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# taz.de -- Coronakrise weltweit: Freiheit braucht eine Wahl
> Steht die Gesundheit über allem? Was und wer ist wirklich systemrelevant?
> Sind wir mit der Globalisierung zu weit gegangen? Was wir aus der Krise
> lernen können.
Bild: 20. März, Volkspark Wilmersdorf in Berlin: Zwei Männer hangeln sich dur…
Die Weltgesellschaft hat Grippe, schwere Grippe. Bei uns Menschen dauert
sie circa zwei Wochen, bei Gesellschaften vielleicht ein Jahr. Menschen
sind häufig nach extrem bedrohlichen Erkrankungen nicht mehr dieselben –
sie stellen Fragen an sich selbst, an ihre Vorstellungen vom Richtigen und
Guten, an ihre Werte und Prioritäten. Häufig erleben Menschen eine solch
existenzielle Krise als Selbsterkenntnisgewinn, als Befreiungsschlag, als
Sprung in der Biografie. Dafür müssen sie aber die Bedrohung heil
überstehen.
Ähnlich kann es einer Gesellschaft ergehen. Wir erleben eine beispiellose
Krise. Wenn [1][Kinder nicht zur Schule gehen], [2][Fußball nicht gespielt
wird] und [3][Autos nicht gebaut werden] und all das europaweit auf
unbestimmte Zeit, dann wird die Tragweite und Besonderheit der Situation
bereits deutlich. Alles, was nicht notwendig ist, wird eingestellt. Vieles,
was wichtig erschien, ist es nicht. Auch die zentralen Institutionen der
Kunst und der Wissenschaft sind geschlossen. Weite Teile der Wirtschaft
stehen kurz vor dem Stillstand. Und [4][die Bundeskanzlerin spricht aus
aktuellem Anlass zur Bevölkerung]. Dass all das gleichzeitig geschieht, ist
einzigartig und wird enorme Folgen haben. War on Terror, Finanzkrise,
Eurokrise, Flüchtlingskrise und Populismus erscheinen auf einmal
klitzeklein.
Wir lernen nun unsere Gesellschaft besser kennen. Was ist jetzt wirklich
wichtig? Staat, Familie und Medien (auch neue Medien). Was sind
[5][systemrelevante Berufe?] Die Menschen, die sich um die Wasser- und
Stromversorgung kümmern. Polizei, Feuerwehr und Müllentsorgung, die Banken,
auch wenn das vielen nicht gefällt – alle sind nach wie vor systemrelevant.
Aber wie wichtig Postzusteller/innen, Lkw-Fahrer/innen und ganz besonders
die Arbeitskräfte in Lebensmittelindustrie und -einzelhandel, in den
Krankenhäusern und Kitas sind, merkt man jetzt, wenn es ums Existenzielle
geht. Nach der Krise wird darüber zu reden sein, [6][ob Ansehen und
Arbeitsbedingungen dieser Berufe ihrer Bedeutung entsprechen.]
Wir lernen noch mehr. Maßnahmen, die weit außerhalb des Denkbaren waren,
sind innerhalb weniger Tage umgesetzt – und sie reichen vielen dann schon
nicht mehr aus. Wenn man wirklich will, ist Unvorstellbares möglich. Aber:
Die Stärken offener Gesellschaften sind zugleich ihre Schwächen –
drastische Maßnahmen, die automatisch die Freiheiten einschränken, können
kaum zu Beginn einer Krise einsetzen, sie müssen nach und nach in der Krise
angepasst werden. Sie werden nur zögerlich befolgt und notwendigerweise von
kritischen Stimmen begleitet.
## Kollektive Traumatisierungen
Aber drastische Maßnahmen, wozu auch [7][Ausgangssperren] gehören können,
sind aus zwei Gründen angezeigt: Erstens, weil ganz ohne Maßnahmen
praktisch das Gleiche passieren würde. Schulen müssten schließen, weil
Lehrkräfte und Kinder krank werden. Museen und Theater würde kaum jemand
mehr besuchen. Die Bundesliga fiele aus, weil zu viele infiziert wären, die
Wirtschaft stünde unkontrolliert still, zudem wären die Krankenhäuser
überlastet und viele Menschen würden sterben, die nicht sterben müssten.
Zwar würde keine Freiheit durch den Staat eingeschränkt, aber dadurch, dass
die Infrastruktur kollabierte, hätte man von seiner Freiheit nichts,
wirklich nichts. Mal ganz abgesehen von den kollektiven Traumatisierungen,
die dieses Chaos nach sich ziehen würde.
Zweitens, weil moderate Maßnahmen sehr zielgerichtet zu unserer Bevölkerung
passen müssten. Die Idee, nur die Alten und die Risikogruppen zu isolieren,
ist gar nicht so einfach umzusetzen. Bei der Gruppe über 67 handelt es sich
um 20 Prozent der Bevölkerung (16 Millionen), zieht man die Linie bei 65
Jahren, sind es weitere zwei Millionen Menschen. Mit jüngeren Vorerkrankten
dürfte man auf fast 30 Prozent der Bevölkerung kommen. So in etwa sieht es
in ganz Europa aus.
Und wo halten sich die meisten gefährdeten Gruppen auf? In Seniorenheimen,
Krankenhäusern und Arztpraxen. Wie soll man diese Orte und die dort
arbeitenden Menschen vor einer Infektion schützen, wenn sich das Virus
ansonsten weiter verbreitet? Und: Ziemlich viele aktive Lehrer/innen,
Polizist/inn/en, Richter/innen und Manager/innen sind älter als 60. Wir
haben in Europa auf der einen Seite ein besseres Gesundheitssystem als
andere, aber wir haben auch eine recht alte Bevölkerung – auch in der
Gruppe der Berufstätigen.
## Priorisierungen verändern sich
Eine Pandemie ist eine Pandemie. Die Folgen der Maßnahmen darf man nicht an
den vergangenen Jahren messen, sondern an einer möglichen Zukunft ohne
diese Maßnahmen. Die Maßnahmen sind von großer Tragweite. Nach den
Leitkulturdebatten der vergangenen Jahrzehnte ist die Empfehlung, sich
nicht die Hand zu geben, Abstand zu halten, vielleicht sogar Mund und Nase
zu verdecken und im Idealfall nicht mehr das Haus zu verlassen, fast schon
komisch. Das sind tatsächlich weitreichende Einschnitte in die
(Alltags)Kultur.
Zwischenzeitlich verändern sich Priorisierungen. Das Verhältnis von Staat
und Individuum verschiebt sich, auch das Verhältnis von Freiheit und
Sicherheit. Alles ist gleichermaßen wichtig. Aber Freiheit ist nur
Freiheit, wenn das Individuum wirklich die Wahl hat. Das ist hier nicht der
Fall. Um der Pandemie etwas entgegenzusetzen, müssen sich zumindest
zeitweise fast alle gleich entscheiden. Das schafft man nur mit klaren
Regeln, auch mit Verboten und zugleich mit Überzeugungsarbeit und
Aufklärung. Denn eines ist klar: Wenn es zu einer Katastrophe kommt, weil
man nicht zu drastischen Maßnahmen gegriffen hat, dann hat das extreme
Auswirkungen auf die Zukunft der Demokratie und der Freiheit, denn dann
werden notorische Sicherheitsfanatiker und Populisten gewinnen.
Dennoch ist auch klar: Es gibt derzeit keine Strategie. Es geht um
Zeitgewinn. Für die Forscher/innen, für die Krankenhäuser, für die
Entwicklung von Strategien. Mehr geht im Augenblick nicht. Keine guten
Zeiten für Menschen, die klare Strukturen und Planungssicherheit lieben.
„Gute“ Zeiten für Besserwisser und Verschwörungstheoretiker. Irgendwann
wird die Frage gestellt werden, in welchem Verhältnis die Effekte zu den
Nebeneffekten der Maßnahmen stehen. Steht die Gesundheit über allem? Und
wenn ja, dann steht immer noch nicht fest, was die Gesundheit langfristig
am besten stützt. Die indirekten gesundheitlichen Folgen von drastischen
Maßnahmen über längere Zeit müssen im Blick bleiben. Ökonomische
Katastrophen können auch töten.
## Müssen wir Selbstversorger werden?
Es bleibt zunächst nur zu hoffen, dass die Maßnahmen greifen und das
Schlimmste im Laufe des Jahres überstanden ist. Vieles deutet darauf hin,
dass die Gesellschaft nach dieser Krise nicht mehr dieselbe sein wird.
Während einer der schwersten und längsten Weltwirtschaftskrisen müssen dann
ergebnisoffen viele Fragen diskutiert werden:
Haben Digitalisierung und Internet vielleicht eine viel weitreichendere
Bedeutung, als wir angenommen haben, nicht nur für die Bewältigung der
nächsten Pandemie? Was und wer ist systemrelevant? Aber auch: Was an und in
den Systemen ist eigentlich (nicht) relevant?
Wie sieht es mit dem europäischen Zusammenhalt aus? Was in der ersten Panik
noch nicht gut funktionierte, kann ja noch werden. Die Pandemie wurde ja
erst vor einigen Tagen wirklich als solche begriffen, und die Situation ist
in den Ländern und Regionen unterschiedlich dramatisch, entsprechend sind
in der Anfangsphase unkoordinierte Alleingänge nachvollziehbar.
Entscheidend ist, was in den nächsten Tagen und Wochen passiert.
Sind wir [8][mit der Globalisierung zu weit gegangen oder nicht weit
genug?] Sollte das Land in einigen Bereichen wieder Selbstversorger werden,
etwa bei medizinischen Produkten? Oder müssen wir global viel enger
kooperieren?
Eine Weltgesellschaft, die vom Macht- und Konkurrenzmodus auf Kooperation,
Solidarität und Zusammenhalt umschaltet, wäre etwas Neues. Sie täte das
nicht aus Altruismus, sondern weil es sein müsste. Vor Corona dachte ich,
es bräuchte Außerirdische, um diesen Zwang zu erzeugen. Vielleicht sind es
winzig kleine Viren, die uns zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen
und von systematischer Kooperation abhängig sind. Vielleicht hilft diese
Erfahrung auch für die Bewältigung der Klimakrise. Grundlegende Änderungen
erscheinen plötzlich nicht mehr unrealistisch. Es wird in jedem Fall bei
all diesen Fragen nicht mehr ohne weiteres möglich sein zu sagen: geht
nicht. Es geht sehr viel.
25 Mar 2020
## LINKS
[1] /Schulen-und-Kitas-schliessen-wegen-Corona/!5668414
[2] /Fussball-zu-Pandemie-Zeiten/!5669316
[3] /Autoindustrie-in-der-Corona-Krise/!5672231
[4] /Merkels-Fernsehansprache/!5672368
[5] /Menschen-mit-systemrelevanten-Berufen/!5672448
[6] /Der-Wert-von-Systemrelevanz/!5669123
[7] /Ausgangssperren--rechtlich-gesehen/!5672944
[8] /Coronavirus-und-Weltwirtschaft/!5667155
## AUTOREN
Aladin El-Mafaalani
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