# taz.de -- Opernhäuser in Corona-Krise: Klagelied über „höhere Gewalt“ | |
> „Das System ist eindeutig kaputt, und zwar seit Jahren.“ Bariton Seth | |
> Carico und Tim Ribchester, Coach und Dirigent, über die Lage für | |
> Freiberufler. | |
Bild: Seth Carico (stehend) sang in „Wozzek“ von Alban Berg den Doktor | |
„Innerhalb von drei Tagen wurden alle meine Auftritte für die Saison | |
2019/2020 abgesagt, insgesamt 13, von drei verschiedenen Opernhäusern“, | |
erzählt Opernsänger Seth Carico. „Es war unerträglich zu sehen, wie sie | |
nacheinander davonrutschen.“ Der amerikanische Bariton war für neun | |
Spielzeiten an der [1][Deutschen Oper Berlin] festangestellt gewesen. | |
Seit August letzten Jahres ist er Freiberufler und hat aktuell an drei | |
Opern einen Gastvertrag: an der Deutschen Oper, der Staatsoper Hannover und | |
der Minnesota Opera in den USA. Wie sich jetzt herausstellt, war es eine | |
„verdammt schlechte Zeit, um sich selbstständig zu machen“, muss er jetzt | |
sagen. | |
Viele Berufsgruppen leiden stark unter dem Corona-Shutdown. Auch [2][die | |
Kulturbranche trifft es hart]. Dabei ist die Situation von | |
Opernsänger*innen hervorzuheben. Wie Seth Carico arbeiten die meisten in | |
mehreren Ländern oder sogar Kontinenten. Deshalb müssen sie viel reisen, | |
übernachten ständig in anderen Städten. | |
Sie nehmen Gesangsunterricht, Coaching genannt, um sich immer wieder | |
intensiv auf neue Rollen vorzubereiten. Bezahlt werden sie aber nur für die | |
Auftritte, nicht für die oft monatelangen Probenzeiten. Schon vor Corona | |
konnte sich niemand den Ausfall einer Gage leisten. | |
## Force-Majeure-Klausel | |
Seth Carico konstatiert: „Das System ist eindeutig kaputt, und zwar seit | |
Jahren. Vor der Krise konnte es noch humpeln, aber jetzt sind alle Risse | |
freigelegt.“ Einer der Risse ist die Force-Majeure-Klausel. Force Majeure, | |
also eine höhere Gewalt, kann eine Naturkatastrophe, ein Terroranschlag | |
oder eben eine Pandemie sein. | |
Tritt so ein unvorhersehbares Ereignis ein, ist die Oper nicht mehr | |
verpflichtet, ihre Sänger zu bezahlen. Da fast alle Standardverträge diese | |
Klausel beinhalten, stehen jetzt Abertausende Sängerinnen und Sänger ohne | |
Bezahlung da, obwohl sie bereits durch Reisen, Unterkünfte, Coaching und | |
lange Probenzeiten in Vorkasse gegangen sind. | |
„Ich musste beobachten, wie die Hälfte meines erwarteten Einkommens für | |
2020 einfach weg war“, erzählt Carico. „Am Nachmittag, als wir von den | |
Proben entlassen wurden, bin ich direkt zum Arbeitsamt gegangen. Da ich so | |
viele Jahre bei der Deutschen Oper Berlin festangestellt war, ging es zum | |
Glück schnell und reibungslos und ich erhalte jetzt schon finanzielle | |
Hilfe.“ | |
Weil Sänger*innen kein Einkommen mehr haben, ist es auch schwierig, ihre | |
Coaches und Manager zu bezahlen. Tim Ribchester ist Coach, Dirigent und war | |
gerade noch mitten in den Proben als Cembalist für Mozarts „Idomeneo“ an | |
der [3][Staatsoper Berlin]. Er versucht nun, die Sänger*innen, mit denen er | |
arbeitet, über das Internet zu coachen. | |
## Verbindungsprobleme | |
„Es ist eine Herausforderung. Ich kann immer noch die grundlegende | |
technische und musikalische Qualität eines Sängers bewerten und Feedback | |
geben“, berichtet Ribchester. Die Sänger parallel mit dem Piano zu | |
begleiten funktioniere aber überhaupt nicht. Außerdem seien die | |
Verbindungsprobleme sehr frustrierend, wenn man versucht, die Energie einer | |
Sitzung aufrechtzuerhalten. Keine dauerhafte Lösung. | |
Viele Opernhäuser, besonders außerhalb Deutschlands, gehen selbst auf dem | |
Zahnfleisch. Sie erhalten kaum staatliche Subventionen, sondern sind von | |
privaten Spenden abhängig. Einige versuchen trotzdem, ihre Sänger*innen zu | |
bezahlen, viele werden aber schließen müssen. | |
Seth Carico ist ratlos. „Als Künstler sollte ich vor unvorhersehbaren | |
Absagen sicher sein. Aber wenn die Türen eines Opernhauses für immer | |
geschlossen bleiben, wie kann ich dann mit diesem Verlust an Kunst und | |
Einnahmen leben?“ Gesucht wird eine Lösung, die sicherstellt, dass sowohl | |
die Sänger*innen als auch die Opernhäuser vor „höheren Gewalten“ wie | |
Corona, aber auch im Alltag besser geschützt sind. | |
Zum Beispiel könnte zu Beginn der Proben ein Teil der Gage im Voraus | |
gezahlt werden. Einige europäische Häuser machen das, in den USA gibt es | |
diese Praxis nicht. Überhaupt sieht Carico einen großen Unterschied in den | |
Arbeitsbedingungen von Opernsänger*innen weltweit: „Ich kann gar nicht | |
sagen, wie glücklich ich bin, dass ich dies in Deutschland und nicht in den | |
USA durchmache. Viele meiner amerikanischen Kollegen sind am Boden | |
zerstört, da es für diese Situation praktisch kein Sicherheitsnetz gibt.“ | |
## Mit gutem Beispiel voran | |
Auch Tim Ribchester, der seit 2015 in Berlin lebt, findet, Deutschland gehe | |
mit gutem Beispiel voran. Immerhin erhält er finanzielle Hilfe. „Die | |
Investitionsbank hatte ein erstaunliches System – eine | |
Online-Warteschlange, in der 100.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden | |
bearbeitet wurden“, erzählt er. | |
Wie die Opernwelt nach der Coronakrise aussieht, mag man sich kaum | |
vorstellen. Viele Häuser werden schließen, doch dieselbe Anzahl an | |
Sänger*innen braucht Engagements. Es wäre an der Zeit, die prekären und | |
unsicheren Arbeitsbedingungen der hochausgebildeten Künstler*innen zu | |
verbessern. Doch man kann wohl mit dem Gegenteil rechnen. | |
„Ich habe besonders Angst davor, was dies in Zukunft für die Qualität der | |
Programme bedeuten wird, dass jetzt Opern in Panik geraten und nur noch | |
fünf Kassenschlager spielen“, bangt Carico. Wenn den Häusern und ihren | |
Sänger*innen nicht geholfen wird, sehen wir nach Corona vielleicht nur noch | |
die „Zauberflöte“ und „Aida“. | |
21 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marlene Militz | |
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