| # taz.de -- Hürden im Alltag mit Corona: S wie Seife, S wie Solidarität | |
| > Alle Reisepläne futsch. Geburtstagsparty fällt aus … Aber könnte aus der | |
| > Corona-Krise nicht auch etwas Neues wachsen? Unser Autorin hofft darauf. | |
| Bild: In einem Berliner Großmarkt: Abstand halten hat derzeit sehr viel mit So… | |
| Meinen persönlichen Coronavirustiefpunkt hatte ich bereits Ende Februar. | |
| Soeben war in mir die Gewissheit gereift, dass die Sache mit Covid-19 wohl | |
| doch keine chinesische oder jetzt eben italienische Angelegenheit bliebe. | |
| Also machte ich mich auf den Weg in die kleine Apotheke an der Straßenecke, | |
| ging zur nächsten, danach zur übernächsten und schließlich zum | |
| Drogeriemarkt, um Desinfektionsmittel (raten Sie mal!) oder wenigstens | |
| Seife zu kaufen. | |
| Nach einigen Schlappen fand ich mich schließlich gemeinsam mit einer Mutter | |
| mit Kind vor einem der fast leeren Seifenregale wieder. Während wir Frauen | |
| – die letzten Seifenstücke fest im Blick – vor dem Regal auf und ab | |
| tigerten, überlegten wir wohl beide, ob tiefbraune, steinharte Kernseife | |
| wirklich gerechtfertigt war im Kampf gegen das Virus. | |
| Wahrscheinlich nicht, denn auch in den Gängen mit Oberflächenreinigern, | |
| Brillenputztüchern und Reisegrößen trafen die Mutter, das Kind und ich uns | |
| auf der Suche nach Waschlauge wieder. Die Hoffnung auf Seife – sie | |
| zerplatzte wie eine Blase im Neonlicht der Drogerie. So leer wie hier hatte | |
| ich – als Kind der DDR – nicht mal die Regale des örtlichen Konsums in | |
| Erinnerung, denn Geleebananen, Puffreis und Knusperflocken gab es | |
| eigentlich immer. | |
| Seit vergangener Woche nun durchkreuzt Corona fast täglich meine Pläne. | |
| Vier Wochen lang wollten mein Mann und ich demnächst bei Freunden in | |
| Australien schnorcheln, grillen, Roadtrips entlang der Sunshine Coast | |
| unternehmen und endlich mal so richtig den Kopf frei bekommen. Es sollte | |
| unser Coup des Jahres werden – schon im vergangenen Herbst hatten wir mit | |
| der Reiseplanung begonnen, hatte ich meinem Chef erklärt, dass ich trotz | |
| dünner Personaldecke unbedingt wochenlang verzichtbar sei. | |
| ## Und auch alle Inseln dicht | |
| Täglich hatten wir seit Ende Januar Coronavirus-Echtzeitkarten studiert, | |
| noch einmal die Route unseres Hinflugs von Thailand (hurra!) auf das zu | |
| diesem Zeitpunkt noch coronavirusfreie Bali (hurra, hurra!) geändert und | |
| uns schweren Herzens zuletzt doch für die Ost- statt die Südsee | |
| entschieden. Bis just vor ein paar Tagen die Ostsee- und die Nordseeinseln | |
| dichtmachten, inzwischen sind die Länder Mecklenburg-Vorpommern und | |
| Schleswig-Holstein für UrlauberInnen komplett gesperrt. | |
| Dass mein Mann Anfang der Woche seinen Geburtstag feierte, machte die Sache | |
| nicht tröstlicher. Geburtstagsblumen und Wohnzimmerparty fielen aus. Am | |
| Abend erstanden wir neben den letzten zwei Litern Vollmilch im Supermarkt | |
| gerade noch eine Pizza zum Mitnehmen bei unserem Lieblingsitaliener. Der | |
| Gastraum, in dem wir zur Feier des Tages essen wollten, blieb geschlossen. | |
| So weit, so scheiße. Und dennoch sind wir gesund und mit unseren | |
| Problemchen in diesen Tagen so viel besser dran als viele MitbürgerInnen. | |
| Denn jede/r ist betroffen, das Coronavirus nimmt keine Rücksicht auf | |
| niemanden und wird dabei zum Stresstest für die Gesellschaft. | |
| Doch längst hat die Krise auch viel Gutes hervorgebracht. In Norditalien | |
| etwa sammelten ItalienerInnen 300.000 Euro, um ein Krankenhaus in Parma zu | |
| unterstützen, in Südtirol unterrichten LehrerInnen ihre SchülerInnen aus | |
| Onlineklassenzimmern, und [1][im toskanischen Siena veranstalten | |
| NachbarInnen wunderbare Balkonkonzerte,] die durch die menschenleeren | |
| Gassen schallen. In Madrid applaudierten Tausende BürgerInnen minutenlang | |
| von ihren Balkonen, um sich bei ÄrztInnen, SanitäterInnen und | |
| KrankenpflegerInnen zu bedanken. Und auch die BerlinerInnen helfen | |
| einander. Auf handgeschriebenen Zetteln, die in Hauseingängen und an | |
| Laternenpfählen hängen, bieten derzeit viele junge Menschen Älteren Hilfe | |
| beim Einkaufen, Putzen oder Gassigehen mit dem Hund an. | |
| ## Könnte Corona auch eine Chance sein? | |
| Unter den Hashtags #SolidaritätGegenCorona und #Nachbarschaftshilfe | |
| organisieren FollowerInnen auf Twitter sogar [2][Gabenzäune, an denen Tüten | |
| mit Lebensmitteln für Obdachlose hängen] – nachdem auch die Berliner Tafeln | |
| schlossen. Kürzlich hat ein 15-jähriger Schüler [3][die digitale Plattform | |
| CoronaPort] ins Leben gerufen, über die hilfsbedürftige Menschen | |
| HelferInnen finden sollen und Desinfektionsmittel und Lebensmittelspenden | |
| verteilt werden. | |
| Galt im Kapitalismus bisher das Ideal des starken Einzelnen, des | |
| Konkurrenzdenkens, des Ellbogens und des Materialismus als weit verbreitet, | |
| scheint die Bereitschaft zur Solidarität, zur Hilfsbereitschaft und zum | |
| Zusammenhalt in der Gesellschaft gerade zu wachsen. | |
| Könnte Corona nun also die Chance sein, gesellschaftliche Spaltungen von | |
| Ost und West, von links und rechts, von Klimawandel-LeugnerInnen und | |
| KlimaaktivistInnen im Land zu überwinden? | |
| Eben brachte der Postbote ein Päckchen ins Haus, in dem auch ein Fläschchen | |
| Desinfektionsmittel von meinem Bruder lag, der in Schweden lebt. Lange Zeit | |
| hatten wir uns nichts zu sagen. | |
| 22 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/search?q=siena&src=typed_query | |
| [2] https://twitter.com/soli_gg_covid19/status/1240403024096497668/photo/1 | |
| [3] https://www.coronaport.net/hilfe | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Boek | |
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