| # taz.de -- Kultpoet Hölderlin: Die gebrochene Lichtgestalt | |
| > Zwischen Poesie und den „best Falafel in Town“: Der Hölderlinpfad ist | |
| > eine Hommage an den Dichter und seine Lebensabschnitte. | |
| Bild: Der Hölderlin-Turm in Tübingen am Neckar | |
| Zuerst ist Goethe dran. Wir stehen vor seinem Geburtshaus im Frankfurter | |
| Hirschgraben, denn hier beginnt der Hölderlinpfad nach Bad Homburg. Das | |
| Haus der Familie Gontard, in dem der Dichter Friedrich Hölderlin einst ein | |
| und aus ging, gibt es nicht mehr. Frankfurt am Main hat nur wenig echte | |
| Altstadt übrig. Immerhin starten wir in historischem Ambiente. Zügig | |
| passieren wir die „Hauptwache“, am „Eschenheimer Turm“ nehmen wir den | |
| „Oederweg“. Und sind kurz darauf am kleinen „Adlerflychtplatz“, wo uns … | |
| Traube Menschen anlockt. Man wartet auf die „Probably best Falafel in | |
| Town“. Und daran führt so schnell kein Weg vorbei. Hier sind wir auch an | |
| einem wichtigen Wegpunkt des Pfades, nämlich dem Sommersitz der Familie | |
| Gontard angekommen. Irgendwo an diesem Platz soll der „Adlerflychthof“ | |
| inmitten von Gärten und schöner Natur gestanden haben. | |
| Mit der ersten Rast kommt auch die erste Irritation auf. Kann man sich noch | |
| eine Vorstellung vom Jahr 1800 machen? Wir müssten uns alles Mögliche | |
| wegdenken. Als Erstes vielleicht von 750.000 Einwohnern auf die damaligen | |
| 40.000 runterrechnen. Seinerzeit war man hier längst außerhalb der | |
| Stadtmauern im Freien. Der Oederweg ist ein Weg der Öde. Bad Homburg ist | |
| noch 20 Kilometer weit weg. Und so einfach, wie Hölderlin, diesen Weg hin- | |
| und hergehen? | |
| Friedrich Hölderlin war einer Stelle wegen nach Frankfurt gekommen. Ende | |
| 1795 wurde er der Hauslehrer der Gontards. Es war seine zweite | |
| Hauslehrerstelle. Während der ersten hatte er die Gouvernante des Hauses | |
| geschwängert. Jetzt in Frankfurt traf er in der Hausherrin Susette Gontard | |
| auf die Liebe seines Lebens. Beide waren jung, beide Mitte zwanzig, sie | |
| aber bereits Mutter von vier Kindern. Eine unmögliche Liebe, die über zwei | |
| Jahre lang gutging, aber schließlich nicht mehr zu halten war. Hölderlin | |
| gab die Stelle auf und wich nach Bad Homburg aus, wo ein Studienfreund, | |
| Isaak Sinclair, lebte. Das Pendeln zwischen Bad Homburg und Frankfurt war | |
| seiner Liebe geschuldet. Er himmelte Susette Gontard an, sie war seine | |
| überirdische „Diotima“, dieses besondere „Wesen auf dieser Welt, woran m… | |
| Geist Jahrtausende verweilen kann und wird …“ Noch fast zwei weitere Jahre | |
| lang tauschten sie Liebesbriefe – im Garten der Sommerresidenz am heutigen | |
| Adlerflychtplatz. | |
| Ein exHölderlin, der Kultpoet, und Hölderlin, die gebrochene Lichtgestalt, | |
| der Arme, der die zweite Hälfte seines Lebens seelisch und geistig | |
| zerrüttet in einem Tübinger Turm verbrachte … eine schwierige Biografie. | |
| Auch seine Gedichte und Oden sind nicht einfach. Immer der hohe Ton. Immer | |
| schwärmerisch und schwelgend und ohne Kenntnis seiner Sehnsucht nach | |
| Arkadien und toten griechischen Göttern kaum zu begreifen. Aber auch immer | |
| wieder fasziniert er mit tollen Sprachbildern und ungewöhnlichen Wendungen | |
| und mit einer assoziativen und komplexen Denkweise. Man gerät in eine | |
| Zwischenwelt, der Rhythmus seiner Zeilen zieht unmerklich mit. Leicht kann | |
| man zum Fan werden, trotz der altertümlichen Sprache. Am 20. März 2020 | |
| würde er 250 Jahre alt. | |
| ## Exzessiver Geher | |
| Es ist keine schlechte Idee, diesen Dichter mit einem Wanderweg zu ehren. | |
| Denn Friedrich Hölderlin war ein exzessiver Geher. Man stellt ihn sich | |
| gern als scheu, schmächtig und vergeistigt vor, aber er soll recht groß und | |
| breitschultrig und robust gewesen sein. Und selbstbewusst. Er soll | |
| Wutausbrüche gehabt haben und von Kindheitstagen an eine leicht | |
| manisch-depressive Seite. Eigentlich sollte er Pfarrer werden, aber seine | |
| Ausbildung und sein Umgang prägten ihn auf eine anspruchsvolle | |
| gesellschaftliche Rolle. | |
| Die Jugend- und Studienfreunde im Tübinger Stift waren die späteren | |
| Star-Philosophen Hegel und Schelling, man bildete ein genialisches Trio, | |
| das – angetörnt von der Französischen Revolution – schon früh ein Progra… | |
| für ein philosophisch-poetisches Zukunftsdenken entwarf. Man wollte Kant | |
| weiterentwickeln, der Aufklärung ihre Strenge nehmen. Und Hölderlin war ein | |
| Frauentyp. Ein Fragment seines Briefromans „Hyperion“ war ihm nach | |
| Frankfurt vorausgeeilt. Friedrich Schiller hatte den Text drucken lassen. | |
| Susette Gontard, wusste also, wer in ihre Dienste trat. Sie war sehr | |
| angetan. | |
| Der Hölderlinpfad nutzt Frankfurts grüne Schneisen. Am oberen Oederweg | |
| biegen wir durch ein freistehendes, herrschaftliches Tor in eine autofreie | |
| Kastanienallee ab. Sie endet vor dem ehemaligen Wasserschlösschen der | |
| Familie Holzhausen. Was wird Hölderlin hier gesehen haben? Hatte er je | |
| Zugang zu diesem schönen Anwesen? Heute ist hier ein beliebter kleiner Park | |
| im Frankfurter Nordend inmitten einer sehr teuer gewordenen Wohngegend. | |
| Bald werden wir immer wieder an Park- und Sportanlagen und Kleingärten | |
| vorbeikommen. Eine andere Sicht: statt des üblichen Blicks auf die Stadt | |
| vom Auto oder der Bahn aus jetzt ein Blick von innen heraus auf das rasende | |
| Drumherum. Viermal werden wir eine Autobahn queren müssen. Es ist laut und | |
| damals gab es mehr Landschaft. Und Hölderlin brauchte Landschaft. Sie war | |
| die Projektionsfläche seiner Griechenlandleidenschaft, aber er ließ sich | |
| auch von ihr ansprechen, als führe sie ein persönliches und kulturelles | |
| Eigenleben. Seine Dichtung lebte vom Draußen. | |
| ## Goldene Zeitalter des Wanderns | |
| Erst im Nidda-Tal wird es für uns ländlicher. In der Nähe von | |
| Neubaugebieten treffen wir häufig auf Spaziergänger mit Hunden und auf | |
| Frauen mit Kinderwagen. Jenseits der A5 dann der spektakuläre Blick zurück | |
| auf die Frankfurter Skyline. Ein unwiderstehlicher Hingucker. Automatisch | |
| machen wir Halt. Den Frankfurter Dom, den Hölderlin von hier aus vielleicht | |
| noch sehen konnte, entdecken wir nicht. | |
| Wir gehen jetzt schneller, wollen vorankommen. Auch das Gehen war für | |
| Hölderlin existenziell. Einerseits gehörte Wandern zum Lifestyle seiner | |
| Zeit. Sensible Intellektuelle waren zu Fuß unterwegs. Rousseau hatte mit | |
| der Forderung „Zurück zur Natur“ einen Boom ausgelöst. Parallel zu den | |
| Befreiungsbewegungen vor und nach der Französischen Revolution kam eine | |
| politische Seite hinzu. Man wollte und musste raus. „Komm! ins Offene, | |
| Freund“… So Hölderlin. In ihrer großartigen Studie „Wanderlust“ spric… | |
| Rebecca Solnit von einem „Goldenen Zeitalter des Wanderns und Spazierens“. | |
| Nicht nur in Europa, auch in den USA. Andererseits gehören Gehen und Denken | |
| seit der Antike irgendwie zusammen. Und es macht Sinn. „Ich habe den | |
| Verdacht“, so Solnit, „ dass der Geist wie die Füße mit rund 5 Kilometern | |
| die Stunde arbeitet.“ Man synchronisiert sich, indem man geht. | |
| Und Hölderlin hatte eine Menge zu synchronisieren. Die persönlichen | |
| Spannungen ebenso wie das ambitionierte poetische Programm, das er sich | |
| abverlangte. Immerhin wollte er die Poesie als Lehrmeisterin der Menschheit | |
| etablieren. Vielen Gedichten merkt man an, dass er sie beim Gehen | |
| verfertigte. Das verrät der Rhythmus der Verse. Kein Wunder, wenn man | |
| dranbleibt. | |
| ## Man darf Hölderlin lieben | |
| Es gab diese spannende Auseinandersetzung, die von Frankfurt aus Theodor W. | |
| Adorno um Hölderlin führte. Und zwar als Angriff auf den Philosophen Martin | |
| Heidegger, der dreist den Dichter für sich reklamiert hatte – als | |
| poetischen Ausdruck seiner eigenen Seinsphilosophie. Heidegger verstand | |
| Hölderlin als die Verkörperung des Dichters und die Eigentlichkeit des | |
| Dichtens und bezeichnete seine Gedichte als das „dichtend Gedichtete“. | |
| Hölderlin habe das „Wesen der Dichtung“ neu „gestiftet“. Aber Heidegger | |
| ging es offenbar um mehr: um die Überwindung von Heimatlosigkeit durch | |
| Hölderlin, weil bei diesem das „Seyn“ selbst zur Sprache gelangt sei und | |
| uns für die erwartete und erhoffte große Wende im frühen 20. Jahrhundert | |
| öffnete. Eine Archaik, vor der es Adorno gruselte. Zumal sich Heidegger in | |
| seinen Gedicht-Interpretationen gern auf alles konzentrierte, was Hölderlin | |
| angeblich gedacht, aber nicht ausgesprochen hatte. Auf diese Weise war | |
| Hölderlin auch für Nazis anschlussfähig geworden. | |
| Für Adorno hatte Heidegger den Dichter Hölderlin schlicht umfrisiert. Sein | |
| Fazit: „Hölderlin verweigert sich der Propaganda für die restaurative | |
| ‚Pracht des Schlichten‘.“ Adorno betonte vielmehr Hölderlins „genuin | |
| kritische und utopische Beziehung zur Realität“. Auf diese Weise holte er | |
| ihn 1963 zurück in den Kanon der Guten. | |
| Man durfte Hölderlin wieder lieben. Und genau das passierte. Im linken | |
| Verlag Roter Stern (Stroemfeld) wurde eine neue Hölderlin-Gesamtausgabe | |
| angegangen. Unvergessen die „Bleierne Zeit“, die sich Margarete von Trotta | |
| als Filmtitel lieh. Oder auch die Verszeilen aus dem „Patmos“: „Wo aber | |
| Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“. | |
| Das schöne kleine Bad Homburg vor der Höhe: Es wurde bekannt durch den | |
| Homburg-Hut, Kleists „Friedrich von Homburg“, die Heilquellen, die | |
| Spielbank. Und wurde verewigt vom Schriftsteller Dostojewski, der sich am | |
| Roulettetisch ruinierte und darüber den Roman „Der Spieler“ schrieb. | |
| Zu Hölderlins Zeit gehörte der Ort zum Besitz der Landgrafen Hessen-Homburg | |
| und zählte höchstens 3.000 Einwohner – gegenüber knapp 56.000 heute. Wir | |
| sehen Bad Homburg von Ferne. Die grellen Lichter des vorgelagerten | |
| Gewerbegebietes holen es näher heran, als es wirklich ist. Die Tage sind | |
| kurz um diese Jahreszeit, Hölderlin soll die Strecke in drei Stunden | |
| gemacht haben, aber wir überqueren die letzten großen Ackerflächen vor der | |
| letzten Autobahn fast schon im Dunkeln. Über unseren Köpfe lärmen Krähen, | |
| sie fliegen zurück nach Frankfurt auf ihre Schlafbäume. | |
| Das repräsentative Haus des Freundes Sinclair ist heute ein Museum mit | |
| wechselnden Kunstausstellungen. Es liegt gegenüber dem Homburger Schloss. | |
| Eine sehr große Libanonzeder verdeckt fast den Schlosseingang. In Bad | |
| Homburg wollte Hölderlin eine Existenz als freier Literat beginnen. | |
| Fast zwei Jahre lang hielt er sein neues Leben und den Ort aus. Dann – nach | |
| einem Zwischenspiel als Hauslehrer in der Schweiz und vielen traumhaft | |
| schönen Gedichten über Landschaften und Heimkehr – brach er zu seiner ganz | |
| großen Wanderung nach Bordeaux an die französische Atlantikküste auf. Es | |
| war Anfang Dezember 1801, möglicherweise am selben Tag, an dem ein anderer | |
| berühmter Zeitgenosse, Johann Gottfried Seume, losging. | |
| ## Die Verwirrung | |
| Doch wo Seume, wie er sagte, einen „Spaziergang nach Syrakus“ machte, um | |
| sich „das Zwerchfell zu lüften“, wollte Hölderlin in Bordeaux eine weitere | |
| Hauslehrerstelle antreten. Und während Seumes Wanderung diesem den Stoff | |
| für eine berühmt gewordene Reiseerzählung lieferte, kam Hölderlin fast | |
| zeitgleich nach Hause zurück, aber völlig fertig und verwahrlost. Niemand | |
| weiß, warum er die Stellung so schnell wieder aufgab, noch weiß man, ob er | |
| schon in Bordeaux von Susette Gontards gesundheitlichen Problemen erfahren | |
| hatte und ob er sie noch hat sehen können, bevor sie verstarb – oder ob er | |
| von dieser Katastrophe erst zu Hause bei der Mutter in Nürtingen erfuhr. | |
| Die Frankfurter Geliebte starb im Juni 1802 an einer eigentlich harmlosen | |
| Kinderkrankheit, den Röteln. | |
| Bad Homburg war auch Hölderlins letzter Aufenthaltsort vor der Psychiatrie | |
| – und den dann folgenden 36 Jahren in der Obhut der Familie Zimmer in | |
| Tübingen. Isaak Sinclair war nochmals aktiv geworden und hatte den Freund | |
| in der Landgräflichen Bibliothek untergebracht. Aus der Wanderung nach | |
| Bordeaux machte Hölderlin eins der schönsten und vollkommensten Gedichte: | |
| „Andenken“. Ein Gedicht über die Erinnerung dieser Reise. Es schließt mit | |
| dem berühmten Satz:. „… Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ | |
| Leider geriet Sinclair 1805 wegen angeblich umstürzlerischer Umtriebe in | |
| Untersuchungshaft. Für den angeschlagenen Hölderlin war dies das Ende | |
| seiner poetischen Ambitionen. Nach der Psychiatrie in Tübingen ging er nur | |
| noch auf und ab, im Turm, im Garten, an dem kleinen Stück Ufer des Neckar, | |
| wo er sich frei bewegen durfte. Gelegentlich dichtete er noch, umso mehr | |
| verbrauchte er Schuhe. Die vielen Rechnungen für den Schuster gehörten zu | |
| Hölderlins Unterhaltskosten und wurden penibel mit seiner Mutter | |
| abgerechnet. | |
| Über sich selbst meinte Hölderlin, dass ihm „mehr von Göttern ward, als er | |
| verdauen konnte“. Sein neuester Biograf, Rüdiger Safranski, meint eher, | |
| dass wir heute zu wenig von diesen Göttern haben, um ihn noch zu verstehen. | |
| Das wäre allerdings schade. | |
| 18 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Christel Burghoff | |
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