# taz.de -- Die Wahrheit: Intelligenzbestie Eichhorn | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 95): Zwischen | |
> grauen und roten Nagern tobt ein Wettbewerb um Klug- und Kühnheit. | |
Bild: Schlau wie das Eichhörnchen ist nur das Eichhörnchen | |
Die amerikanischen Grauhörnchen verdrängen die europäischen Rothörnchen, in | |
Großbritannien seien sie bereits selten geworden, heißt es. Die | |
„Grauhörnchen“ sind „robust und wanderfreudig“, auch aggressiver, nich… | |
gegen die Rothörnchen. | |
Die Rheinische Post berichtete: „Killer-Grauhörnchen versetzt Stadt in | |
Angst und Schrecken.“ Es habe die englische Stadt Knutsford terrorisiert. | |
Bereits sechs Menschen habe das kleine Tier angefallen. „Jeder hier hat | |
Angst“, zitierte die Times eine Bewohnerin. | |
Die Grauhörnchen zählen in England zu den „20 invasivsten Arten“. Prinz | |
Charles will auf seinen Landgütern alle abschießen lassen. Er ist | |
Schirmherr einer Vereinigung, die für das Überleben der roten Eichhörnchen | |
kämpft – dem Red Squirrel Survival Trust. Einige Tierschutzorganisationen | |
finden das rassistisch: „Alle Eichhörnchen wollen und sollen leben – egal, | |
ob grau, braun oder rot!“ | |
Noch um 1900 galten nicht die grauen, sondern die roten Eichhörnchen in | |
England als üble Plage und wurden ausgerottet, dann aber aus Skandinavien | |
wieder eingeführt, woran die Naturforscherin Esther Woolfson in ihren | |
„Field Notes From a Hidden City“ (2014) erinnert. In Aberdeen füttert sie | |
gelegentlich beide Eichhörnchen-Arten und kritisiert nebenbei das | |
militärische Vokabular der Organisationen, die alle tierischen und | |
pflanzlichen „Invasoren“ vernichten wollen. | |
## Arten aus den Kolonien | |
Zuvor hatten englische Imperialisten alle möglichen Lebewesen in ihren | |
Kolonien zusammensammeln lassen und in Großbritannien eingepflanzt und | |
angesiedelt. Die amerikanischen Grauhörnchen wurden dort 1889 eingeführt | |
und freigelassen. Sie tragen ein Pockenvirus in sich, gegen das sie immun | |
sind, nicht jedoch die Rothörnchen, die daran sterben können. Das | |
Pockenvirus der Grauhörnchen hat jetzt angeblich auch schon die ersten | |
Rothörnchen in und um Berlin befallen. Für Menschen ist es jedoch | |
ungefährlich. | |
Die US-Grauhörnchen klauen den kleineren Rothörnchen gelegentlich die | |
Wintervorräte, die roten Europäer sind aber auch nicht ohne: In Bottrop | |
verfolgte ein Rothörnchen eine junge Frau auf der Straße. Sie rief die | |
Polizei, diese nahm das Tier mit auf die Wache. Dort zeigte es erste | |
Erschöpfungserscheinungen, denen die Beamten mit Apfelstücken und Honigtee | |
entgegenwirkten. „Frisch gestärkt wurde es dann einer | |
Eichhörnchen-Auffangstation übergeben“, schreibt der Berliner Kurier, der | |
dazu den Biologen Bernhard Grube befragte: Es sei „kein Wunder, wenn | |
Wildtiere in der Stadt mal ausrasten. Das Zusammenleben von Wildtieren und | |
Menschen in der Stadt ist sehr eng. Zwischenfälle sind da absehbar“, meinte | |
er. | |
In Berlin-Mitte sprang ein Rothörnchen durch ein offenes Fenster auf einen | |
Tisch, wo weinbrandgefüllte Pralinen lagen. Davon aß es so viele, dass es | |
betrunken vom Tisch fiel. Die Wohnungsbesitzer trugen es in den Vorgarten, | |
dort erholte es sich langsam. | |
In einem Waldstück bei Köln wurden Schilder angebracht: „Vorsicht! Bissiges | |
Eichhörnchen“. Bei einer anderen Attacke kam die Boulevardzeitung tz ins | |
Grübeln: In Chicago zerstören die Grauhörnchen Mülleimer. Um an den Inhalt | |
zu gelangen, beißen sie sich durch die Plastikdeckel. „Dadurch entstand | |
bisher ein Sachschaden von umgerechnet rund 284.000 Euro“, hieß es im | |
Münchner Blatt. | |
Der Stadtrat Howard Brookins Junior ließ das Problem im Gemeinderat | |
diskutieren und forderte eine Lösung. „Doch dann folgte die Rache der | |
Eichhörnchen. Kurze Zeit später sprang eines vor sein Fahrrad. Der Stadtrat | |
stürzte und verletzte sich, lag mehrere Tage im Krankenhaus. Mister | |
Brookins glaubt nicht an einen Zufall: ‚Ich kann mir die Beweggründe des | |
Grauhörnchens nicht anders erklären, als dass es sich um einen | |
Selbstmordanschlag aus Rache gehandelt hat‘, erklärte er der Presse.“ | |
Verwaiste kleine graue und rote Eichhörnchen werden gern von Menschen | |
adoptiert. Sie äußern sich begeistert über diese zutraulichen und klugen | |
Tiere: Auf Youtube findet man dazu einige hundert Clips. | |
Die Eichhörnchenforscher scheinen dagegen in einem transatlantischen | |
Wettbewerb zu stehen: Wessen Hörnchen sind „fitter“? Ab 2006 lagen die | |
Rothörnchen intellektuell vorne – da meldeten ihre Erforscher: „Sie | |
bekommen mehr Nachwuchs, wenn sie in naher Zukunft ein größeres | |
Nahrungsangebot erwarten. Auf bisher noch ungeklärte Weise erkennen die | |
Nager, wann bestimmte Bäume viele Samen produzieren werden. Für gewöhnlich | |
passen Tiere ihr Fortpflanzungsverhalten erst im Nachhinein an ein | |
besonders günstiges Nahrungsangebot an. Rothörnchen können jedoch schon | |
vorab erkennen, wann genug für alle da sein wird. Sie praktizieren mithin | |
eine Form von Familienplanung.“ | |
## Futterdiebe täuschen | |
2017 wendete sich das Forschungsblatt: Da konnten Feldbiologen der | |
Wilkes-Universität in Philadelphia stolz berichten, sie hätten Grauhörnchen | |
dabei beobachtet, wie sie Löcher gruben und anschließend nur so taten, als | |
würden sie etwas hineinschieben. Die leeren Depots bedeckten sie sogar mit | |
Erde und Blättern, um mögliche Futterdiebe in die Irre zu führen. | |
2018 gelang einem Team um die englische Biologin Emma Sheehy jedoch ein | |
Coup, der die Rothörnchen wieder nach vorne brachte: Wo es viele Baummarder | |
gibt, sind Grauhörnchen selten. Sie können mit ihrem höheren Körpergewicht | |
nicht auf sonderlich dünne Äste flüchten und kennen diesen Fressfeind auch | |
noch nicht so lange wie die Rothörnchen, von denen es überraschenderweise | |
gerade dort besonders viele gibt, wo viele Baummarder leben. Die FAZ | |
berichtete über diese schottische Feldforschung unter der an Carl Schmitt | |
gemahnenden Überschrift „Der Feind meines Feindes ist mein bester Freund“. | |
2019 veröffentlichte der Ökologe Josef Reichholf ein schönes Buch über „D… | |
Leben der Eichhörnchen“, worin er nicht nur zu einigen überraschenden | |
Befunden über ihr „Dasein“ (Hegel) kommt; er vergleicht dies auch mit dem | |
von Grauhörnchen, Flughörnchen, Siebenschläfer, Biber und weiteren | |
sympathischen Nagetieren. Reichholf will den konkreten Eichhörnchen eine | |
Stimme geben – mit Artwissen und mehrjähriger Erfahrung mit einem | |
Individuum – in diesem Fall mit einem Siebenschläfer, der in seiner Familie | |
und fast ausschließlich in der Küche lebte. Er hatte einen Namen und durfte | |
fast alles. „Schmurksi“ wurde Reichholf zu einer „Offenbarung“. | |
Reichholf weiß nicht, ob der Siebenschläfer in Freiheit glücklicher | |
geworden wäre als in der Küche mit Familienanschluss. Er hält es des | |
ungeachtet für notwendig, dass man sich mit einem einzelnen Tier konkret | |
ins Benehmen setzt, bevor man sich für seinen Artenschutz engagiert: „Der | |
Artenschutz steht nicht über dem Tierschutz. Beide benötigen weit mehr die | |
Empathie der Menschen als Schutzgesetze und Verordnungen.“ Diese verbieten | |
die Aufzucht von Wildtieren und erlauben absurderweise nur Jäger und Angler | |
in deren Schutzzonen. Und das sei grundfalsch. | |
14 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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