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# taz.de -- Sanfter Tourismus: Neue Begehrlichkeiten
> Eine neue Bereicherungsökonomie setzt auf das historische Erbe, das
> schöne Dorf, die Natur. Nachhaltigkeit scheint mehr denn je machbar.
Bild: Pilger auf dem Jakobsweg nach Fontearcuda in Galizien
Es ist das sanfttouristische Erfolgskonzept: der Jakobsweg. Im Zuge der
Herausbildung der Europäischen Union und des EU-Beitritts Spaniens
deklarierte der Europarat in Straßburg den [1][Jakobsweg nach Santiago de
Compostela] am 23. Oktober 1987 zum ersten Europäischen Kulturweg. Als
einen Ort der Begegnung, der „höchst symbolisch“ für den europäischen
Entwicklungsprozess stehe, „jenseits aller Unterschiede und nationaler
Interessen“.
Der Camino war der erste in der Reihe [2][Europäischer Kulturwege], der mit
EU-Geldern gefördert und ausgebaut wurde. Parallel dazu arbeitete die
spanische Tourismusbehörde an der Diversifizierung ihres touristischen
Angebots, nämlich der Förderung eines Inlandstourismus in strukturschwache
Regionen jenseits der Mittelmeerküste mit ihrem boomenden Strandtourismus.
1993 nahm die Unesco den Jakobsweg in ihre Welterbeliste auf. Dadurch
waren die Grundlagen für ein sagenhaftes touristisches Coming-out gelegt.
Seither gehen Besucher aus aller Welt zu Fuß 800 Kilometer mit
spartanischem Gepäck auf einem schmalen Weg durch Nordspanien und entdecken
sich und ein sinnliches, lebendiges, emotionales Verhältnis zur Welt beim
Gehen.
Eine umweltverträglichere Mobilität vor Ort gibt es nicht. Zum sanften
Tourismus gehören kleine Pilgerherbergen, mittelständische Gastronomie, die
Restaurierung des Kulturerbes. Mit den Wanderern aus aller Welt wuchsen
Wohlstand und Ansehen in einer Region, die abgelegen am westlichen Rand
Europas liegt.
Gemeinhin gilt sanfter Tourismus als ein Relikt aus den 80er Jahren, als
sich in der Folge der ersten Klima- und Umweltdiskussion (1972 erschien der
Bericht des [3][Club of Rome] über die Grenzen des Wachstums) eine
Ökobewegung formierte. Viele Projekte wurden angestoßen, die der
ökologischen und regionalen Entwicklung dienen sollten, von Wanderwegen wie
der Alpenüberquerung [4][Grande Traversata delle Alpi] (GTA) für
anspruchsvolle Wanderer bis zu Projekten zur Erschließung regionaler
Potenziale mit regionaler Küche, Weinen oder historischen Nutztieren wie
dem Rhönschaf. Statt Neubau wurde die Nutzung historischer Bausubstanz
propagiert und die Verschönerung von Landschaft mittels Renaturierung.
Wein-, Bierstraßen und Kulturrouten wurden eingerichtet.
## Hauptziel ist Naturschutz
Auch den Grenzstreifen des ehemaligen [5][Eisernen Vorhangs] durch ganz
Europa erkämpften sich Naturschutzverbände als bleibende Naturschutzzone.
Ein „[6][grünes Band]“ zieht sich nun durch ganz Europa. Vor allem die
Naturschutzbewegung setzte Akzente mit der Einrichtung von Nationalparks.
Um Schutzgebiete einrichten zu können und in der Bevölkerung akzeptabel zu
machen, wurde auf eine sanfttouristische Entwicklung vor Ort hingearbeitet
in Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen, Verkehrsträgern,
Privatwirtschaft. Mit dem Hauptziel des Naturschutzes.
Wenn heute überall im Tourismus von Nachhaltigkeit die Rede ist, so ist das
der Erfolg dieser Umweltbewegung aus der engagierten Nische „sanfter
Tourismus“. Die Diskussionen, die in der sanfttouristischen Nische darüber
geführt wurden, ob man sich der kapitalistischen Verwertungslogik durch
Zusammenarbeit mit touristischen Akteuren unterwerfen solle, waren hart:
Nicht einmal das anonyme Sponsoring durch Wirtschaftsunternehmen oder deren
Stiftungen war akzeptiert. Viele sahen und sehen Umwelt- und Naturschutz
dezidiert als staatliche Aufgabe an, alles andere stand und steht im Ruf
des Greenwashings.
Mit der [7][deutschen Umwelthilfe] schufen die Umweltverbände allerdings
eine Organisation, die sich um Spenden und deren Organisation bemühte. Für
Jürgen Resch, damals schon Geschäftsführer der Umwelthilfe, galt mehr oder
weniger, dass der (Naturschutz-)Zweck marktwirtschaftliche Mittel heilige:
Die Inwertsetzung durch Tourismus schade einem Nationalpark nicht, war die
Devise. In marktwirtschaftlichen Strategien erkannte man durchaus Chancen,
Naturschutzprojekte populär zu machen.
Nach Ansicht von führenden Sozialwissenschaftlern wie [8][Luc Boltanski und
Arnaud Esquerre] sind diese Chancen heute größer denn je. Denn der
Kapitalismus in reichen westlichen Ländern verlege sich zunehmend auf die
Ausschlachtung des Alten und Bestehenden. „Früher zog der Kapitalismus
seine Identität aus der Entwicklung des Neuen. Heute ist die Idee des
Fortschritts hingegen in einer tiefen Krise, weshalb sie selbst für
kapitalistische Interessen nicht mehr so gut taugt. In gewisser Hinsicht
macht der Kapitalismus deshalb nun Anleihen beim Antikapitalismus“, sagt
Boltanski im Interview mit dem Philosophie Magazin.
## Wandel durch Deindustrialisierung
Boltanskis und Esquerres Grundthese: Profite werden hier in Europa immer
weniger durch Massenproduktion als vielmehr durch die Abweichung von
Standardartikeln erzeugt. Der Kapitalismus hat sich verändert: „Wir
beschreiben den ökonomischen Wandel, der durch die Deindustrialisierung in
den westeuropäischen Ländern seit den 1970er Jahren eingesetzt hat, und den
damit zusammenhängenden Wandel der Ausbeutung von Ressourcen, die nicht neu
sind, aber eine völlig neue Bedeutung bekommen haben: die Künste, die
Kultur, der Antiquitätenhandel, die Luxusindustrie, die Patrimonialisierung
und der Tourismus“.
Boltanski und Esquerre sprechen von einer ökonomischen Neuausrichtung, der
„Bereicherungsökonomie“: einem weiteren Schritt zum „Vollkapitalismus“,
dessen Wertschöpfung in den reichen Ländern zunehmend über
Singularitätsgüter mit historischem Bezug stattfindet. Altes gewinnt neuen
Wert und schafft neuen Profit. Diese „Bereicherungsökonomie“ habe „zwei
Dimensionen“, sagt Esquerre im Interview mit dem [9][Philosophie Magazin]:
„Dort, wo durch die Deindustrialisierung viele Arbeitsplätze verloren
gingen und sich in der Folge eine Verschiebung zur Bereicherungsökonomie
vollzog, konnte das zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen.“ Hier
entstehen neue Spielräume, neue Perspektiven für eine Region wie rund um
den Camino.
Zwar sei es vor allem ein Austausch von Reichen unter Reichen, nämlich all
denen, die bereits über den nötigen Besitz und die nötigen Mittel verfügen,
aber auch Aktionen von unten, etwa aus abgehängten Regionen, haben neue
Chancen: Projekte mit regionalen Besonderheiten, mit lokalen Traditionen,
überliefertem Handwerk oder historischen Natur- oder Kulturschätzen.
Weihnachtsmärkte, eigentlich nur eine Tradition aus dem deutschsprachigen
Raum, die an spätmittelalterliches Marktgeschehen anknüpft, verbreiteten
sich in den letzten Jahrzehnten rasant und wurden Besuchermagnete wie auch
Exportschlager. Selbst Fiktionen haben Erfolg.
Boltanski und Esquerre berichten von der erfundenen Tradition der
Messerschmiede des französischen Dorfs Laguiole im Aubrac, wo vor
Besucherströmen ein preisgekröntes Handwerk praktiziert wird – das sich in
den 80ern einige Gemeinderäte ausdachten, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Manche Orte haben sich inzwischen sogar zu Hotspots eines Overtourismus
entwickelt: die Lage am Wasser, die Gipfel rundherum, das Kopfsteinpflaster
– das österreichische [10][Hallstatt] wurde in China nachgebaut. Nun
strömen Massen zum Original: „Wir halten das nicht mehr aus“, beklagt der
Bürgermeister in einem Interview im Spiegel. „Die vielen Touristen, die
ohnehin inzwischen zu uns kommen, sind eine enorme Belastung für die
Bevölkerung. Seit 2010 hat sich die Zahl der Übernachtungen in Hallstatt
von ca. 70.000 auf über 140.000 verdoppelt.“ Andererseits frohlockt der
Bürgermeister: „Wir produzieren wieder Überschüsse und stehen finanziell
gut da.“ Oder die historische Buchhandlung in Porto. Sie gehört inzwischen
laut FAZ zu den schönsten Reisezielen Portugals, „eine Kathedrale der
Literatur“. In der Hochsaison kommen bis zu 5.000 Besucher täglich. Und das
Außergewöhnlichste daran ist, dass alle auch noch Eintritt für diese
Buchhandlung zahlen.
Entscheidend für die Inwertsetzung dieser touristischen Sehnsuchtsorte ist
vor allem „das Narrativ.“ Eine Erzählung oder eine Legende, die authentisch
wirkt, die dem Alten eine Geschichte gibt und einen Sinn verleiht, der es
attraktiv macht. Kein Relaunch ohne die richtige Story. Eine historische,
wunderschöne Buchhandlung ist wie ein Pfeiler abendländischer
Geistestraditon, Hallstatt ist romantische Dorfidylle pur, eingebettet in
eine Märchenlandschaft.
## Der Jakobsweg
Auch der sanfttouristische Pilgerweg nach Santiago de Compostela hat diese
Erzählung. Nicht nur die historischen Legenden um Jakob den Maurentöter,
den auch Franco verehrte, sondern die Geschichte der europäischen Pilger,
der Christenheit, den Mythos der Besinnung, Erweckung, für den Stars wie
Shirley McLaine und der brasilianische Autor Paolo Coelho oder hierzulande
der Fernsehstar Hape Kerkeling als verlässliche Zeugen einstehen. Ihre
Berichte haben den Jakobsweg über alle Maßen populär gemacht.
Der Camino kommt neuen Konsum- und Sinnstiftungsbedürfnissen entgegen. Der
Suche nach Authentizität, Identität, dem Besonderen, den Bedürfnissen einer
individualisierten, anspruchsvollen, reichen, kosmopolitisch orientierten
Mittelschicht. Die auch ökologisch einwandfreie Weine und das rustikale
Bauernbrot als sinnliche Argumente für nachhaltige Projekte schätzt.
[11][„Retroland“], so der Titel eines Buchs von Valentin Groebner über
Tourismus, werde mehr denn je zum besseren Ausland. Geschichte war schon
immer ein Reservoir für mitreißende Geschichten und private Erlebnisse.
Heute biete sie neue Formen von Identifikation und emotional aufgeladenen
Inszenierungen. Lifestyle meets Bedürftigkeit – vielleicht ist das eine
Erfolgsformel des Camino. Überzeugte Katholiken, Kosmopoliten, Esoteriker
und Sinnsucher*innen, Frauen, die sich hier beim Wandern sicher fühlen,
Glaubenszweifler unterschiedlicher Konfessionen, Wanderer, Sportive,
Neugierige, junge Menschen, die Orientierung suchen, Unglückliche, die
Verluste verarbeiten müssen, Senioren, die den Übergang in den Ruhestand
bewältigen wollen. Für alle gilt das Motto: Der Weg ist das Ziel.
Diese Bedürfnisse nach Authentizität, nach Sinnhaftigkeit, nach
Eigenwilligkeit haben laut Boltanski und Esquerre viel mit den progressiven
Impulsen der 68er zu tun. Der neue Kapitalismus greife auf die
Selbstverwirklichungsdiskurse der 68er zurück, auf deren Vorstellung von
einer autonomen und souveränen Lebensform, von Nonkonformismus und
Kreativität. Er habe die emanzipatorischen Forderungen von einst quasi
„endogenisiert“.
Hatte das Bewahren von Traditionen früher auch eine antikapitalistische
Komponente, hatte die Secondhandökonomie den Touch von Nachhaltigkeit, so
ist das Alte heute ein wichtiger Faktor der kapitalistischen
Wertschöpfungskette. Es ist die Ausdehnung der Warenförmigkeit auf Güter,
die für kaum kapitalisierbar gehalten wurden, die noch vor Kurzem als
unverkäulich, alt, out und unzumutbar galten.
## Eine Pointe der postindustriellen Gesellschaft
Einer der Rezensenten von Boltanskis und Esquerres Buch „Bereicherung“
bemerkt erstaunt in der FAZ: „Das ist eine der Pointen der
postindustriellen Gesellschaft, die dieses Buch herausarbeitet, die
Industrialisierung hatte die Manufakturen abgelöst, in der
Bereicherungsökonomie, die auf das Sammeln unkopierbarer Objekte und
Erfahrungen baut, lösen die Manufakturen wieder die Fabriken ab, und
Landwirte werden per Subvention zu Landschaftsgestaltern.“
Keine Frage: Die touristische Welt wird dank Denkmalpflege, Natur- und
Umweltschutz schöner, bunter und weiter. Der Siegeszug der Ökonomie
schafft weltweit viele neue Inszenierungen, an denen wir uns berauschen
können. Hier öffnen sich neue und größere Spielräume für sanften Tourismu…
Nachhaltigkeit scheint möglich, sie wird zu einem wichtigen
Verkaufsargument.
Aber keine Vermarktung ohne Risiko: Ging es zu Beginn der Umweltbewegung um
Gegenstrategien zur Vermarktung von Landschaft, also um Verzicht angesichts
der Grenzen des Wachstums, so zwingt die moderne Vermarktung zu
Entscheidungen. Wenn Naturschutzgebiete zu Verkaufsargumenten im Tourismus
werden, dann muss das schützenswerte Objekt auch attraktiv sein und den
Lifestylebedürfnissen der Touristen entgegenkommen.
Hier ist nicht die Vielfalt der Natur gemeint, sondern vor allem das
Verkaufsargument, wie etwa die berühmten Big Five (Elefant, Nashorn,
Büffel, Löwe, Leopard) in den Nationalparks in Südafrika. Trotz seiner
weltoffenen Bildersprache betreibt der marktorientierte Schutz nicht immer
den Erhalt der Vielfalt, sondern eher das Gegenteil. Er kann auch
bestehende Vielfalt auf die Eindimensionalität der Verwertbarkeit
einschränken.
Oder als Modell scheitern, wenn sich immer mehr sanfttouristische Projekte
im internationalen Wettbewerb behaupten müssen. Nicht jedes Narrativ ist
gut, und nicht jedes gute Narrativ hat Erfolg. Das Grüne Band durch Europa
erzählt die Geschichte des Eisernen Vorhangs und wie sich im „ Schutz des
Todesstreifens“ Naturräume erhalten und Biotope entfalten konnten. Und kaum
einer geht hin. Ein Misserfolg? Für den Naturschutz ein voller Erfolg!
29 Feb 2020
## LINKS
[1] /Der-Weg-ist-das-Ziel/!5166273
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturweg_des_Europarats
[3] https://www.clubofrome.de/
[4] https://www.italienwandern.de/piemont-grande-traversata-delle-alpi.html
[5] /Rad-Reisefuehrer-Eiserner-Vorhang/!5592398
[6] https://www.bund.net/gruenes-band/
[7] https://www.duh.de/home/
[8] https://www.suhrkamp.de/buecher/bereicherung-luc_boltanski_29904.html
[9] https://philomag.de/die-ausschlachtung-des-alten-macht-reiche-noch-reicher/
[10] https://www.spiegel.de/reise/europa/hallstatt-in-oesterreich-und-frozen-ii…
[11] https://www.fischerverlage.de/buch/valentin_groebner_retroland/97831049069…
## AUTOREN
Christel Burghoff
Edith Kresta
## TAGS
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