# taz.de -- Schwanenhass hat Tradition in Berlin: Ach, die armen Schwäne | |
> Die preußischen Könige ließen die Wasservögel mit brachialen Methoden | |
> flugunfähig machen, um die Schwäne zur Standorttreue zu zwingen. | |
Bild: Hübsch mit Abstand: Menschen und Schwäne am Ufer des Urban-Hafens in Kr… | |
BERLIN taz | Erst war von Vögeln die Rede, die das Coronavirus übertragen, | |
dann eingeschränkt von Wasservögeln, dann von Fledermäusen und | |
[1][Schuppentieren]. Bereits Ende März 2020 wiederholt das Wissensmagazin | |
[2][scinexx.de] eine Meldung des Max-Planck-Instituts für Ornithologie aus | |
dem Jahre 2006: „Schwäne, Enten und Gänse sind in Zeiten der Vogelgrippe | |
für viele von niedlichen Wasservögeln zu gefiederten Angstobjekten | |
mutiert. | |
Aber müssen Stadtbewohner sich jetzt auch vor den allgegenwärtigen Tauben | |
in Acht nehmen? Nein, sagen dazu die Experten. Singvögel, Tauben und | |
Störche gelten derzeit als eher gefahrlos.“ | |
Der Biologe Cord Riechelmann hielt die ganze Aufregung über die 2006 an der | |
Vogelgrippe gestorbenen Schwäne für eine bloße Medienkampagne: „Jeder tote | |
Schwan auf einem Dorfweiher oder Parkteich war eine Weltnachricht, gesendet | |
und kommentiert zur Primetime und auf den ersten Seiten auch der seriösen | |
Zeitungen.“ | |
Ornithologen versuchten gegenzusteuern, indem sie versicherten: Das | |
Vogelgrippevirus H5N1 sei für Menschen nahezu ungefährlich und die | |
Sterberate bei den Schwänen nicht höher als in anderen Wintern auch. | |
## „Verdammtes Coronaschwein!“ | |
Am Urbanhafen sah ich vergangene Woche, wie einige Jugendliche nach einem | |
Schwan traten, einer rief „Verdammtes Coronaschwein!“ Die „Coronaschweine… | |
gibt es tatsächlich in Kreuzberg – als Schimpfwort für Leute, die hamstern, | |
die den Joint nicht weiterreichen und die überhaupt auf Distanz gehen. | |
Als ich das letzte Mal im Tierheim in Falkenberg war, nachdem Unbekannte | |
mehrere Schwäne getötet hatten, befand sich dort nur ein leicht verletzter | |
Schwan im Gehege. Früher lieferten Feuerwehr und aufmerksame Tierfreunde | |
zwischen 60 und 70 verletzte Schwäne jährlich ab. Es wurde ein Schwangehege | |
eingerichtet. Doch zum einen wurden es dann immer weniger Schwäne, und zum | |
anderen wurde beschlossen, dass alle hilflosen Wildtiere auf die | |
Wildtierstation des Nabu in Marzahn kommen. Vor allem im Frühjahr während | |
der Aufzucht kommt es vermehrt zu Einlieferungen. | |
Ende 2012 war es in Kreuzberg zu einer regelrechten Schwanenmordserie | |
gekommen. Die Presse sprach von „sadistisch veranlagten“ und „grausamen | |
Tierquälern“. Die Täter hatten es auf die Schwäne im Landwehrkanal | |
abgesehen. | |
Der Schwanenhass hat in Berlin Tradition. 1875 schrieb der tschechische | |
Schriftsteller Jan Neruda in seinem Reisebericht aus dem Berlin der | |
Gründerzeit: Der „Berliner Witz“ sei „kalt und langweilig geworden. Man | |
denkt dabei an die den Wasserspiegel der Spree zierenden traurigen Schwäne, | |
die allesamt gebrochene Flügel haben.“ Vielleicht waren die vielen | |
„rauflustigen“ und „betrunkenen“ Hooligans in der Stadt daran schuld, | |
vermutete Neruda. In Hamburg sah er jedenfalls auf der Binnenalster nur | |
gesunde „Rudel weißer Schwäne“. Dort befanden sie sich im Besitz der Stadt | |
und eines fest angestellten „Schwanenvaters“. | |
## Die Eier des Schwans gegessen | |
Hinter den von Neruda einst bemerkten „gebrochenen Flügeln“ der Schwäne | |
steckten jedoch nicht Monarchiehasser, sondern eine Anordnung von oben: | |
Die preußischen Könige hatten die Tiere auf den Seen in und um Berlin | |
angesiedelt, indem sie die Vögel „durch Abnehmen der Hand zeitlebens | |
flugunfähig“ machen ließen, dasselbe geschah mit ihren Jungen. | |
„Man rupfte die Tiere regelmäßig, fing sie im Winter ein und fütterte sie | |
an eisfreien Stellen“, wie der Ornithologe Oskar Heinroth in seinem Buch | |
„Aus dem Leben der Vögel“ (1955) schreibt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren | |
die Schwäne in und um Berlin nahezu verschwunden, man hatte sie und auch | |
ihre Eier „gestohlen“, um sie zu essen. | |
Die bürgerliche Republik wollte nach Krieg und Monarchie den | |
Schwanenbestand wieder auffüllen, 1922 beauftragte die Potsdamer | |
Stadtverwaltung Heinroth damit. Er stahl daraufhin eine Anzahl bebrüteter | |
Höckerschwan-Eier an einem See in Ostpreußen. Von den daraus geschlüpften | |
Schwänen ließ er nur noch der Hälfte „die Hand eines Flügels“ abnehmen,… | |
anderen Teil beließ er die „Flugkraft“. | |
Weil die Schwäne zusätzlich auch noch durch ein neues Gesetz ganzjährig | |
geschützt wurden, gelang Heinroth schließlich die „Neubesiedlung der | |
Potsdamer Gewässer“. Für ihn folgte daraus, dass alle zuständigen Stellen | |
bis hin zu den Gutsbesitzern „Ihre Schwanennachzucht frei fliegen“ lassen | |
und jeden streng bestrafen sollten, „der gegen das Schongebot verstößt“. | |
Auf diese Weise „träfe man bald auf allen Seen und größeren Teichen wieder | |
diese Zierde der Gewässer, die früher in Deutschland häufig war. | |
## Ein besonderes Seelentier | |
Wer Sinn für die Schönheit eines Tiers hat, könnte sich dann wieder an | |
Schwänen erfreuen, die zwei vollständige Flügel haben, also nicht so unnütz | |
und stark verstümmelt sind, wie man dies leider fast immer sehn muß. Auch | |
das herrliche Flugbild und der wunderbare Flugklang der dahinziehenden | |
Höckerschwäne würde wieder ein Bestandteil der Volksseele, wie es in alten | |
Zeiten war.“ So brachte also die Novemberrevolution wenigstens den | |
königlich-preußischen Schwänen die Freiheit (den Luftraum), wenn auch erst | |
in der zweiten Generation. | |
Man weiß nicht, wie lange die Schwäne schon „durch Abnehmen der Hand eines | |
Flügels“ zur Standorttreue gezwungen wurden. Zunächst vom Hochadel und dann | |
auch von den Stadtbürgern. Dies galt vor allem für die Höckerschwäne, die | |
als „Kulturnachfolger“ heute vor allem in städtischen Anlagen vorkommen. | |
Wobei die englischen Höckerschwäne als erste „wildlebend erloschen“. | |
Oskar Heinroth bezeichnete Enten, Gänse und Schwäne als „Gefühlstiere | |
stärksten Grades, mit sehr viel angeborenen Trieben und wenig Verstand“, | |
das heißt, sie kommen mit geringer „Einsicht“ aus. Immerhin aber doch mit | |
so viel, dass sie sich einst in den Schutz der höchsten Kreise begaben – | |
den die Bürger dann bei ihrer Machtergreifung übernahmen. | |
In einem Symbollexikon heißt es: „Der Schwan ist ein besonderes Seelentier | |
und hat mit seiner Grazie schon immer den Menschen inspiriert.“ Zwar wird | |
er von den Erniedrigten und Beleidigten auch als Symbol der Herrschaft | |
angegriffen, aber durch diese Stellung hat er selbst etwas Herrschaftliches | |
angenommen, zumindest haben Natur- und Kulturgeschichte es fertiggebracht, | |
dass er ein „Kunstvogel“ wurde, ohne gezähmt und gezüchtet worden zu sein. | |
## Gottfried Benn und der Schwan | |
In Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) gibt es einen | |
Stadtpark, den Gottfried Benn, der dort 1944 drei Monate lang stationiert | |
war, als durchaus „herkömmlich“ eingerichtet bezeichnete: „Doch ungeheuer | |
auffallend, das ‚Schwanenmotiv‘ […] das ist stilisiert! Widersinnig!, den | |
Schwanenkopf so hoch über den Wasserspiegel zu legen auf einen Hals wie | |
glasgeblasen! Keine Kausalität darin, reines Ausdrucksarrangement. Ebenso | |
die Weisen, in die Fluten hangend, Unstillbares, Schwermut, Bionegatives in | |
die Ackerbürgerstadt verlagernd, – unmittelbar, wie jeder nachfühlt, auf | |
Ausdruck gearbeitet.“ Die Schwäne sind Teil des künstlichen Interieurs. Sie | |
fügen sich darin ein. | |
„Es gibt Tiere, die gegen die Natur arbeiten“, so fasst der | |
Kulturwissenschaftler Peter Berz die Benn’sche Parkvogelwahrnehmung | |
zusammen, die damals von der Schrift des Psychiaters Wilhelm Lange-Eichbaum | |
über „Genie – Irrsinn und Ruhm“ beeinflusst war, Benn fand darin seinen | |
Begriff „Bionegatives“. | |
Indem sich der Höckerschwan zu einem Parkvogel entwickelte, betrieb er | |
gleichzeitig auch (bionegative?) Geburtenkontrolle dergestalt, dass er vom | |
Koloniebrüten zum Privatbesitz an Seen oder mindestens großen Seeflächen | |
überging, was einem aggressiven Familialismus gleichkam, den vor allem das | |
Bürgertum sofort als vorbildlich erkannte – obwohl von einer „lebenslangen | |
Ehe“ bei Schwänen nicht die Rede sein kann. | |
Die Autoren des „Handbuchs der Vögel Mitteleuropas“ (1990) haben die | |
Entwicklung des Besitzdenkens beim (männlichen) Schwan in Hektar | |
ausgedrückt: Je wilder die Höckerschwäne, desto größer ihre Brutterritorien | |
(bis zu 100 Hektar) und umgekehrt: je zahmer, desto kleiner das Revier – | |
auf der Hamburger Alster zum Beispiel umfassen die Reviere | |
durchschnittlich 4,5 Hektar. | |
## Verhalten noch zu wenig erforscht | |
Der Münchner Ökologe Josef Reichholf begreift die Aggressivität der | |
männlichen Tiere als Teil einer Fortpflanzungsstrategie. Dazu gehöre auch | |
der „Eindruck von Angeberei“, die „ökologisch richtig“ sei. Dabei gilt… | |
dem Nachwuchs ausreichend Nahrungsquellen zu sichern. Dadurch können nicht | |
alle Schwanenpaare brüten und kann „die Nachwuchsquote des | |
Schwanenbestands“ eine Region, eines Parks, nicht übermäßig belasten. | |
Reichholf vermutet, dass die Schwäne womöglich noch ganz andere | |
„Fortpflanzungsstrategien“ entwickelt haben, um ihre „Bestände“ | |
einigermaßen stabil zu halten. Ihr Verhalten werde aber leider noch zu | |
wenig erforscht, vor allem das der in den Städten lebenden Schwäne: „Man | |
hält die Parkgewässer und ihre Bewohner für zu wenig interessant.“ | |
Dabei kann man sogar vermuten, dass die Höckerschwäne ihre | |
Bestandsentwicklung auch in großem Maßstab regulieren, denn ihre Zahl habe | |
nach dem Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa stark zugenommen, wie Wikipedia | |
schreibt, „aber ein weiteres Anwachsen findet mittlerweile nicht mehr | |
statt, obwohl die zunehmende Winterfütterung den Verlust während des | |
Winterhalbjahres reduziert hat.“ | |
3 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Wahrheit/!5678531/ | |
[2] https://www.scinexx.de/ | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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