| # taz.de -- Postkolonialismus zwischen Reihenhäusern: Gartenzwerg und Kolonial… | |
| > In der Idylle des Afrikanischen Viertel in Wedding verbirgt sich ein | |
| > Kulturkampf. | |
| Bild: Tragen gern Schwarz-Rot-Gold: Gartenzwerge | |
| Manchmal, wenn mir mein Berliner Alltag einen Takt zu schnell schlägt und | |
| ich keine Zeit für einen Ausflug an den Stadtrand habe, spaziere ich durch | |
| Eigenheimsiedlungen. Eigentlich sind mir Reihenhäuser total egal. Nur hin | |
| und wieder wirken die kleinbürgerlichen Kleinode mit ihren mit | |
| Gartenzwergen und Wasserspielen voll gestellten Vorgärten entspannend auf | |
| mich. | |
| Auch sind sie soziale Biotope: Will man etwas über die seelische | |
| Verfasstheit großer Teile der deutschen Gesellschaft oder neue | |
| Baumarkttrends erfahren, empfehle ich einen Spaziergang durch | |
| Eigenheimsiedlungen. Hinter den Buchsbaumhecken der Senegal- oder | |
| Tanga-Straße und in den dahinter liegenden Häuserzeilen des Afrikanischen | |
| Viertels lässt sich zudem ein lange vergessenes dunkles Kapitel deutscher | |
| Geschichte entdecken. | |
| Die ersten der hier nach afrikanischen Ländern benannten Straßen waren die | |
| Kameruner und die Togostraße. 1899 geschah das, gut 15 Jahre nach dem | |
| Geschacher der vor allem europäischen Großmächte um den afrikanischen | |
| Kontinent auf der Berliner Konferenz. Sowohl Kamerun als auch Togo waren | |
| damals deutsche Kolonien. | |
| Die Idee zu den Namen im Viertel hatte der Hamburger Zoodirektor Carl | |
| Hagenbeck, der in den Rehbergen nebenan Gehege mit wilden Tieren und | |
| exotischen Völkerschauen einrichten wollte, die glücklicherweise nie | |
| realisiert wurden. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchkreuzte diese | |
| Pläne. | |
| Was aber blieb, war die ungestillte Sehnsucht des Deutschen Kaiserreichs | |
| nach Kolonien, die sich unter anderen in der Benennung der Lüderitzstraße | |
| (1902) und des Nachtigalplatzes (1910) formulierte. Namenspaten waren zwei | |
| Betrüger, der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz und der Afrikaforscher Gustav | |
| Nachtigal, die im heutigen Namibia, in Togo und Teilen Ghanas Ländereien | |
| ergaunert und besetzt hatten und so den Besitzanspruch für die sogenannte | |
| deutsche Schutzherrschaft in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika | |
| anmeldeten. | |
| 1939 befeuerten die Nazis mit der Einweihung der Carl-Peters-Allee den | |
| kolonialen Machtanspruch erneut. Peters hatte im heutigen Tansania | |
| Häuptlinge zuerst mit Schnaps abgefüllt und dann bestochen, Verträge zu | |
| unterzeichnen, in denen sie den Verzicht auf ihre Territorien erklärten. | |
| Später ging der Reichskommissar so brutal gegen die Bevölkerung vor, dass | |
| er nach Berlin zurückbeordert und gefeuert wurde. | |
| Bis heute verfehlen die Straßennamen ihre Wirkung nicht. „Stell dir vor, | |
| eine Straße hier würde Adolf-Hitler-Straße heißen“, sagte einmal ein | |
| Freund, gebürtig aus Namibia, der sich seit Jahren für eine postkoloniale | |
| Erinnerungskultur, die rassistische Denkmuster freilegt, einsetzt. Die | |
| AktivistInnen fordern die Umbenennung der Straßen nach afrikanischen | |
| Widerstandskämpfern. | |
| Dagegen lehnen die meist alteingesessenen AnwohnerInnen im Afrikanischen | |
| Viertel, darunter Laubenpieper, Wirte, Ärzte und Friseure, die | |
| Straßenumbenennungen wegen steigender Kosten, bürokratischer Wege oder | |
| schlicht „aus Gewohnheit“ ab. Ins Spiel gebracht wird auch immer wieder das | |
| Narrativ, dass Geschichte nachträglich nicht verändert werden könne. | |
| Längst ist aus der Debatte über die Straßennamen ein Kulturkampf geworden. | |
| Verhandelt wird die Deutungshoheit über die deutsche Kolonialgeschichte. So | |
| wie auch im Bundestag. Unlängst forderte dort die AfD-Bundestagsfraktion | |
| die Bundesregierung auf, die Erinnerungskultur über die deutsche | |
| Kolonialgeschichte so zu gestalten, dass auch die „gewinnbringenden | |
| Errungenschaften dieser Zeit“ zum Tragen kämen. Was wie ein weiterer | |
| „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte klingt, macht deutlich: Berlin | |
| muss sich heute mehr denn je an sein grausames Kolonialzeit-Erbe erinnern. | |
| Gut, dass Kultursenator Klaus Lederer (Linke) kürzlich ein Projekt zur | |
| Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit an mehreren hundert Berliner | |
| Orten angekündigt hat. Hoffentlich auch hinter Buchsbaumhecken. | |
| 9 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Boek | |
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