeiten vergleichen
Menschen ihr Leid gern mit dem von anderen. Wer ist ärmer dran, wessen
Klage ist legitim? Meine Oma? Der Freelancer? Unternehmen? Deutsche
Urlauber in Übersee? So überflüssig ein solches Opferranking meistens ist,
so gewinnbringend kann es sein, die Krisen in ihrem Charakter miteinander
zu vergleichen. Auch im Sinne derer, die da ihr Leid artikulieren.
Jede neue Krise verstärkt Ungleichheiten, die in Gesellschaften schon
vorher bestehen. Ihre Kosten werden ungleich verteilt: Siehe Euro-Krise in
Griechenland und woanders, siehe die Opfer des Rassismus, siehe die
Unbedarftheit mancher junger Menschen gegenüber Älteren und anderen
Risikogruppen in der Pandemie.
## Wir leben im Krisenmodus
Krisenmomente sind also Momente der Trennung, sie trennen Menschen
voneinander, die sich vorher möglicherweise verbunden oder zumindest
verbundener gefühlt haben. Die Euro-Krise trennte die europäische Jugend in
jene, denen es gut ging, und jene, die verarmten. Hanau trennte in jene,
die mittelbar berührt, und jene, die unmittelbar betroffen waren. Rufe nach
Solidarität und Zusammenhalt werden stets verhallen, wenn sich die Rufenden
nicht zugleich auch dieses trennenden Moments bewusst sind.
Wenn sie sich dessen aber bewusst werden, steigt die Wahrscheinlichkeit,
dass sich gut gemeinte Parolen und reale Taten decken. So wie während der
Euro-Krise, als Menschen in Deutschland, dem Deutschland, das die
Europäische Union und auch dessen Krisenmanagement dominierte, das
Finanzzentrum in Frankfurt am Main blockierten. Weil sie verstanden, was
sie von Gleichaltrigen in Athen und Madrid trennt. Dass zwischen ihnen eine
Ungleichheit liegt, die ungerecht ist und die überwunden werden muss.
In der Corona-Krise sind es Menschen, die sich [2][in allen Berliner
Bezirken über Chatgruppen organisieren], um Einkäufe für Menschen aus den
Risikogruppen zu erledigen. Oder Menschen, die kritisieren, dass die
EU-Staaten nach und nach die Grenzen dichtmachen, statt das
Krisenmanagement solidarisch zu organisieren.
Und nach Hanau sind es vielleicht die Tränen und die Wut einer Person,
deren Eltern nicht nach Deutschland migriert sind, die aber weint und
wütend ist, weil ein anderer Mensch sagt, dass es auch ihn hätte treffen
können.
Wir leben im Krisenmodus. Krisen trennen uns voneinander, jede Krise
verlangt für sich die maximale Aufmerksamkeit. Die eine Krise ist so
wirkmächtig, weil sie uns die andere vergessen macht. Lieber sollten wir
mitten in der Corona-Krise an Hanau und andere Krisen zurückdenken. Und uns
fragen, was die Ereignisse miteinander verbindet.
Begriffe wie Solidarität und Zusammenhalt können wir dann mit vergangenen
Erfahrungen füllen. Sich geschichtsvergessen von der einen zur anderen
Krise zu hangeln, macht uns ohnmächtig.
19 Mar 2020
## LINKS
[1] /Nach-dem-rassistischen-Attentat/!5664747/
[2] /Was-tun/!170543/
## AUTOREN
Volkan Ağar
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