| # taz.de -- Gentrification mit Gesang: Aufwertung und Ausverkauf | |
| > Die Neuköllner Oper in Berlin präsentierte mit „Opera for Sale“ ein | |
| > Immoblien-Infotainment. Es ist theatralisch und musikalisch effektiv. | |
| Bild: Geld ist dauernd im Spiel in der „Opera for Sale“ | |
| Zu Beginn begrüßen uns drei übertrieben freundliche | |
| Musicaltheater-Service-Mitarbeiter*innen der „Angel Dust Property GmbH | |
| Opera Neukölln“ in Startupsprech mit lauter Anglizismen. Ihre Uniformen – | |
| limettenfarbene Daunenwesten mit Khakishorts und weiße Sneaker – haben | |
| etwas Sektenmäßiges. Wir befinden uns im Berlin der nahen Zukunft, einer | |
| durchkapitalisierten Dystopie. | |
| Mit unserem Ticket sind wir nun Anteilseigner des Unternehmens, werden wir | |
| informiert. Wir investieren in Kultur, hier [1][im ehemaligen Studio der | |
| Neuköllner Oper.] Sollte unser Nachbar niesen, befinden sich die | |
| Notausgänge vorne und hinten, warnen sie. | |
| Der Witz mit Coronavirusbezug sorgt für nervöses Gelächter in diesen | |
| Zeiten. Am Donnerstagabend durfte die Uraufführung von Felix Krakaus | |
| (Regie) und Yuval Halperns (Musik und Musikalische Leitung) „Opera for | |
| Sale“ doch noch stattfinden. Eine erfreuliche Nachricht für das | |
| Premierenpublikum, denn es wird vermutlich der letzte Kulturbesuch für eine | |
| Weile sein. Weitere Vorstellungen sind zunächst bis zum 19. April abgesagt | |
| worden. | |
| ## Kriselnder Wohnungsmarkt | |
| In der Zwischenzeit arbeite die Neuköllner Oper an einer streambaren | |
| Version, die man hoffentlich in Bälde auf YouTube schauen könne, sagte | |
| Andreas Altenhof, Pressesprecher des Hauses. Zudem wolle die Neuköllner | |
| Oper das freie Ensemble während der vorstellungsfreien Zeit trotzdem weiter | |
| bezahlen. „Wir stehen zu den Künstler*innen, die sich auf uns verlassen“, | |
| so Altenhof. | |
| In „Opera for Sale“ liefern Krakau und Halpern 70 Minuten energetisches | |
| Musiktheater verwoben mit dokumentarischer Gentrifizierungskritik. Im Foyer | |
| sind Exemplare der Recherche „Wem gehört die Stadt?“ von Correctiv und dem | |
| Tagesspiegel ausgelegt, die als Grundlage für das „Immobilien-Infotainment“ | |
| diente, wie Krakau und Halpern ihr Stück bezeichnen. | |
| So erfahren wir im Laufe des Abends die viel zitierten Statistiken über den | |
| Stand des kriselnden Berliner Wohnungsmarkts: 60 Prozent von Wohnungen | |
| gehören profitorientierten Unternehmen, 12 davon besitzen jeweils über | |
| 3.000 Wohnungen, mit Beständen von insgesamt über 250.000 Wohnungen. Ihre | |
| Schikanen kennt mittlerweile jede*r. Diese 12 Unternehmen sind auch ins | |
| Visier der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen gerückt, die einen | |
| Volksentscheid zur Vergesellschaftung ihrer Wohnungsbestände gestartet hat. | |
| Im Zentrum des kurzweiligen Abends stehen aber nicht die Fakten, sondern | |
| die Geschichte und vermeintliche Zukunft der Stadt und der Neuköllner Oper | |
| selbst. | |
| ## Im Boxkampf fliegen Geldscheine | |
| Eine Geschichte, die schwungvoll vom jungen Ensembletrio Kilian Ponert, | |
| Teresa Scherhag und Lou Strenger gespielt wird. In einem Boxkampf erleben | |
| wir zum Beispiel den vergeblichen Kampf der Stadtverwaltung der frühen | |
| nuller Jahre, hier als alter Bürokrat mit fragwürdigem Schnurrbart und nur | |
| einem Blatt Papier als Bewaffnung verkörpert, gegen den anonymen, | |
| Geldscheine schmeißenden Investor im Pelzmantel. | |
| Es ist ein Ringen zwischen Milieuschutz und Verwertungslogik mit dem | |
| vorhersehbar tragischen Ende. „Wir haben Berlin unter Kontrolle“, sagt der | |
| Stadtverwalter naiv. „Money money makes the world go round“, kontert der | |
| Investor. „Du hast keine Ahnung, wo das Geld herkommt und wo es hinfließt. | |
| Du weißt gar nichts.“ Der Investor liegt scheinbar niedergeboxt und | |
| ohnmächtig am Boden: Er verliert den Kampf, gewinnt aber doch den Krieg. | |
| Was nach verkürzter Kapitalismuskritik mit polemischen Tendenzen klingen | |
| könnte, sorgt in der Tat für politische Unterhaltung mit | |
| Volkstheatercharakter. Es ist ein gelungener kultureller Ausdruck der | |
| aktuellen Immobiliendebatten. Neu sind die Argumente nicht, hier sind sie | |
| aber theatralisch und musikalisch so effektiv verarbeitet, dass sie – | |
| entschuldigen Sie bitte die Wortwahl – ansteckend wirken. Dies ist auch der | |
| eingängigen, jazzigen Partitur von Halpern zu verdanken. | |
| ## Spott und Sarkasmus | |
| Gleichzeitig bietet das Stück aber an Stellen eine nuanciertere Betrachtung | |
| der Situation: Auch Leute mit privater Altersvorsorge sind oft unbewusst | |
| mitschuldig am Ausverkauf der Stadt. Das Problem ist strukturell. Diese | |
| Kritik am kapitalistischen Wohnungsmarkt kann „Opera for Sale“ humorvoll | |
| und spöttisch verpacken. „Alles hier war marode vor der Aufwertung, als | |
| Leute sich die Stadt noch leisten konnten“, sagt eine Stimme im | |
| sarkastischen Ton. | |
| Am Ende des Stückes hat das Kapital die Stadt doch besiegt. Es ist „in jede | |
| Ritze geflossen“, die Stadt ist menschenleer. Ein emotional aufwühlender | |
| Monolog fragt, ob das hätte sein müssen? „Es gab Hoffnung. Wir haben es | |
| versucht!“ Ein Gedankenexperiment: Wir sollten uns vorstellen, dass die | |
| Wohnungskampagnen Erfolg gehabt hätten, der soziale Wohnungsbau | |
| vorangetrieben wäre, Briefkastenfirmen abgeschraubt wären. Dass wir an eine | |
| andere Welt geglaubt hätten. Dazu sentimentale Akkorde vom Keyboarder Doron | |
| Segal. | |
| Der utopische Moment wird allerdings abrupt beendet. Drei Vertreter*innen | |
| der globalen Investmentfirma Blackrock aus New York City stürmen die Bühne | |
| wie Gangster. „This is an investment. I repeat: This is an investment“, | |
| brüllen sie in verzerrten Stimmen. Die Bühne wird mit Sperrband | |
| abgeriegelt. Hier soll der Duty-Free-Shop des neuen Blackrock International | |
| Airport Neuköllns entstehen. Alle müssen gehen. Ein düsteres Ende, das wir | |
| mit viel Mühe vielleicht noch abwenden können. | |
| Wie die meisten Veranstaltungen des Berliner Kulturbetriebs wurde auch | |
| diese Veranstaltung wegen des Corona-Virus abgesagt. Vorerst betrifft das | |
| alle Vorstellungen bis zum 31. März. Der Spielplan sieht Vorstellungen bis | |
| zum 12. Mai vor. | |
| 14 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nicholas Potter | |
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