# taz.de -- Stadtentwicklung in Berlin-Neukölln: In einem Dorf unserer Zeit | |
> Im Böhmischen Dorf in Neukölln werkeln Start-upper an Ideen, die man | |
> nicht anfassen kann. Wie verändern sie die Dorfgemeinschaft? | |
Bild: Coole Location für Co-Worker: Die Bürogelegenheiten von Unicorn im Böh… | |
Den habe ich selbst am Wohnzimmertisch gebastelt“, sagt Benjamin Nick. | |
„Meine Frau hat sich totgelacht, weil ich handwerklich nicht besonders | |
begabt bin.“ Nick deutet auf das größte Fenster, fast schon eine Art | |
Schaufenster im hochmodern sanierten Innenhof um ein ehemaliges Wohnhaus | |
und eine ehemalige Scheune herum. Mitten im Raum hinter der Glasfront hängt | |
ein riesiges, weißes Exemplar eines Herrnhuter Sterns, der Ursprung des | |
Weihnachtsterns sozusagen, eine Art Symbol für den Stern von Bethlehem. Vor | |
160 Jahren erfunden, streng und geometrisch, aber auch die Verkörperung von | |
Besinnlichkeit. Etwas besorgt, als könne er wieder herunterfallen, | |
versichert Nick: „Der Stern in der Brüdergemeine ist viel größer.“ | |
Fast scheint es, als wolle Benjamin Nick mit dem Vergleich der beiden | |
Sterne die Verhältnisse wieder ins Lot bringen. Denn Nick ist Sprecher des | |
Coworking-Anbieters Unicorn. Im Sommer 2019 wurde das Unicorn-Village in | |
der Richardstraße 85/86 im Böhmischen Dorf in Neukölln eröffnet. Seitdem | |
arbeiten um den schmucken Hof hinter den glänzenden Fassaden und in | |
geschmackvoll eingerichteten Büros meist junge Menschen aus Neukölln und | |
von anderswo, mit befristeten Mietverträgen und an Produkten, die man oft | |
nicht anfassen kann. | |
Das hat vieles verändert hier. Denn bislang wurde das Zusammenleben im Dorf | |
noch immer von den Nachfahren der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus | |
Böhmen geprägt. Im 18. Jahrhundert, vor fast 300 Jahren also, kamen sie aus | |
dem heutigen Tschechien zuerst nach Herrrnhut in der Oberlausitz und dann | |
auch nach Rixdorf in Neukölln. Bei den böhmischen Brüdern schreiben die | |
Gemeindemitglieder bis heute Lebensläufe auf. Damit der Pfarrer dann auf | |
den Beerdigungen daraus lesen kann, für alle anderen. Geändert hat sich | |
daran nur eine Kleinigkeit: Der Pfarrer hilft ihnen heute nicht mehr beim | |
Schreiben. | |
Der Herrnhuter Stern, den Nick am Wohnzimmertisch gebastelt hat, ist eine | |
Geste. Sie soll wohl sagen: Wir sind uns bewusst, dass wir hier die Neuen | |
sind, die hier weder Lebensläufe schreiben noch beerdigt werden. Wir sind | |
uns bewusst, dass wir aber dennoch auf geschichtsträchtigem Boden arbeiten. | |
Benjamin Nick würde es nur anders formulieren. Für ihn ist der Stern ein | |
Beispiel von „Storytelling“. | |
Anders geworden ist vieles auch für Brigitta Polinna. Sie lebt mit ihrer | |
Familie im Rücken des Unicorn Villages von Nick in der Kirchgasse. „Hübsch | |
finde ich es schon, was die draus gemacht haben“, sagt sie. „Dass die | |
Seitenflügel, wo mal Ställe drin waren, für Coworking genutzt werden, | |
dagegen habe ich gar nichts. 'Ne Scheune wird heute eben nicht mehr für Heu | |
und Stroh benutzt“, fügt sie so trocken wie realistisch an. Aber dann macht | |
die Frau, die ebenfalls schon an ihrem Lebenslauf geschrieben hat, eine | |
längere Pause. „Was ich bedaure ist, dass in den Vorderhäusern nicht | |
wenigstens eine Familie mit Kindern wohnt. Dass ein bisschen Leben da ist.“ | |
Benjamin Nick und Brigitta Polinna. Der Sprecher der Coworker, der in jeden | |
Satz mindestens einen Anglizismus schmuggelt, und die Nachfahrin der | |
böhmischen Einwanderer, die bis heute die Traditionen von Böhmisch-Rixdorf | |
pflegt. Geschichte und Bindung auf der einen, moderne Arbeitswelt und | |
Sharing auf der anderen Seite. In der Kirchgasse im Böhmischen Dorf prallen | |
beide Welten aufeinander. Und zwischen ihnen liegt lediglich eine fünf | |
Meter breite Kopfsteinpflastergasse. | |
Brigitta Polinna empfängt am Gartentor. Im Wintergarten, der einmal der Hof | |
war zwischen dem Vorderhaus an der Kirchgasse und der Scheune, hat sie den | |
Kaffeetisch gedeckt. „Das Anwesen wurde seit Generationen in der Familie | |
weitergegeben“, sagt Polinna, ganz Dame, mit Königin-Luise-Brosche am | |
Pullover. „Meine Urgroßmutter hat hier noch vor dem Krieg gewohnt und | |
Landwirtschaft betrieben. Als der Uropa starb, wohnte meine Großmutter | |
allein hier. Da hieß es, die könne das nicht allein bewirtschaften, also | |
ist noch Tante Lieschen mit ihrem Mann dazugekommen.“ | |
Wenn Polinna erzählt, wird alles Geschichte. Die Porträtaufnahmen und die | |
Fotos, die an der Wand des Wintergartens hängen, die Brüdergemeine nebenan, | |
dort, wo in der Adventszeit der große Stern hängt. „1751 wurde unser Haus | |
gebaut“, sagt sie stolz. „Wir sind jetzt hier in der elften Generation.“ | |
Mehr Tradition geht nicht, das Haus von Brigitta Polinna ist lebendige | |
Vergangenheit. | |
Polinna hat ihre Kindheit in der Kirchgasse verbracht, das war, als noch | |
die Tanten dort wohnten. „Es war eine schöne Kindheit, aber alles war auch | |
ärmlich. Die Toilette war auf dem Hof. Durch alle Fenster hat es gezogen, | |
es gab kein fließendes Wasser. Wo der Wintergarten ist, stand eine Pumpe.“ | |
Als die Tanten starben, zog Polinna mit ihrem Mann in die Kirchgasse, | |
seitdem trägt sie die Tradition weiter, auch wenn sie nicht mehr | |
Tschechisch spricht, wie es die böhmischen Einwanderer bis 1900 taten, | |
sondern berlinert. „Den Namen Polinna habe ich von meinem Mann“, erklärt | |
sie, „der kam aus Ostpreußen. Das Böhmische ist von meiner Familie | |
väterlicherseits.“ | |
Seit Polinna in die Kirchgasse gezogen ist, hat sie gesammelt, was mit den | |
Böhmen zusammenhängt. Vieles davon ist im Museum zu sehen, das im | |
ehemaligen Schulhaus von Böhmisch-Rixdorf untergebracht ist. Brigitta | |
Polinna hat es zusammen mit Gleichgesinnten aus der christlichen | |
Brüdergemeine 2005 gegründet. Gerne hätte sie Kunstgeschichte studiert. | |
Weil sie das Abitur nicht geschafft hat, hat sie eine Ausbildung in der | |
Damenschneiderei abgeschlossen, dann bei einer Kostümbildnerin fürs Theater | |
gearbeitet. Seit 1981 betreibt sie eine Puppenklinik in der Richardstraße. | |
## Neidisch auf die Böhmen | |
Gleich neben der Schule steht an der platzartigen Biegung der Kirchgasse | |
das Denkmal für den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. „Der Soldatenkönig | |
hat die Böhmen nach Rixdorf geholt“, erzählt Polinna. Ganz konfliktfrei | |
verlief die Ansiedlung der Glaubensflüchtlinge nicht, weiß sie: „Die | |
Deutsch-Rixdorfer waren damals sehr neidisch, weil die Böhmen vom König | |
etwas geschenkt bekommen haben und sie nicht. Aber beim ersten Brand 1849 | |
haben sie den Böhmen geholfen, sie haben sie untergebracht, bis deren | |
Häuser wieder repariert waren.“ | |
Von Deutsch-Rixdorf stehen heute nur noch die Häuser. In Böhmisch-Rixdorf | |
aber sind auch noch die Nachkommen der Menschen von damals da. „Von den 18 | |
Familien aus dem Jahre 1737 leben heute noch Nachfahren von sechs Familien | |
in den Gehöften“, sagt Polinna. „Es waren ursprünglich 18 Grundstücke, | |
jeweils zwei wurden mit Doppelhäusern bebaut. Der König war sehr sparsam. | |
Die Häuser wurden so gebaut, dass sie mit dem Giebel zur Straße stehen. So | |
hat er bei jeder Familie ein ganzes Dach gespart. Die Zimmer sind alle vier | |
Meter breit. Man ging vorne rein und ist durch die Zimmer nach hinten | |
durch. Vorne war zur Straße hin die gute Stube.“ | |
Als der Soldatenkönig starb, wandten sich die Kinder der Einwanderer an | |
dessen Sohn. „Bei Friedrich dem Großen mussten die Böhmen schriftlich | |
anfragen, ob ihre Kinder auf den Gärten noch mal ein kleines Haus bauen | |
dürfen“, weiß Polinna. „Und dann gab es eine Order, mit der das erlaubt | |
wurde.“ | |
## „Da geht es vor allem um Geld, Geld, Geld.“ | |
Bevor Polinna weitererzählt, gewährt sie einen kurzen Blick in ihren | |
idyllischen Garten, wo man sich auch mitten im Winter eher in einer | |
Reportage der Zeitschrift Landlust wähnt als mitten im schnellen | |
Szeneviertel Neukölln, diesem sozialen Labor, in dem irgendwie alles geht. | |
An der Pergola wächst Blauregen, im Blumenbeet stehen Hortensien. | |
Vom Gartentor überblickt Polinna die Kirchgasse. Von den beiden Gebäuden, | |
in denen Unicorn sein Coworking-Village betreibt, sieht sie nur die | |
sanierten Scheunentore. „Ursprünglich lebte da eine bäuerliche Familie“, | |
weiß sie über die Nachbargrundstücke. Später zog eine Autowerkstatt dort | |
ein, die beiden Grundstücke wurden zusammengefasst und auch zusammen | |
verkauft, sagt Polinna. | |
Den Preis, den Unicorn für die beiden Grundstücke zahlen musste, kennt | |
Polinna nicht. „Aber der Effekt ist jetzt der, dass viele Anwohner denken, | |
sie kriegen für ihr Haus eine Million oder mehr. Da ist mit einem Mal eine | |
gewisses Wunschdenken entstanden. Da geht es vor allem um Geld, Geld, | |
Geld.“ | |
Die Geschichte mit dem Verkauf, ist sie sich sicher, wird sich wiederholen. | |
„Viele Eigentümer, die jetzt drin wohnen, sind in meinem Alter. Die Kinder | |
haben studiert, und wenn sie außerhalb Berlins eine schicke Stelle gekriegt | |
haben, dann haben sie keine Ambitionen mehr, hierher zurückzukommen. Das | |
wäre dann das Ende des Dorfes.“ | |
Das Dorf von Benjamin Nick ist erst ein halbes Jahr alt. Im Unicorn-Village | |
geht der Blick deshalb nicht zurück, sondern nach vorne. „Das produzierende | |
Gewerbe nimmt in Berlin ab“, erklärt der Unicorn-Sprecher, „aber die | |
Servicelandschaft wächst. Deshalb sind Büros ein wichtiger | |
Wirtschaftsfaktor für die Stadt.“ | |
Die Zukunft der Bürolandschaft in Berlin kann Nick besser erklären als | |
einen Stern am Küchentisch basteln. Und er kann auch die Frage beantworten, | |
warum Coworking-Unternehmen wie Unicorn die richtige Antwort sind auf den | |
Wandel in der Arbeitswelt. „Im Moment macht der flexible Arbeitsraum in | |
Deutschland 3 bis 5 Prozent aus“, sagt Nick. „Es gibt Agenturen im Westteil | |
der Stadt, die seit 1960 zu fünft ein Büro von 600 Quadratmetern nutzen. Da | |
sitzen dann zwei Hanseln in riesigen Meetingräumen mit lederbezogenen | |
Konferenzsesseln. Wir dagegen schaffen es, an diesem Ort an die 280 Leute | |
unterzubringen. Das ist effektiver.“ | |
Unicorn, auf Deutsch Einhorn, verfügt in Berlin, Potsdam, München, Köln, | |
Hamburg und Lissabon über 21 Standorte mit Büros, von denen derzeit 16 | |
geöffnet sind. Nächstes Jahr wird das Unternehmen sein größtes Büro | |
eröffnen, knapp 6.000 Quadratmeter im Neubau auf der einst heiß umkämpften | |
Cuvry-Brache in Kreuzberg. | |
## Dünnes Eis der Gegenwart | |
Nick hat sich gut vorbereitet auf das Treffen mit der taz. Wörter wie | |
„Awareness“ und „Spaces“ purzeln ihm nur so aus dem Mund, aber auch die | |
anderen, die sympathischen wie „Nachhaltigkeit“ und „Einbeziehung“. Er | |
steht im Hof der beiden ehemaligen böhmischen Häuser, umgeben vom | |
elfenbeinweißem Anstrich der Fassaden und den mattroten | |
Biberschwanzziegeln, von topmodernen Gauben und riesigen Fensterflächen. | |
Stolz weist er auf den neu gepflasterten Hof – die Steine haben schon | |
einmal irgendwo in Neukölln gelegen –, zeigt die hölzernen Hochbeete, die | |
vom Comenius-Garten nebenan begrünt werden, dem Nachbarschaftspark auf der | |
gegenüberliegenden Seite der Richardstraße, der vom Förderkreis Böhmisches | |
Dorf getragen wird. Mit 2.000 Coworkern ist Nicks Firma eher eine von den | |
kleinen. Sein Unternehmen solle „gesund wachsen“, betont Nick. | |
So geschichtsträchtig der Boden ist, auf dem das Village gewachsen ist, so | |
dünn ist freilich das Eis der Gegenwart, das es trägt. Das ist Benjamin | |
Nick durchaus bewusst. „Wenn man von Nachbarschaften umgeben ist wie hier | |
in Neukölln, legt man viel Wert darauf, diese nicht zu überfahren“, betont | |
er, als sei es ihm wirklich ein Anliegen, das Böhmische Dorf nicht in ein | |
Potemkinsches Dorf zu verwandeln. Denn was echt ist und was nur Fassade, | |
das ist in diesem Aufeinanderprallen der Welten an der Kirchgasse noch | |
nicht entschieden. | |
## Kaffee vom Community Barista | |
Also berichtet Nick vom Weihnachtsmarkt mit Glühwein umsonst im Dezember | |
und vom Kaffee, den hier jeder kriegt, der sich durch die Tür traut. | |
Serviert wird er vom Community Barista, der wie an allen Standorten von | |
Unicorn für die Mieter Latte „bis zum Umfallen“ kocht. „Noch nie hat | |
Unicorn Wohnraum verdrängt“, betont Nick, „immer nur wurden Flächen | |
angemietet, die schon vorher gewerblich genutzt wurden.“ Die Büros im | |
Neubau auf der Cuvry-Brache seien die große Ausnahme. | |
„Unser Geschäftsmodell beruht darauf, jungen Start-ups die Möglichkeit zu | |
bieten, mit wenig Risiko Bürofläche zu mieten. Bei einem normalen | |
Gewerbemietvertrag müssen sie fünf Jahre mieten.“ Start-ups seien aber im | |
Schnitt nur eineinhalb Jahre durchfinanziert. Hinzu kommen die | |
Einrichtungskosten, Internet, Streichen, Möbel. „Das bekommen sie bei uns | |
dazu.“ Im Augenblick arbeiten im Unicorn Village Firmen mit 3 bis 35 | |
Mitarbeitern. Für einen Tisch zahlen sie ab 320 Euro im Monat aufwärts. | |
Alle, die im Sommer kamen, sind noch immer hier. „Ein Viertel der Mieter“, | |
sagt Nick stolz, „sind Neuköllner Firmen.“ | |
Jochen Biedermann ist Neu-Neuköllner. „Als ich 2001 in den Bezirk zog“, | |
sagt er, „wurde ich noch schief angeguckt. Das führte dann zu einer | |
Trotzreaktion. Ich hab angefangen, mich mit der Geschichte von Neukölln zu | |
beschäftigen.“ | |
Und zu der gehört auch die Geschichte von Böhmisch-Rixdorf. „Das Böhmische | |
Dorf ist für Neukölln total wichtig“, weiß Biedermann, und kommt auch ohne | |
Wörter wie Storytelling aus. „Man kann da ganz viel Neuköllner Geschichte | |
erzählen. Zum Beispiel, wie sich eine Parallelgesellschaft, die die Böhmen | |
waren, integriert hat.“ Ein böhmisches Dorf im Wortsinne, also eines, wo | |
man nicht recht weiß, was es eigentlich ist, ist es dennoch geblieben. | |
„Wenn man von der lauten, krawalligen Karl-Marx-Straße kommt“, lacht | |
Biedermann, „denkt man: Huch, wo bin ich denn hier gelandet?“ | |
## Das Historische könnte verloren gehen | |
Jochen Biedermann ist nicht nur Neuköllner. Der Grüne ist auch Stadtrat für | |
Stadtentwicklung, Soziales und Bürgerdienste. Als solcher war er mit dem | |
Umbau der Autowerkstatt in der Richardstraße 85/86 zum Unicorn Village | |
befasst. „Ich habe es nicht verhindern können“, sagt er offen. „Von der | |
Denkmalsituation her war das, was da stand, eine Nachkriegsgarage, die | |
nichts mit der historischen Situation zu tun hatte. Bei der Sanierung durch | |
Unicorn hat der Denkmalschutz dagegen eine ganze Reihe seiner Ziele | |
verwirklichen können.“ | |
Dass auch Neukölln für Coworking-Anbieter interessant geworden ist, erfährt | |
Biedermann tagtäglich. „Coworking und Mikroapartments sind die beiden | |
ersten Ideen, die Projektentwickler an mich herantragen“, verrät er. „Bei | |
Mikroapartments kann man noch steuern, bei Coworking ist es schwieriger. | |
Wir werden Coworking bei Sinn Leffers haben, im ehemaligen Umspannwerk in | |
der Richardstraße. Das ist das, was allen einfällt, bei jedem Gebäude | |
oberhalb des ersten OG.“ | |
Problematisch fände es Biedermann, wenn durch den Einzug der Moderne das | |
Historische verloren ginge. Doch genau dieses Schicksal droht dem | |
Böhmischen Dorf. „Ich fürchte, dass nun auch Böhmisch-Rixdorf in den | |
Strudel des Immobilienmarkts gezogen wird“, sagt Biedermann. „Mit | |
Sicherheit ist es so, dass der Verkauf an Unicorn diese Entwicklung | |
beschleunigen wird. Damit geht dann auch ein Stück Tradition und Identität | |
verloren.“ | |
Biedermann sagt aber auch: „Ich fürchte, das ist der Lauf der Dinge. Ich | |
wüsste nicht, wie man das aufhalten kann. Wenn die Kinder das nicht wollen | |
oder wenn sie durch die Lage auf dem Immobilienmarkt von dem Geld so sehr | |
gelockt werden, dann wüsste ich nicht, wie man jemanden zwingen könnte, das | |
nicht zu verkaufen.“ | |
Was aber bleibt, wenn keine Nachfahren der Böhmen mehr auf den | |
Kolonistengrundstücken leben? Wer und was erinnert dann noch an die | |
Geschichte von Böhmisch-Rixdorf? Das Museum im alten Schulgebäude? Das | |
Denkmal für den Soldatenkönig? Woran will man sich eigentlich noch | |
erinnern? | |
Die Trotzreaktion, die Jochen Biedermann an sich beobachtet hat, gehört | |
auch der Vergangenheit an, hat er festgestellt. „Inzwischen ist es hip und | |
cool, in Neukölln zu wohnen. Wenn ich in meiner Studienzeit auf Partys war | |
und gefragt wurde: Wo wohnst du so?, wurde ich kritisch gemustert. Hast du | |
keine Angst? Traust du dich nach Hause? Neulich habe ich ein ähnliches | |
Gespräch gehört, da war die Antwort: Boah, das kannst du dir leisten? Damit | |
nimmt meines Erachtens aber auch die Identifikation ein Stück weit ab.“ | |
Auch Brigitta Polinna klagt über das Verschwinden der Identifikation. Dem | |
neuen, unverbindlichen Neukölln steht sie skeptisch gegenüber: den | |
Hinterlassenschaften der Menschen, die sich in der Nacht in der stillen | |
Nachbarschaft treffen, dem vielen Geld, das alles kaputt machen könnte. | |
Gleichzeitig erinnert sie sich aber nicht nur an die heilen Seiten der | |
Welt, in der sie aufgewachsen ist, sondern auch an die Enge in der | |
Brüdergemeine, das bis 1900 geltende Tanzverbot etwa. Sie sieht auch die | |
Menschen, die jetzt ganz ohne solche Zwänge hier Wurzeln schlagen könnten. | |
Andere Wurzeln sind das. | |
Orte, die sich verändern, Menschen, die an neue Orte ziehen, neues | |
Arbeiten, das eher flüchtig ist als ortsgebunden: Dafür steht die eine | |
Seite der schmalen Kirchgasse. Steht die andere also für eine Welt, die nur | |
noch in der Vergangenheit zu leben scheint, die sich ihre Andersartigkeit | |
bewahrt hat, obwohl die Jungen bereit zu sein scheinen, diese Vergangenheit | |
für ein Leben anderswo einzutauschen? Oder gehört diese Welt gar nicht der | |
Vergangenheit an? Taugt sie vielleicht sogar als Labor für eine neue | |
Dörflichkeit in der Großstadt? | |
An einem grauen Winternachmittag steht Brigitta Polinna, inklusive | |
Königin-Luise-Brosche, am Tresen ihrer Puppenklinik, nur wenige Häuser | |
entfernt vom Unicorn Village. Auf dem Tresen steht ein großes Glas voll | |
zerborstener Puppenköpfe, im Regal an der Wand stapeln sich bunte | |
Plastikkörbe, voll mit kleinen Armen, Beinen und Köpfen aus Gummi, Stoff | |
oder Zelluloid. | |
Seit 1981 kuriert Polinna hier alle Arten von Leiden. Für eine gelernte | |
Schneiderin wie sie sei es „Furzkram“ gewesen, das zu lernen, erzählt sie | |
mit dem Charme einer Berliner Göre und hebt an zu einer Rede über die | |
Puppensammler, die sich anhört wie ein Abgesang. Immer weniger gebe es von | |
ihnen und dann seien auch noch die Preise für schöne, alte Puppen von | |
Käthe Kruse oder Schildkröt in den Keller gegangen. | |
Noch ist sie nicht ganz fertig mit diesem Trauergesang, da betritt ein | |
blasser 30-Jähriger mit groben, verkleckerten Arbeitskleidern aus Cord, | |
dunklen Rastas und britischem Akzent ihren Laden. Er wirkt, als sei er | |
gerade aus einem Atelier gefallen, und fragt prompt nach seinen „letzten | |
Puppen“, die er hier vor Kurzem in Reparatur gegeben hat. Polinna macht | |
sich auf die Suche, wird fündig, legt zwei Oberkörper und Köpfe auf den | |
Tisch. Es entspinnt sich ein ebenso langwieriger wie vorsichtig tastender | |
Dialog, das leise Murmeln der beiden wirkt fast konspirativ. | |
„In meiner 40-jährigen Praxis konnte noch jeder Fall gelöst werden“, | |
beschwichtigt sie den Kunden. „Können Sie warten?“, fragt sie ihn. „Wie | |
lange denn?“, will er wissen. „Ein, anderthalb Jahre sind hier gar nichts�… | |
erwidert sie bestimmt. „Was wird es denn kosten?“, fragt er unsicher. „Das | |
weiß ich noch nicht. „Vielleicht einen Zehner“, antwortet sie, woraufhin | |
der Mann schon zufriedener wirkt. Die beiden sind ein Dream-Team in Sachen | |
Wertschätzung für Altes. | |
So wie die Leute von gestern sehnen sich auch Leute von heute eben manchmal | |
danach, an Dingen festzuhalten. Und auch an Orten, selbst wenn sie dort | |
weder geboren noch aufgewachsen sind. Selbst wenn das dann wie bei Benjamin | |
Nick von Unicorn nur noch „Storytelling“ heißt. | |
## Nette Neuköllner Mitte 20 | |
„Ich glaube nicht, dass man den Fortschritt aufhalten kann, aber man kann | |
ihn mitgestalten“, sagt Nick, und führt zu einem von drei Start-ups, die | |
seit einigen Monaten umsonst im Village arbeiten dürfen, weil sie eine | |
Ausschreibung gewonnen haben. Es handelt sich um die Firma Youflake, die | |
Getreidequetschen verkauft: Müsli zum Selberflocken mit fancy Namen wie | |
„Nackte Tatsachen“ und „Buch ohne Weizen“, dazu werden Toppings angebot… | |
namens „Cherry Berry Chocolady“ oder „Solar Flower Power Protein Topping�… | |
Die Mitarbeiter sehen aus, wie nette Neuköllner Mitte 20 eben so aussehen. | |
Bevor sie im Village gelandet sind, haben sie von ihrem Wohnzimmer aus | |
gearbeitet, sagen sie. „Es würde mich ziemlich stressen, wenn ich jeden | |
Morgen zum Alex fahren müsste“, sagt der eine ganz einfach und klingt dabei | |
deutlich zurückgelehnter als sein Müsli. Übers Böhmische Dorf weiß er nicht | |
viel. „Es ist trotzdem sehr schön, hier zu leben und zu arbeiten“, sagt der | |
andere der beiden. | |
Vielleicht ist für ihn das Böhmische Dorf nur eine coole, aber | |
austauschbare Kulisse. Dass der Mann sich aber im Böhmischen Dorf auch zu | |
Hause fühlt: Vielleicht kann das auch ein Anfang für etwas anderes sein. | |
15 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Uwe Rada | |
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